Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Jahresrechnung. Rückstellungen aufgrund ungewisser Verpflichtungen oder für künftige Zeiträume. Buchung nur aufgrund einer besonders geregelten Rechtfertigung. Buchung für Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene Krankenkassen
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Krankenkasse darf Rückstellungen in der Jahresrechnung aufgrund ungewisser Verpflichtungen oder für einen nach dem Haushaltsjahr liegenden künftigen Zeitraum nur aufgrund einer besonders geregelten Rechtfertigung buchen.
2. Eine Betriebskrankenkasse darf Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene Krankenkassen nur buchen, wenn die Umlage bereits durch Umlagebescheid des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen angefordert wurde.
Normenkette
SGB IV § 77 Abs. 1 S. 1, Abs. 1a Sätze 1, 3 Nr. 4, Sätze 4-5, §§ 78, 89 Abs. 1 Sätze 1-2; SGB V § 171e Abs. 1 S. 2, § 172 Abs. 2-3, § 220 Abs. 1 Sätze 1-2, § 242 Abs. 1 Sätze 3-4, §§ 259, 260 Abs. 1 Nr. 1, § 261 Abs. 2-5; HGB § 252; SVRV § 11; SVRV 1999 § 11; SVRV § 12 Fassung: 2012-04-12; SVRV 1999 § 12 Fassung: 2012-04-12; SVRV § 18 Abs. 2; SVRV 1999 § 18 Abs. 2; SVRV § 37; SVRV 1999 § 37; SVHV § 29a Abs. 2 Nr. 2 Buchst. f Fassung: 2010-07-19, Buchst. g Fassung: 2010-07-19, Abs. 4; SRVwV § 25 Abs. 2 Nr. 1; SRVwV 1999 § 25 Abs. 2 Nr. 1; SRVwV § 38 Abs. 1; SRVwV 1999 § 38 Abs. 1; SRVwV Anl 1 Ziff. 12 Nr. 2; SRVwV 1999 Anl 1 Ziff. 12 Nr. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Januar 2019 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.
Der Streitwert für beide Instanzen wird auf 2 500 000 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die aufsichtsrechtliche Verpflichtung der Klägerin zur Ausbuchung von Schätzverpflichtungen.
Die klagende, bundesweit zuständige Betriebskrankenkasse (BKK) buchte ab 2011 Rückstellungen für ein selbst geschätztes Haftungsrisiko bei der Schließung anderer für Betriebsfremde geöffneter BKKn in ihren Jahresrechnungen unter Ziffer 1299 ("Übrige Verpflichtungen") nach dem Kontenrahmen für die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und für den Gesundheitsfonds (Anlage 1 zu § 25 Abs 2 Nr 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über das Rechnungswesen in der Sozialversicherung - SRVwV vom 15.7.1999, BAnz Nr 145a vom 6.8.1999, hier anzuwenden idF durch die Neunte Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über das Rechnungswesen in der Sozialversicherung vom 19.1.2015, BAnz AT 23.1.2015 B9, entsprechend der Neubekanntmachung vom 14.7.2016 mWv 1.1.2016, GMBl 2016, 898). Zur Bestimmung der Höhe der Rückstellungen setzte die Klägerin jeweils das veröffentliche Vermögen der einzelnen BKKn, soweit es unterhalb der gesetzlichen Mindestrücklage von 25 vH einer Monatsausgabe lag, mit einer quotenmäßigen Schließungswahrscheinlichkeit ins Verhältnis. Die beklagte Bundesrepublik - vertreten durch das Bundesversicherungsamt - beanstandete diese Buchung zunächst erfolglos (Mitteilung des Prüfdienstes vom 8.6.2016, Prüfbericht vom 27.10.2016, Schreiben der Beklagten vom 7.12.2016 sowie Besprechungen der Beteiligten am 18.7.2016 und 18.5.2017) und verpflichtete die Klägerin, die Rückstellungen in der Jahresrechnung für 2017 auszubuchen (Bescheid vom 25.9.2017). Das LSG hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen: Die Rechnungslegung einer gesetzlichen Krankenkasse (KK) erfolge grundsätzlich nach den sozialrechtlichen Vorgaben. Es fehle eine Rechtsgrundlage für eine kassenindividuelle Schätzverpflichtung. Der verbindliche Kontenrahmen sehe unter Ziffer 1298 vor, dass Buchungen für Haftungsumlagen nur nach entsprechenden Feststellungen des GKV-Spitzenverbandes vorzunehmen seien (Urteil vom 15.1.2019).
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 77 Abs 1a SGB IV iVm § 252 Handelsgesetzbuch (HGB) und § 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV. Die Buchung von Schätzverpflichtungen sei nach § 77 Abs 1a SGB IV zulässig. Die geforderte Ausbuchung von bereits seit 2011 unbeanstandet erfolgten Verpflichtungsbuchungen verstoße gegen das Realisationsprinzip. Die Beklagte habe ihr Ermessen überschritten.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Januar 2019 und den Bescheid der Beklagten vom 25. September 2017 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der klagenden BKK ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die Aufsichtsklage (§ 54 Abs 3 SGG) gegen die Aufsichtsanordnung der beklagten Bundesrepublik Deutschland ist zulässig, aber unbegründet. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die Beklagte rechtmäßig die Klägerin verpflichtete, die geschätzten Verpflichtungen wegen des Haftungsrisikos bei Schließung anderer KKn auszubuchen (Bescheid vom 25.9.2017).
1. Die Beklagte durfte als zuständige Aufsichtsbehörde (§ 90 Abs 1 Satz 1 SGB IV) die Klägerin - einen bundesunmittelbaren Versicherungsträger - gemäß § 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV verpflichten, eine bevorstehende Rechtsverletzung zu unterlassen. Denn die Beklagte wirkte in Einklang mit § 89 Abs 1 Satz 1 SGB IV zunächst im Vorfeld der Aufsichtsverfügung mit erfolglosen Hinweisen, Beratung und Aufforderungen zur Beendigung des für rechtswidrig erachteten Buchungsverhaltens bei früheren Jahresrechnungen beratend darauf hin, dass die Klägerin von der rechtlich unzulässigen Buchung von Schätzverpflichtungen Abstand nehme. Sie beachtete das gesetzlich vorgesehene, zeitlich und in seiner Intensität abgestufte Verfahren (vgl dazu BSG SozR 3-2400 § 89 Nr 4 S 12; BSG SozR 4-2400 § 89 Nr 2 RdNr 13 mwN). Nach Sinn und Zweck des § 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV, der ausdrücklich nur die Verpflichtung zur Behebung der Rechtsverletzung nennt, ist es folgerichtig, von demjenigen, der das Recht verletzt hat, auch zu verlangen, künftig entsprechende Rechtsverletzungen nicht mehr zu begehen (präventive Verpflichtung - vgl BSGE 102, 281 = SozR 4-2500 § 222 Nr 1, RdNr 12; BSGE 90, 162, 169 = SozR 3-2500 § 284 Nr 1 S 8; Schirmer/Kater/Schneider, Aufsicht in der Sozialversicherung, Stand Januar 2011, 350, S 3).
2. Die Beklagte erließ die angefochtene Anordnung unter Beachtung des aufsichtsrechtlichen Prüfmaßstabs (dazu a) wegen einer Rechtsverletzung (dazu b) ermessensfehlerfrei (dazu c).
a) Der Prüfungsmaßstab der Aufsichtsbehörde richtet sich nach den rechtlichen Vorgaben für das Verhalten des Versicherungsträgers, das Gegenstand der Maßnahme ist (vgl zB für den Abschluss eines Gruppenversicherungsvertrags zwischen einer KK und einem privaten Krankenversicherer, um Mitglieder und deren familienversicherte Angehörige bei Auslandsreisen gegen Krankheitskosten abzusichern BSGE 121, 179 = SozR 4-2500 § 194 Nr 1 und für den Bereich der Sach- und Vermögensverwaltung die aufsichtsrechtliche Pflicht, im Rahmen des Gesetzes und des sonstigen maßgeblichen Rechts iS von § 29 Abs 3 SGB IV "wirtschaftlich vertretbare" Entscheidungen hinzunehmen, BSGE 71, 108 , 110 = SozR 3-2400 § 69 Nr 1 S 4 mwN; BSG SozR 4-2400 § 80 Nr 1 RdNr 23; BSGE 102, 281 = SozR 4-2500 § 222 Nr 1, RdNr 16 mwN; zu den abweichenden Maßstäben bei Vermögensentscheidungen im Rahmen gesetzlich normierter Genehmigungsvorbehalte vgl zB BSG SozR 3-2400 § 41 Nr 1 S 3 mwN; BSG Urteil vom 16.11.2005 - B 2 U 14/04 R - juris RdNr 19; zum Bereich der "klassischen" Aufsicht nach § 87 Abs 1 SGB IV vgl zB BSGE 94, 221 RdNr 19 = SozR 4-2400 § 89 Nr 3 RdNr 20). Gegenstand der angefochtenen Maßnahme ist die Buchung einer Schätzverpflichtung wegen des Haftungsrisikos bei Schließung anderer BKKn in der Jahresrechnung 2017 der Klägerin.
b) Die Klägerin verletzte mit der Buchung selbst geschätzter künftiger Verpflichtungen wegen des Haftungsrisikos bei Schließung anderer BKKn in den Jahresrechnungen seit 2011 von zuletzt 69,05 Mio Euro (2015) und 65 Mio Euro (2016) als Rückstellung unter Ziffer 1299 des für die KKn maßgeblichen Kontenrahmens (Anlage 1 zu § 25 Allgemeine Verwaltungsvorschrift über das Rechnungswegen in der Sozialversicherung - SRVwV) das Gebot, Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene KKn nur zu buchen, wenn die Umlage bereits durch Umlagebescheid des Spitzenverbands Bund der KKn angefordert wurde.
Rechtsgrundlage der Jahresrechnung für KKn ist § 77 SGB IV (neugefasst durch Bekanntmachung vom 12.11.2009, BGBl I 3710, zuletzt geändert durch Art 2 Nr 2 Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Versorgungsstrukturgesetz - GKV-VStG - vom 22.12.2011, BGBl I 2983 mWv 1.1.2012). Die Versicherungsträger schließen für jedes Kalenderjahr zur Rechnungslegung die Rechnungsbücher ab und stellen auf der Grundlage der Rechnungslegung eine Jahresrechnung auf (§ 77 Abs 1 Satz 1 SGB IV). Die Jahresrechnung einer KK hat ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der KK zu vermitteln (§ 77 Abs 1a Satz 1 SGB IV). Das Gesetz bestimmt hierfür in Anlehnung an das Handelsrecht (vgl § 252 HGB) die Grundsätze, die bei der Bewertung der in der Jahresrechnung ausgewiesenen Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten zu beachten sind (§ 77 Abs 1a Satz 3 SGB IV). Ua sind Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten vorsichtig zu bewerten, namentlich sind alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen, selbst wenn diese erst zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung der Jahresrechnung bekannt geworden sind (Prinzip der Wertaufhellung); Gewinne sind nur zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind (Realisationsprinzip; vgl insgesamt § 77 Abs 1a Satz 3 Nr 4 SGB IV). Ausführungsbestimmungen über die Grundsätze nach Satz 3 können daneben in die Rechtsverordnung nach § 78 Satz 1 SGB IV aufgenommen werden, soweit dies erforderlich ist, um eine nach einheitlichen Kriterien und Strukturen gestaltete Jahresrechnung zu schaffen und um eine einheitliche Bewertung der von den KKn aufgestellten Unterlagen zu ihrer Finanzlage zu erhalten (§ 77 Abs 1a Satz 4 SGB IV). Die Jahresrechnung ist von einem Wirtschaftsprüfer oder einem vereidigten Buchprüfer zu prüfen und zu testieren (§ 77 Abs 1a Satz 5 SGB IV).
Die Bundesregierung (BReg) hat von der Ermächtigung Gebrauch gemacht, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats (BRat) für die Sozialversicherungsträger mit Ausnahme der Bundesagentur für Arbeit Grundsätze über die Aufstellung des Haushaltsplans, seine Ausführung, die Rechnungsprüfung und die Entlastung sowie die Zahlung, die Buchführung und die Rechnungslegung zu regeln. Die Regelung ist nach den Grundsätzen des für den Bund und die Länder geltenden Haushaltsrechts vorzunehmen; sie hat die Besonderheiten der Sozialversicherung und der einzelnen Versicherungszweige zu berücksichtigen (§ 78 SGB IV idF durch Art 2 Nr 1b Gesetz zur Änderung krankenversicherungsrechtlicher und anderer Vorschriften vom 24.7.2010, BGBl I 983 mWv 30.7.2010).
Nach § 18 Sozialversicherungs-Rechnungsverordnung (SVRV idF durch Art 13 Abs 19 Nr 2 des Gesetzes zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Versicherung - LSV-NOG - vom 12.4.2012, BGBl I 579 mWv 1.1.2013), der ua auch für KKn gilt (vgl § 1 Abs 1 Satz 1 SVRV), sind für jedes Geschäftsjahr die Bücher abzuschließen (§ 18 Abs 1 SVRV). In der Jahresrechnung (§§ 27 bis 30 SVHV - Verordnung über das Haushaltswesen in der Sozialversicherung vom 21.12.1977, BGBl I 3147, hiervon § 29a Abs 4 SVHV zuletzt geändert durch Art 13 Abs 18 LSV-NOG vom 12.4.2012, BGBl I 579 mWv 1.1.2013) ist nach der Gliederung des geltenden Kontenrahmens Rechnung zu legen (§ 18 Abs 2 SVRV). Die Träger der Krankenversicherung und ihre Verbände mit Ausnahme der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau haben ihrer Jahresrechnung einen Anhang nach § 29a SVHV beizufügen (§ 18 Abs 3 SVRV). § 29a SVHV gibt ebenfalls vor, dass die Krankenversicherungsträger und ihre Verbände als Teil der Jahresrechnung einen Anhang zu erstellen haben und welchen Inhalt dieser hat.
Um ua bei den KKn, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts - zT als mittelbare Landesverwaltung unter Landesaufsicht (vgl näher BSGE 118, 137 = SozR 4-2400 § 90 Nr 1) - eine einheitliche Verwaltungspraxis bei der Jahresrechnung zu sichern, hat die BReg mit Zustimmung des BRats von der verfassungsrechtlich ausdrücklich nur ihr eingeräumten Befugnis (vgl Art 84 Abs 2, Art 86 GG; BVerfGE 100, 249 = juris RdNr 47 ff) Gebrauch gemacht, die SRVwV zu erlassen. Danach ist in der Jahresrechnung (§ 18 Abs 2 SVRV) in der Gliederung des geltenden Kontenrahmens über die Ausgaben/Aufwendungen, Einnahmen/Erträge und über das Vermögen Rechnung zu legen (§ 38 Abs 1 SRVwV). Vor dem Abschluss des Zeit- und des Sachbuches sind die das Geschäftsjahr betreffenden Ausgaben/Aufwendungen und Einnahmen/Erträge, die Forderungen und Verpflichtungen und die Beträge der zeitlichen Rechnungsabgrenzung nach Maßgabe der Bestimmungen der Kontenrahmen zu buchen. Die erforderlichen Wertberichtigungen der Vermögensgegenstände sind nach Maßgabe des § 11 SVRV und des § 34 SRVwV in Verbindung mit den Bestimmungen der Kontenrahmen zu buchen (§ 37 SRVwV).
Ziffer 1298 der Bestimmungen der Kontenrahmen (Anlage 1 zu § 25 Abs 2 Nr 1 SRVwV) sieht im Rahmen der Gruppe "12 Kurzfristige Verpflichtungen" Buchungen für "Verpflichtungen aus finanziellen Hilfen" und "Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle" vor. Die SRVwV erläutert, dass die KK hier auch Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene KKn bucht, die der Spitzenverband Bund der KKn durch Umlagebescheid im Rahmen der Haftungsverbünde angefordert hat. Diese Vorgaben für die Buchung sind als abschließende Regelung für die Buchung von Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene KKn konzipiert. Ziffer 160 aus der Gruppe "16 Sonstige Passiva" des für die KKn maßgeblichen Kontenrahmens (Anlage 1 zu § 25 SRVwV) bestimmt, dass über die in § 171e SGB V und § 12 SVRV genannten Rückstellungen hinaus keine weitere Verpflichtung für KKn besteht, Rückstellungen zu bilden. Es ist dementsprechend ausgeschlossen, Schätzverpflichtungen aufgrund möglicher künftiger Haftungsfälle für geschlossene KKn unter Ziffer 1299 "Übrige Verpflichtungen" zu buchen.
Diese Vorgaben des für die KKn maßgeblichen Kontenrahmens (Anlage 1 zu § 25 SRVwV) stehen mit höherrangigem Recht in Einklang. Im Unterschied insbesondere zu kaufmännischen juristischen Personen, die nach den Vorgaben des Handelsrechts bilanzieren (vgl § 252 HGB), finanzieren sich KKn nicht durch Kredite (vgl zum Verbot § 220 Abs 1 Satz 2 SGB V und BSGE 102, 281 = SozR 4-2500 § 222 Nr 1) und im Schwerpunkt nicht durch die Ansammlung von Deckungskapital, sondern im Wesentlichen durch Umlagen nach dem allgemeinen Beitragssatz und ggf nach dem Zusatzbeitragssatz (vgl § 220 Abs 1 Satz 1 SGB V). Der Zusatzbeitragssatz ist so zu bemessen, dass die Einnahmen aus dem Zusatzbeitrag zusammen mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds und den sonstigen Einnahmen die im Haushaltsjahr voraussichtlich zu leistenden Ausgaben und die vorgeschriebene Höhe der Rücklage decken; dabei ist die Höhe der voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahmen aller KKn je Mitglied zugrunde zu legen (§ 242 Abs 1 Satz 3 SGB V). Die KK darf ihre Mittel lediglich als Betriebsmittel, für Rücklagen und als Verwaltungsvermögen verwenden (§ 259 SGB V). Der Zusatzbeitragssatz fungiert auf diese Weise als Indikator für die wirtschaftliche Situation der KK. Im Hinblick auf die Umlagefinanzierung sind von besonderer Bedeutung für die wirtschaftlichen Verhältnisse der KKn Verpflichtungen, die Bezug zu dem Geschäftsjahr haben, auf das sich die jeweilige Rechnungslegung bezieht.
Das Gesetz sieht in Einklang mit den Grundsätzen der Umlagefinanzierung als Finanzpuffer für das laufende Jahr grundsätzlich nicht Rückstellungen, sondern Rücklagen vor (vgl § 261 SGB V, hier anzuwenden idF durch Art 1 Nr 31 Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz - GKV-FQWG - vom 21.7.2014, BGBl I 1133 mWv 1.1.2015; zur optionalen Bildung einer Gesamtrücklage vgl § 262 SGB V). Danach bestimmt die Satzung die Höhe der Rücklage in einem Vomhundertsatz des nach dem Haushaltsplan durchschnittlich auf den Monat entfallenden Betrages der Ausgaben für die in § 260 Abs 1 Nr 1 SGB V genannten Zwecke (Rücklagesoll). Die Rücklage muss mindestens ein Viertel und darf höchstens das Einfache des Betrages der auf den Monat entfallenden Ausgaben nach Satz 1 betragen (vgl § 261 Abs 2 SGB V). Die KK kann Mittel aus der Rücklage den Betriebsmitteln zuführen, wenn Einnahme- und Ausgabeschwankungen innerhalb eines Haushaltsjahres nicht durch die Betriebsmittel ausgeglichen werden können. In diesem Fall soll die Rücklage in Anspruch genommen werden, wenn dadurch Erhöhungen des Zusatzbeitragssatzes nach § 242 SGB V während des Haushaltsjahres vermieden werden (vgl § 261 Abs 3 SGB V). Ergibt sich bei der Aufstellung des Haushaltsplans, dass die Rücklage geringer ist als das Rücklagesoll, ist bis zur Erreichung des Rücklagesolls die Auffüllung der Rücklage im Regelfall mit einem Betrag in Höhe von mindestens einem Viertel des Rücklagesolls im Haushaltsplan vorzusehen (vgl § 261 Abs 4 SGB V). Übersteigt die Rücklage das Rücklagesoll, ist der übersteigende Betrag den Betriebsmitteln zuzuführen (vgl § 261 Abs 5 SGB V).
Rückstellungen aufgrund ungewisser Verpflichtungen oder für einen nach dem Haushaltsjahr liegenden künftigen Zeitraum bedürfen nach dem Regelungssystem einer besonders geregelten Rechtfertigung. Dementsprechend sehen die für die Rechnungslegung der KKn geltenden gesetzlichen und untergesetzlichen Rechtsnormen eine Verpflichtung zu Rückstellungen ausdrücklich nur für Altersvorsorgeverpflichtungen und auf Grund von Altersteilzeit- und Wertguthabenvereinbarungen vor (vgl § 171e Abs 1 Satz 2 SGB V; § 12 SVRV idF durch Art 13 Abs 19 Nr 1 LSV-NOG vom 12.4.2012, BGBl I 579 mWv 1.1.2013; § 29a Abs 2 Nr 2 Buchst f und g SVHV idF durch Art 1 Nr 1 der Vierten Verordnung zur Änderung der Verordnung über das Haushaltswesen in der Sozialversicherung vom 19.7.2010, BGBl I 968).
Dass die KK Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene KKn erst bucht, wenn der Spitzenverband Bund der KKn durch Umlagebescheid im Rahmen der Haftungsverbünde Zahlungen angefordert hat, trägt auch dem gesetzlichen Regelungssystem für die Eintrittswahrscheinlichkeit von Haftungsfällen wegen Kassenschließung Rechnung. Der Gesetzgeber hat das Risiko einer Kassenschließung durch eine Reihe flankierender Maßnahmen erheblich reduziert. Hierzu zählt vorrangig das in § 172 Abs 2 SGB V geregelte Frühwarnsystem, das dem Landesverband, dem Spitzenverband Bund der KKn sowie der Aufsichtsbehörde eine frühzeitige Beratung und ein rechtzeitiges Eingreifen ermöglichen soll. Hierher gehören aber auch freiwillige finanzielle Hilfen (§ 265b, § 265a SGB V) und die Möglichkeiten einer freiwilligen, ggf durch Hilfen unterstützten oder zwangsweise durchgeführten Fusion von KKn (§ 172 Abs 3 SGB V).
Die Aufsichtsanordnung ist auch nicht durch spätere Gesetzesänderungen rechtswidrig geworden (vgl zu den Grundsätzen BSG Urteil vom 30.7.2019 - B 1 A 2/18 R - juris RdNr 25 mwN, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die nach Erlass der angefochtenen Aufsichtsanordnung in Kraft getretenen Gesetzesänderungen haben die Anforderungen an die Bildung von Rückstellungen aufgrund von Schätzverpflichtungen keinesfalls abgemildert (vgl insbesondere § 242 Abs 1 Satz 4 und § 260 SGB V idF durch Art 1 Nr 7 und Nr 8 Gesetz zur Beitragsentlastung der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-VEG - vom 11.12.2018, BGBl I 2387 mWv 18.10.2018).
Die Klägerin kann sich hingegen nicht auf die Berechtigung zur Schätzung ungewisser, aber ausreichend bestimmbarer Verpflichtungen nach Ziffer 12 Nr 2 Anlage 1 zu § 25 SRVwV berufen. Diese bezieht sich - wie die Überschrift "Kurzfristige Verpflichtungen" zeigt - ausschließlich auf Verpflichtungen mit Bezug zum abgerechneten Geschäftsjahr. Die Klägerin kann sich für ihre Buchungspraxis schließlich nicht erfolgreich auf das Vorsichtsprinzip stützen. Die aufgezeigten sozialrechtlichen Grundsätze weichen grundlegend von den im Handelsrecht geltenden Anforderungen ab.
c) Die Beklagte übte das ihr eingeräumte Ermessen rechtmäßig aus, gegen die zutreffend festgestellte Rechtsverletzung einzuschreiten (§ 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV). Sie traf - formal hinreichend begründet (§ 35 Abs 1 SGB X) - eine Ermessensentscheidung, hielt dabei die gesetzlichen Grenzen des Ermessens ein und machte von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch (vgl § 54 Abs 2 Satz 2 SGG).
Die Beklagte beschränkte sich in der Sache darauf, der Klägerin aufzugeben, die bei früheren Jahresrechnungen festgestellte Rechtsverletzung in der Jahresrechnung für 2017 zu beheben. Die Beklagte durfte auch berücksichtigen, dass der Umfang der seit 2011 gebuchten Schätzverpflichtungen erheblich war. Die Beklagte war entgegen der Ansicht der Klägerin nicht verpflichtet, im Sinne eines milderen Mittels Kriterien für die Ermittlung solcher Schätzverpflichtungen aufzustellen. Sie ging zu Recht davon aus, dass die Buchung von Schätzverpflichtungen wegen des Haftungsrisikos im Zusammenhang mit der Schließung anderer KKn vor Erteilung eines Umlagebescheids generell rechtswidrig ist. Sie durfte entgegen der Ansicht der Klägerin auch anordnen, dass diese die rechtswidrige Buchung bei der nächsten Jahresrechnung korrigiert. Die Ausbuchung einer rechtswidrig gebuchten Schätzverpflichtung verstößt nicht gegen das Realisationsprinzip.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 1, § 161 Abs 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1 und 4 sowie § 47 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 GKG.
Fundstellen
Haufe-Index 13598047 |
BSGE 2020, 149 |
DStR 2019, 12 |
NVwZ 2019, 9 |
NZS 2019, 7 |
SGb 2020, 42 |
SGb 2020, 93 |
GesR 2020, 709 |
Breith. 2020, 544 |