Leitsatz (amtlich)
1. Auf Rückforderungen nach § 50 Abs 2 SGB 10 ist § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 entsprechend anzuwenden.
2. Hierbei entspricht der Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme eines Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen, die Kenntnis der Tatsachen, welche die Rückforderung der ohne Verwaltungsakt erbrachten Leistungen rechtfertigen; solche Tatsachen können frühestens mit den Leistungen (Zahlungen) entstehen, die zurückgefordert werden.
Leitsatz (redaktionell)
Rückforderungen nach § 50 Abs 2 SGB 10 stehen im Ermessen der Behörde (vgl BSG vom 18.8.1983 11 RZLw 1/82 = BSGE 55, 250 und vom 25.10.1984 11 RA 24/84 = SozR 1300 § 45 Nr 12).
Normenkette
SGB X § 50 Abs. 2, § 45 Abs. 4 S. 2, § 48
Verfahrensgang
SG Berlin (Entscheidung vom 17.12.1984; Aktenzeichen S 7 An 2989/82) |
Tatbestand
Im Streit steht eine Rückforderung von 13.946,30 DM.
Der Kläger bezieht seit November 1972 ein Altersruhegeld. Hierzu gewährte ihm die Beklagte für den Sohn Michael einen Kinderzuschuß. Am 28. August 1975 erließ sie wegen der am 30. September 1975 endenden Ausbildung des Sohnes einen Bescheid über den Wegfall dieser Leistung. Da der Zahlungsauftrag an die Bundespost über den ab Oktober 1975 geminderten Rentenzahlbetrag Fehler enthielt, wurde er nicht übermittelt. Das Fehlerprotokoll leitete die Prüfstelle der Sachbearbeitung mit der Bitte zu, den Zahlungsauftrag neu zu verfügen; dies unterblieb und das Protokoll wurde am 30. September 1975 "zur Rentenakte" verfügt. Die Beklagte zahlte ab Oktober 1975 bis Ende Februar 1982 das Altersruhegeld einschließlich Kinderzuschuß bzw Kindergeldausgleichsbetrag an den Kläger weiter. Erst anläßlich einer Aktenbearbeitung im Februar 1982 stellte sie den Fehler fest.
Mit Bescheid vom 10. März 1982 forderte die Beklagte den überzahlten Betrag von 13.946,30 DM vom Kläger zurück. Dessen Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 26. November 1982).
Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide mit Urteil vom 3. September 1984 aufgehoben. Der Rückforderungsbescheid beruhe auf § 50 Abs 2 iVm § 45 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10), da der Zahlung der kindbezogenen Leistungen ab Oktober 1975 kein Verwaltungsakt zugrunde gelegen habe. Danach sei die Beklagte zwar grundsätzlich zur Rückforderung für die Vergangenheit berechtigt, denn der Kläger habe die Rechtsgrundlosigkeit der Zahlung gekannt bzw aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht gekannt (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB 10); gleichwohl sei der Erstattungsbescheid rechtswidrig, weil er nicht innerhalb der Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 ergangen sei. Die Jahresfrist zur Rücknahme eines Verwaltungsaktes für die Vergangenheit werde von der Verweisung des § 50 Abs 2 Satz 2 auf § 45 SGB 10 erfaßt; sie besage, daß die Behörde die Erstattung innerhalb eines Jahres nach positiver Kenntnis von der Rechtsgrundlosigkeit geltend machen müsse. Hier habe der Sachbearbeiter aber schon Ende September 1975 durch das Fehlerprotokoll davon Kenntnis genommen, daß der Zahlbetrag mit der zustehenden Leistung nicht übereinstimmte. Gegen sein Urteil hat das SG die Berufung und - durch Beschluß - die Revision zugelassen.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 45 Abs 4, 50 Abs 2 SGB 10. Die Einjahresfrist in § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 gelte nur für die Rücknahme von Verwaltungsakten, bei Leistungen ohne Verwaltungsakt könne sie keine Anwendung finden. Im übrigen sei die Frist aber auch eingehalten, da sie (die Beklagte) eine positive Kenntnis von der fehlerhaften Zahlung erst im Februar 1982 erlangt habe.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist teilweise begründet.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 10. März 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 1982 (§ 54 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Die vom SG antragsgemäß vorgenommene Aufhebung dieses Bescheides (im Tenor falsch: Bescheid vom 9.2.1982) ist im Ergebnis zutreffend, allerdings nur deshalb, weil die Beklagte die bei der Rückforderung gebotene Ermessensentscheidung unterlassen hat.
Die Beklagte hat mit dem streitigen Bescheid 13.946,30 DM an kindbezogenen Leistungen zurückgefordert, die sie dem Kläger ab Oktober 1975 bis Februar 1982 zu dessen Altersruhegeld gezahlt hat, ohne rechtlich dazu verpflichtet zu sein. Denn die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Kinderzuschuß (später Kindergeldausgleichsbetrag) waren mit September 1975 entfallen. Aus diesem Grunde hat die Beklagte im August einen Bescheid über den Wegfall dieser Leistung erlassen, es aber versäumt, der auszahlenden Bundespost einen neuen Auftrag über die ab Oktober 1975 verminderte Rentenzahlung zu erteilen.
Bei diesem Sachverhalt kann Rechtsgrundlage für die Rückforderung des überzahlten Betrages nur § 50 Abs 2 SGB 10 sein. Gemäß seinem Satz 1 sind Leistungen zu erstatten, soweit sie - wie hier - ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind. Nach Satz 2 gelten aber ferner die §§ 45 und 47 - nach der Fassung durch das Gesetz vom 4. November 1982 (BGBl I 1450) die §§ 45 und 48 - entsprechend. Da die Rückforderung der schon bei Zahlung des Rechtsgrundes entbehrender Leistungen der Rücknahme eines schon bei Erlaß rechtswidrigen Verwaltungsaktes vergleichbar ist, ist deshalb hier noch der die Rücknahme von Verwaltungsakten regelnde § 45 SGB 10 entsprechend anzuwenden. Das gilt allerdings nur insoweit, als dort die Rücknahme für die Vergangenheit geregelt ist; denn bei der Rückforderung nach § 50 Abs 2 SGB 10 handelt es sich ausschließlich um bereits "erbrachte" Leistungen.
Nach § 45 Abs 4 Satz 1 SGB 10 wird der Verwaltungsakt nur in den Fällen von Abs 2 Satz 3 und Abs 3 Satz 2 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Von diesen Tatbeständen kommt im vorliegenden Fall für eine entsprechende Anwendung lediglich die Nr 3 des Abs 2 Satz 3 in Betracht. Nach ihr kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Dies ist - mit dem SG - auf Rückforderungen nach § 50 Abs 2 SGB 10 in der Weise zu übertragen, daß sie nur zulässig sind, wenn der Leistungsempfänger beim Leistungsbezug die Rechtsgrundlosigkeit (Rechtswidrigkeit) der Leistung kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte.
Das SG hat dies bejaht. Es ist davon ausgegangen, daß der Kläger die Rechtsgrundlosigkeit der Zahlung gekannt oder doch zumindest aufgrund eigener grober Fahrlässigkeit nicht gekannt hat; er habe nur unter einer besonders schweren Verletzung der erforderlichen Sorgfalt annehmen können, der tatsächlich gezahlte Betrag stehe ihm in voller Höhe zu, denn der Wegfallbescheid habe die Rentenminderung durch Nennung der konkreten Beträge, mit denen die folgenden Zahlungen nicht übereingestimmt hätten, deutlich ausgewiesen; diesen Umstand habe er nur unter Außerachtlassung einfachster Überlegungen für ordnungsgemäß halten können. Mit diesen Ausführungen hat das SG § 45 Abs 4 Satz 1 iVm Abs 2 Satz 3 Nr 3 zu Recht entsprechend angewandt, und zwar schon im Hinblick auf die erste Alternative der Kenntnis, die eine tatsächliche, den Senat nach § 163 SGG bindende Feststellung beinhaltet; davon abgesehen erscheinen aber auch die Hilfserwägungen zur zweiten Alternative der grobfahrlässigen Unkenntnis rechtlich bedenkenfrei.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist neben dem Satz 1 von § 45 Abs 4 SGB 10 aber ferner der folgende Satz 2 entsprechend anzuwenden. Nach dieser Vorschrift muß die Behörde den rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen zurücknehmen, welche die Rücknahme für die Vergangenheit rechtfertigen. Die Verweisung in § 50 Abs 2 Satz 2 SGB 10 schließt diese Rücknahmefrist nicht von der entsprechenden Anwendung aus; sie läßt sich auf Rückforderungen nach § 50 Abs 2 sinnvoll übertragen und hat als zusätzliche Ausprägung des Vertrauensschutzes auch dort ihre Berechtigung. Soll nämlich ein Empfänger von Leistungen, die ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht wurden, im Vertrauensschutz einem Empfänger von Leistungen mit einem Verwaltungsakt gleichgestellt werden, dann muß sich das auf die Fristen erstrecken, innerhalb deren er mit gegen ihn gerichteten Maßnahmen zu rechnen hat.
Der Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme eines Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen (vgl dazu BVerwG, Großer Senat, zu § 48 des Verwaltungsverfahrensgesetzes, NJW 1985, 819), entspricht bei einer entsprechenden Anwendung des § 45 Abs 4 Satz 2 auf Rückforderungen nach § 50 Abs 2 SGB 10 die Kenntnis der Tatsachen, welche die Rückforderung der ohne Verwaltungsakt erbrachten Leistungen rechtfertigen. Sonach kann die Jahresfrist für die Geltendmachung der Rückforderung im vorliegenden Falle erst begonnen haben, wenn die Beklagte Kenntnis davon besaß, daß dem Kläger über den September 1975 hinaus kindbezogene Leistungen zu Unrecht (ohne Rechtsgrund) erbracht worden sind und daß der Kläger die Rechtsgrundlosigkeit der Zahlungen gekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt hat. Für die Kenntnis der Beklagten sind dabei die Kenntnisse maßgebend, die der oder die für die zu treffenden Entscheidungen zuständigen Sachbearbeiter der Beklagten gehabt haben (BVerwG aaO S 821).
Nach dem vom SG festgestellten Sachverhalt können Sachbearbeiter der Beklagten Kenntnis von den Tatsachen, welche die Rückforderung der von Oktober 1975 bis Februar 1982 gezahlten kindbezogenen Leistungen rechtfertigen, nicht vor Februar 1982 gehabt haben. Die vom SG für September 1975 festgestellten Vorgänge haben der Beklagten eine solche Kenntnis noch nicht verschafft. Das gilt ungeachtet dessen, daß das SG festgestellt hat, der damalige Sachbearbeiter habe gewußt, daß der damalige Zahlbetrag nicht mit der - zu ergänzen: nach September 1975 - tatsächlich zu erbringenden Zahlung übereinstimmte und die zu veranlassende Änderung unterblieb. Denn Tatsachen, welche Rückforderungen nach § 50 Abs 2 SGB 10 rechtfertigen, können nicht schon vor, sondern frühestens mit den Zahlungen entstehen, die zurückgefordert werden sollen. Erst von da an kann Kenntnis davon vorhanden sein, daß Leistungen zu Unrecht erbracht worden sind und daß in Fällen wie dem vorliegenden der Empfänger beim Bezug der Leistungen die Rechtsgrundlosigkeit gekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt hat. Vor den Zahlungen kann allenfalls mit der unrechtmäßigen Erbringung künftiger Leistungen gerechnet werden. Der Sachbearbeiter von September 1975 mag deshalb damit gerechnet haben - oder wohl eher: er hätte damit rechnen müssen -, daß nach September 1975 kindbezogene Leistungen zu Unrecht erbracht werden, wenn er (und auch sonst niemand von seiten der Beklagten) keinen neuen Zahlungsauftrag an die Post erteilt; eine Kenntnis von zu Unrecht erbrachten Leistungen, wie sie § 50 Abs 2 iVm § 45 Abs 2 Satz 2 SGB 10 voraussetzt, hatte er damit aber noch nicht und konnte er sie im September 1975 auch noch nicht haben.
Da die Rückforderungsfrist somit nicht vor Februar 1982 begonnen hat, ist sie entgegen der Annahme des SG nicht versäumt worden. Gleichwohl kann der erlassene Rückforderungsbescheid wegen unterbliebener Ermessensausübung nicht aufrechterhalten bleiben.
Wie der Senat bereits entschieden hat (BSGE 55, 250 = SozR 1300 § 50 Nr 3 und SozR 1300 § 45 Nr 12), stehen Rückforderungen nach § 50 Abs 2 SGB 10 im Ermessen der Beklagten. Hier haben Ermessenserwägungen im Bescheid vom 10. März 1982 und im Widerspruchsbescheid vom 26. November 1982 indes keinen Ausdruck gefunden. Die Beklagte hat allein die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen aufgeführt, offenbar in der Annahme, zur Rückforderung berechtigt und auch verpflichtet zu sein. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) führt jedoch das erkennbare Fehlen der Ermessensentscheidung zur Rechtswidrigkeit des Bescheides (SozR 1300 § 45 Nr 19; Urteil vom 26. Juni 1985 - 7 RAr 126/84 -; 21. Mai 1986 - 11b RAr 12/85 -; s auch SozR 1300 § 50 Nr 6; SozR 1300 § 48 Nr 11 sowie SozR 1300 § 45 Nr 20). Insoweit läßt sich vom Senat auch nicht feststellen, daß die Beklagte bei einer Ermessensausübung keine andere Entscheidung über die Rückforderung mehr treffen könnte. So könnte bei einer Ermessensentscheidung der Beklagten möglicherweise noch zu berücksichtigen sein, daß sie die Überzahlungen nicht nur schuldhaft verursacht, sondern dem Kläger außerdem mit Schreiben vom 12. Januar 1979 sogar noch eine Mitteilung über die Berechnung und Zahlung eines Kindergeldausgleichsbetrages zukommen ließ, in der sie die Zahl der berücksichtigten Kinder mit "vier", also einschließlich des Sohnes Michael, angegeben hat.
Aus den dargelegten Gründen war die Revision der Beklagten zurückzuweisen und das Urteil des SG im Ergebnis zu bestätigen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; hierbei hatte der Senat zu berücksichtigen, daß die Stellung des Klägers durch die Entscheidung des Senats insofern verschlechtert worden ist, als er - anders als aufgrund des erstinstanzlichen Urteils - nun mit einem erneuten Bescheid rechnen muß, dessen Inhalt im Hinblick auf die Ermessensentscheidung noch offen ist.
Fundstellen
Haufe-Index 518118 |
BSGE, 239 |