Beteiligte
die Landesversicherungsanstalt Württemberg |
die Mitglieder der Geschäftsführung |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. Juli 1960 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe
Die Beklagte lehnt es ab, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren (Bescheid vom 12. Oktober 1957); sie meint, er sei „bei gutem Willen” in der Lage, leichte bis mittelschwere Arbeiten – möglichst im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen – dauernd und regelmäßig zu verrichten. Hieran hindere ihn lediglich seine psychogene Fehlhaltung, nicht aber sein Kräfte- und Gesundheitszustand. Unbedeutende Abnutzungserscheinungen der Wirbelsäure, eine geringfügige Magenschleimhautentzündung sowie die Verkrüppelung und Beugebehinderung von zwei Fingern der linken Hand stünden der Erwerbsfähigkeit nicht entgegen.
Der Kläger ist Ungarndeutscher. Bis zu seiner Einberufung zur SS 1944 bewirtschaftete er in seiner Heimat ein kleines landwirtschaftliches Anwesen. Nach dem Kriege verbrachte er mehrere Jahre hindurch in Gefangenschaft und in Flüchtlingslagern. Danach wechselten Zeiten längerer Tatenlosigkeit mit Arbeitszeiten und längerer Krankheitsperioden ab, bis der Kläger schließlich jede Erwerbsarbeit aufgab.
Die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des Klägers ist – nach dem Gutachten des Psychiaters Dr. … (…) – durch eine seelisch bedingte Fehlhaltung beeinträchtigt: Er zeigte Antriebsmangel und allgemeine Uninteressiertheit. Nach den durchlebten Umweltveränderungen habe er sich nicht mehr in den Arbeitsprozeß eingliedern können und bei allmählich zunehmenden – mit dem körperlichen Befund nicht übereinstimmenden – Beschwerden immer mehr versagt. Die regelwidrige Einstellung zur Arbeit sei hochgradig fixiert. Der Kläger vermöge aus dieser festgefahrenen seelischen Situationen nicht mehr herauszukommen. Es könne allerdings nicht gesagt werden, daß eine konfliktbedingte Fehlentwicklung der Persönlichkeit erst sekundär den Willen zur Arbeit in Mitleidenschaft gezogen habe. Die überstandenen Belastungen seien nicht über ein normales Flüchtlingsschicksal hinausgegangen. Man dürfe deshalb mangelnden Arbeitswillen und Rentenbegehren als Ursachen der Persönlichkeitsentwicklung unterstellen. Simulation sei aber auszuschließen. Der Sachverständige beschließt sein Gutachten mit einer Alternative; stelle man es auf den Ursprung der gegenwärtigen Störungen ab, also darauf, daß der Kläger anfänglich an Arbeitsbereitschaft habe fehlen lassen, dann sei ihm die Rente zu versagen, komme es dagegen darauf an, daß der Kläger aus eigener Kraft und auch mit ärztlicher Hilfe seinen Zustand jetzt nicht mehr zu überwinden vermöge, dann müsse er mit seinem Anspruch durchdringen.
Die Klage hatte im ersten und zweiten Rechtszuge keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts – SG – Reutlingen vom 17. Dezember 1958; Urteil des Landessozialgerichts –LSG– Baden-Württemberg vom 19. Juli 1960). Das LSG knüpft an das Gutachten des Sachverständigen Dr. … an und leitet daraus die Folgerung her, daß der Kläger seiner falschen Einstellung zur Erwerbsarbeit unheilbar verfallen sei. Gleichwohl sieht es darin aber nicht den Begriff der Krankheit im Sinne des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verwirklicht.
Der Kläger hat gegen das Urteil des LSG die – zugelassene – Revision eingelegt. Die Revision beanstandet, daß der Berufungsrichter das Gutachten des Sachverständigen Dr. … nicht auf seine Stichhaltigkeit hin geprüft habe. Dieser Sachverständige unterstelle als Ausgangslage der psychischen Erkrankung eine Rententendenz. Den Nachweis dafür sei er indessen schuldig geblieben. – Das angefochtene Urteil leide zudem unter einer irrigen Rechtsanwendung. Der Rechtsbegriff der Krankheit werde zu Unrecht dem gleichlautenden medizinischen Begriff gleichgesetzt und damit Überlegungen der Therapeutik und Generalprävention untergeordnet.
Der Kläger beantragt,
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist statthaft sowie frist- und formgerecht eingelegt. Entgegen den von der Beklagten vorgetragenen Bedenken genügt der in der Rechtsmittelfrist angebrachte Antrag dem in § 164 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) aufgestellten Erfordernis der Bestimmtheit. In der Revisionsschrift ist zum Ausdruck gebracht, daß das Rechtsmittel der Revision eingelegt werde; das angefochtene Urteil ist gehörig bezeichnet, und es ist unmißverständlich erklärt, daß das Berufungsurteil in vollem Umfange zur Nachprüfung gestellt werde (vgl. BSG 1, 98).
Die Revision ist auch begründet.
Das Berufungsgericht ist der Meinung, daß der Kläger für berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO zu erachten sei, ihm der Anspruch auf Versichertenrente also zustehe, wenn man die Grundsätze anwende, welche das Bundessozialgericht (BSG) zur Frage der Rentenberechtigung von Neurotikern entwickelt hat (BSG SozR RVO § 1254 aF Bl. Aa 8 Nr. 11 = NJW 1959, 1605; BSG SozR RVO § 1254 aF Bl. Aa 14 Nr. 15). Danach seien neurotische Beschwerden zwar nicht stets und ohne weiteres als Krankheit im Sinne der genannten Gesetzesbestimmung aufzufassen. Dieses Tatbestandserfordernis sei aber erfüllt, wenn ein Versicherter „objektiv unfähig” sei, „aus eigener Kraft seine jeder Arbeitsleistung entgegenstehenden seelisch bedingten Hemmungen zu überwinden”. Das sei nach den Darlegungen des Facharztes Dr. … der Fall.
Der Berufungsrichter konnte sich aber nicht dazu verstehen, die Beklagte zur Rentenleistung zu verurteilen. Er wendet sich gegen die Auffassung des BSG und möchte dem Entstehungsgrund und der Erscheinungsform der Neurose für die rechtliche Beurteilung ausschlaggebendes Gewicht beigelegt wissen. Dazu erwägt er: Hemmungen des Arbeitswillens, die im Charakter eines Menschen wurzelten, oder bloß die Vorstellung, krank zu sein, und der dadurch hervorgerufene Antriebsmangel verwirklichten nicht das Tatbestandsmerkmal der Krankheit, auch dann nicht, wenn die Vorstellung für den Betreffenden unüberwindlich geworden sein. Anders sei erst zu urteilen, wenn die psychischen Erscheinungen organische Veränderungen entsprechenden Ausmaßes oder eine „Kernneurose” mit Umstrukturierung der Persönlichkeit im Gefolge gehabt hätten. Verlege man dagegen die Tatbestandsgrenze auf ein früheres Stadium der Krankheitsentwicklung und berücksichtige die stark verminderte oder aufgehobene Freiheit des Willens zur Arbeit, dann gelange man zu medizinisch, rechtlich und sozialpolitisch untragbaren Ergebnissen. Letzte heilungsfähige Krankheitsreste würden „hysterisiert”, die Sozialversicherung werde zu einem Objekt der Ausbeute nicht nur von Ängstlichen und Lebensschwachen, sondern auch von Arbeitsscheuen. Die Reaktion des Betroffenen auf Einflüsse der Umwelt möchten psychologisch noch so verständlich sein, immer entspringe die Vorstellung, krank zu sein, dem Bemühen, die Voraussetzungen für eine Rente zu verwirklichen. Es sei gleichgültig, ob Faulheit oder – wie im Falle des Klägers – das verständliche Unvermögen, sich in eine neue soziale Wirklichkeit einzufügen, am Anfang der Neuroseentwicklung stünden. Entwicklungen in dieser Richtung müsse im Interesse des Einzelnen und des Ganzen Halt geboten werden, wenn nicht aus Rechtswohltat Plage werden solle. - Die Rechtsprechung des BSG böte kein wirksames Mittel gegen die Ausnutzung der Sozialversicherung; ein "Rentenjäger" brauche nur genügend Ausdauer in der Demonstration seiner Fehlhaltung zu zeigen, um den angestrebten Erfolg zu erreichen.
Diesen Überlegungen ist die Revision mit Recht entgegengetreten.
Die Wirkungen neurotischer Störungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigekeit eines Menschen dürfen nicht danach beurteilt werden, dass sie leicht zu Täuschungen mißbraucht werden können. Die "Simulationsnähe" neurotischer Zustandsbilder ist gewiß Grund genug, um höchste Sorgfalt bei der Ermittlung des Sachverhalts und Sicherheit des Beweises zu verlangen. Dass ein gesundheitlicher Schaden oder eine in Wahrheit nicht bestehende Unfähigkeitnur vorgespielt werden, schließt aber begrifflich den Fall aus, in dem das abartige Verhalten der gewollten Einwirkung des Betreffenden entglitten ist. Besitzt der einzelne infolge von Krankheitsvorstellungen nicht mehr die Kraft, den Willen zur Erwerbsarbeit aufzubringen, dann ist darin - rechtlich- eine Krankheit zu erblicken. Denn als solche wird es in der Rechtsprechung zur Sozialversicherung seit Jahrzehnten angesehen, wenn die Fähigkeit zur Verrichtung von Erwerbsarbeit durch eine vom Normalen abweichende seelische Verfasswung gemindert oder aufgehoben ist (vgl. daszu BSG SozR § 1254 RVO aF Bl. Aa 8 Nr. 11). Von dieser Auffassung auszugehen, besteht kein Anlaß.
Damit läuft die Rechtsprechung nicht - wie mit anderen Kretschmer (Deutsche Medizinische Wochenschrift 1957 S. 133) meint - dem Willen des Gesetzes zuwider. Die Argumente, welche die Gegner dieser Rechtsprechung ins Feld führen, berühren so unmittelbar die sozialpolitischen Grundlagen des Gesetzes, dass der Gestzgeber an ihnen nicht hätte stillschweigend vorbeigehen können, wenn er sich diese Überlegungen zu eigen gemacht hätte. Seit langem wird die Meinung vertreten, daß der Zweck der Sozialversicherung durch die derzeitige Rechtsanwendung in sein Gegenteil verkehrt werde: Der Notfall, dessen nachteilige Folgen die Sozialversicherung abwenden solle, werde „künstlich gezüchtet”. Dieser Besorgnis hätte der Gesetzgeber – wenn er ihr hätte nachgeben wollen – z. B. bei Gelegenheit der Rentenrechtsreform des Jahres 1957 durch eine Definition des Begriffs Krankheit begegnen können. Es wäre auch denkbar gewesen, einer derartigen Erwägung im Zusammenhang mit der Neufassung des § 1277 RVO Rechnung zu tragen. Es hätte durchaus nicht ferngelegen, den Fall der „Rentenneurose” dieser Vorschrift unterzuordnen. Aber dazu hat man sich auch schon früher nicht veranlaßt gesehen, obgleich dies keineswegs fernlag, zumal die dem § 1277 RVO entsprechende ältere Gesetzesbestimmung lautete (§ 1261 Abs. 1 RVO aF), daß keinen Anspruch auf Rente habe, wer sich „vorsätzlich” invalide mache. In dem nunmehr geltenden § 1277 RVO ist das Wort „vorsätzlich” durch „absichtlich” ersetzt. Die verschärften Gesetzesvoraussetzungen stehen freilich einer Berücksichtigung der Neurose in diesem Zusammenhang mehr noch als bisher entgegen. Das Gesetz sagt mithin ausdrücklich nichts über die rechtliche Behandlung der Neurose. Aus dem Schweigen darf aber gefolgert werden, daß die bisherige Rechtsprechung nicht mißbilligt wird.
Das Tatbestandsmerkmal der Krankheit ist nur dann verwirklicht, wenn ernste und echte Versagungszustände sichtbar geworden sind. Dies ist aber eine Tatfrage. Trotz der Schwierigkeiten bei der Gewinnung einer einwandfreien Diagnose können die Gerichte und die Sachverständigen nicht von der Aufgabe entbunden werden, die für und gegen eine regelwidrige Störung des Arbeitswillens sprechenden Umstände genau und erschöpfend zu erforschen. Der von Kretschmer erhobene Einwand, daß es „bei der meist diffusen, subjektiv vorgetragenen und nicht im gewöhnlichen Sinn objektivierbaren Symptomatik der Neurosen eine präzise diagnostische Abgrenzung gegen das Gebiet der bewußten Aggravation – gar nicht geben” könne, verdient sicher bei der Tatsachenfeststellung Beachtung. Daß der Nachweis einer unüberwindlichen Hemmung des Willens zur Arbeit schwierig oder gar in gewissem Sinne unmöglich ist und daß es menschlicher Einsicht nicht gelingen kann, trotz Benutzung aller zugänglichen Erkenntnisquellen rechtserhebliche innere Tatsachen zu ermitteln, ist jedoch ein Problem, das sich hier nicht anders stellt als anderswo. Davon bleibt selbst die Beweislastverteilung unangetastet.
Von Ärzten wird gegen die herrschende Rechtsprechung noch geltend gemacht, der Neurotiker werde in seiner Vorstellung, unheilbar krank zu sein, durch eine Verurteilung des Versicherungsträgers, Rente zu gewähren, bestätigt; danach werde er mehr noch als zuvor dem helfenden Bemühen der Ärzte entzogen (z. B. V.v.Weizsäcker, Soziale Krankheit und soziale Gesundung, 1995 S. 44, 64). Um diese Befürchtung zu entkräften, wenn auch nicht völlig auszuräumen, ist auf die Vorschriften über die Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit hinzuweisen (§§ 1236 bis 1244 RVO). Sie sind der gegebene Weg, um der Neurose in der Praxis zu begegnen. Nach der Absicht des Gesetzgebers haben diese Maßnahmen Vorrang vor der Leistung von Renten und sollen nach Möglichkeit – jedenfalls zunächst – an deren Stelle treten. Der Versicherungsträger soll dem einzelnen nur in dem Maß und in der Weise helfend zur Seite stehen, als dieser der Hilfe bedarf, um die Fähigkeit verantwortlicher Selbstbestimmung zurückzugewinnen. Hierfür werden die bekannten Mittel zu nutzen und neue Wege zu erkunden und zu entwickeln sein.
Aus den angeführten Erwägungen war die Klageabweisung nicht mit der Begründung des Berufungsgerichts zu halten. Für den Abschluß des Revisionsverfahrens ist es deshalb erheblich, ob die von dem Berufungsgericht zum Tatbestand der Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs. 2 RVO) getroffenen tatsächlichen Feststellungen eine endgültige Entscheidung durch das BSG rechtfertigen. Das Berufungsgericht hat mehr Feststellungen getroffen, als es von seinem Standpunkt aus zu treffen brauchte. Das nimmt ihnen nicht ihre sachliche Bedeutung. Gleichwohl ist es nicht auszuschließen, daß die Würdigung des Berufungsgerichts durch das Ergebnis seines Urteils beeinflußt ist. In Beachtung der Rechtsansicht des BSG wird bei der Beweiswürdigung ein strenger Maßstab anzulegen sein, weil der Verdacht der Täuschung ausgeschlossen werden muß. Hinzu kommt, daß bislang nicht gesagt worden ist, wie die seelische Beschaffenheit des Klägers, wenn er in bezug auf eine Erwerbsarbeit als willensunfrei oder stark willensgehemmt anzusehen ist, beurteilt wird. Die voraussichtliche Dauer der Krankheit, die Aussichten und Mittel für eine Heilung oder Besserung und die Wege für eine Wiedereingliederung des Klägers in das Arbeitsleben werden zu erwägen sein. Gerade in Fällen der vorliegenden Art darf an die Zubilligung einer Dauerrente erst gedacht werden, wenn alle anderen durch das Gesetz gebotenen Leistungswege ausgeschöpft oder mit Sicherheit versperrt sind. Daher ist eine nochmalige tatrichterliche Erörterung und Prüfung geboten. Deshalb ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Pflicht zur Erstattung von Kosten muß in dem das Verfahren abschließenden Urteil ergehen. Sie ist dem LSG vorbehalten.
Fundstellen