Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Beitragsrecht. Gefahrklasse. Herabsetzung. Abweichende Betriebsweise. Gefahrenlage. Besondere betriebliche Gegebenheiten. Geringere Unfallgefahr Einzelfälle. Gebundene Entscheidung. Auswahlermessen
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Voraussetzungen für eine Herabsetzung sind dann erfüllt, wenn in Abweichung vom „Normalfall” eines Unternehmens mit regelrechter Betriebsweise, guten Einrichtungen und allen üblichen und durch die Unfallverhütungsvorschriften angeordneten Schutzvorkehrungen bei einem einzelnen Unternehmen eine Betriebsweise vorliegt, die von der in dem betreffenden Gewerbezweig üblichen nicht unerheblich abweicht und zu einer von dem „normalen” Unternehmen nicht unwesentlich geminderten oder erhöhten Gefahrenlage führt.
2. Entscheidend für die Anwendung dieser Regel über die Herabsetzung der Gefahrklassen ist, dass bei einem bestimmten Unternehmen besondere betriebliche Gegebenheiten vorhanden sind und deshalb eine abweichende Veranlagung dieses Unternehmens als gerechtfertigt angesehen wird; denn diese Korrekturmöglichkeit ist auf Einzelfälle beschränkt und darf nicht dazu führen, für eine bestimmte Art von Unternehmen, die durch die Veranlagung zu einer bestimmten Gefahrtarifstelle einer bestimmten Gefahrklasse zugeordnet wurden, über den Weg der Herabsetzung eine niedrigere Gefahrklasse festzusetzen.
3. Die Entscheidung der Berufsgenossenschaft, ob im konkreten Einzelfall die Gefahrklasse herabzusetzen ist, steht nicht in deren Ermessen; bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen (Einzelfall, erheblich abweichende Betriebsweise, geringere Unfallgefahr, Kausalität zwischen den beiden letzteren Voraussetzungen), bei denen es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt, deren Vorliegen durch Subsumtion geprüft werden muss, ist vielmehr die Herabsetzung im Wege einer gebundenen Entscheidung vorzunehmen; das „kann” ist insoweit nicht als Ermessens-, sondern als „Kompetenz-Kann” zu verstehen.
4. Aus der Verwendung eines weiten Rahmens (10 bis 50 v.H.) für die Herab- bzw. Heraufsetzung der Gefahrklasse ohne Angabe, nach welchen Kriterien dieser Rahmen im Einzelfall Anwendung finden soll, ist in Verbindung mit der Verwendung des Wortes „kann” zu entnehmen, dass die Entscheidung der Berufsgenossenschaft über den Umfang der Herabsetzung allerdings nach Ermessen zu treffen ist, insoweit also ein Auswahlermessen besteht.
Normenkette
RVO § 723 Abs. 1, § 725 Abs. 1, § 730; SGB VII § 150 Abs. 1, § 153 Abs. 1, § 157 Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. November 2002 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Höhe der Beiträge der Kläger zu der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) für die Jahre 1994 bis 1997.
Die Kläger betreiben ein Architekturbüro in der Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR). Die Beklagte veranlagte sie nach ihrem ab 1. Januar 1990 geltenden Gefahrtarif (im Folgenden Gefahrtarif 1990) zur Gefahrtarifstelle 4.2 (Architekten) mit der Gefahrklasse 2,2 (Bescheid vom 13. Juli 1990). Diese Veranlagung legte sie ihren Beitragsbescheiden vom 27. April 1993, 27. April 1994 und 25. April 1995 für die Beitragsjahre 1992 bis 1994 zu Grunde. Die Kläger erhoben jeweils Widerspruch und machten geltend, nur die Teillohnsumme von ca 9,65 % erfülle die Voraussetzungen der Gefahrklasse 2,2, ansonsten werde ausschließlich Bürotätigkeit verrichtet. Ihre Betriebsweise weiche erheblich von der anderer Architekturbüros ab, bei denen ein Projekt vom Entwurf bis zur Realisierung von einem Architekten begleitet werde, da bei den von ihnen geplanten Großprojekten eine personelle Arbeitsteilung sowie eine Trennung zwischen Planung und Bauausführung bestehe. Die Beklagte wies die Widersprüche gegen den Veranlagungsbescheid vom 13. Juli 1990 und gegen den Beitragsbescheid für das Jahr 1993 zurück (Widerspruchsbescheid vom 4. April 1996). Da die Kläger die Rechtsmittelfrist gegen den Veranlagungsbescheid versäumt hätten, sei dieser bindend geworden; diese Bindungswirkung betreffe auch die Zugrundelegung der dort festgesetzten Gefahrklasse für die Beitragserhebung im Bescheid vom 27. April 1994.
Nach In-Kraft-Treten ihres ab 1. Januar 1995 geltenden Gefahrtarifs (im Folgenden Gefahrtarif 1995) veranlagte die Beklagte die Kläger zur Gefahrtarifstelle 10 (Architekturbüro) mit der Gefahrklasse 2,2 (Bescheid vom 13. Februar 1996) und legte diese ihren Beitragsbescheiden vom 26. April 1996, 25. April 1997 und 27. April 1998 für die Jahre 1995 bis 1997 zu Grunde. Die Kläger erhoben Widerspruch gegen den Veranlagungsbescheid und gegen den Beitragsbescheid vom 26. April 1996 und trugen vor, sie stützten sich “schwerpunktmäßig auf Ziff. 2 der Sonstigen Bestimmungen” des Gefahrtarifs, denn bei erheblich abweichender Betriebsweise sei eine Herabsetzung der Gefahrklasse vorzunehmen. Daraufhin lehnte die Beklagte die beantragte Herabsetzung der Gefahrklasse ab 1. Januar 1990 durch Bescheid vom 13. November 1996 und die beantragte Herabsetzung ab 1. Januar 1995 durch Bescheid vom 17. April 1997 ab. Eine Prüfung der Unternehmensverhältnisse habe regelrechte Betriebsverhältnisse ergeben; das Strukturbild des Unternehmens der Kläger entspreche dem der Gefahrengemeinschaft.
Nach In-Kraft-Treten ihres ab 1. Januar 1998 geltenden Gefahrtarifs (im Folgenden Gefahrtarif 1998) veranlagte die Beklagte die Kläger zur Gefahrtarifstelle 13 (Architekturbüro) mit der Gefahrklasse 0,72 (Bescheid vom 31. März 1998). Auch hiergegen erhoben die Kläger Widerspruch, ebenso gegen die unter dem 15. Oktober 1998 jeweils gesondert ergangenen Bescheide zur Abänderung der Beitragsbescheide für die Jahre 1994 und 1995. Die Beklagte wies die Widersprüche gegen den Veranlagungsbescheid vom 13. Februar 1996, die Ablehnung der Herabsetzung der Gefahrklasse ab 1. Januar 1990 und ab 1. Januar 1995 sowie gegen die Beitragsbescheide für die Jahre 1994 bis 1997 zurück (Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1998). Eine von der üblichen erheblich abweichende Betriebsweise müsse außergewöhnlich sein und dürfe in der Regel bei Unternehmen derselben Unternehmensart nicht vorkommen. Eine solche Betriebsweise sei hier nicht festzustellen. Die Widersprüche gegen die Beitragsbescheide für die Jahre 1995 und 1996 bezögen sich inhaltlich auf die Veranlagung und seien deshalb zurückzuweisen.
Auf die von den Klägern hiergegen erhobene Klage, die allein auf die Verurteilung der Beklagten zur Neubescheidung der Herabsetzungsanträge gerichtet war, hat das Sozialgericht (SG) Stuttgart die Bescheide vom 13. November 1996 und 17. April 1997 sowie vom 25. April 1995, 26. April 1996, 25. April 1997 und 27. April 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 1998 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Anträge der Kläger auf Herabsetzung der Gefahrklasse vom 20. Oktober 1994 und 27. Februar 1995 gemäß der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden (Urteil vom 15. Februar 2001). Die Beklagte sei der Begründungspflicht für ihre Ermessensentscheidung nicht nachgekommen; den Klägern sei nicht erkennbar gewesen, auf Grund welcher Erhebungen und welcher Erwägungen die Beklagte zu den angegriffenen Ausgangsentscheidungen gekommen sei.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. November 2002). Gegenstand des Berufungsverfahrens seien außer den die Herabsetzung der Gefahrklasse ablehnenden Bescheiden vom 13. November 1996 und 17. April 1997 auch die Beitragsbescheide für die Jahre 1994 bis 1997; auch über den damals noch nicht beschiedenen Widerspruch gegen den Beitragsbescheid vom 25. April 1995 für das Jahr 1994 habe die Beklagte sachgerecht durch den Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1998 entschieden. Die Veranlagungsbescheide zu den Gefahrtarifen 1990 und 1995 seien hingegen nicht Verfahrensgegenstand, da die Widersprüche der Kläger durch die Widerspruchsbescheide vom 4. April 1996 und vom 16. Dezember 1998 insoweit bestandskräftig zurückgewiesen worden seien. Ebenfalls nicht Verfahrensgegenstand seien die Beitragsbescheide für die Jahre ab 1998 geworden, weil diese auf dem Gefahrtarif 1998 beruhten.
Mit den bestandskräftigen Veranlagungsbescheiden habe die Beklagte die Kläger für die Dauer der ab 1. Januar 1990 bzw 1. Januar 1995 geltenden Gefahrtarife neu zu den Gefahrklassen veranlagt, wobei sie nicht an frühere Entscheidungen gebunden gewesen sei, weil die Einstufung nach § 734 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) durch die Geltungsdauer des jeweiligen Gefahrtarifs auflösend bedingt sei. Der BG sei entgegen der Ansicht des SG kein Ermessen bei der Entscheidung eingeräumt, ob die Gefahrklasse herabzusetzen sei; bei Vorliegen der Voraussetzungen der in Teil II Nr 2 des Gefahrtarifs festgelegten Voraussetzungen müsse eine abweichende Veranlagung vorgenommen werden. Die danach mögliche und gebotene freie Überprüfung habe ergeben, dass für die Zeit ab 1. Januar 1990 die Voraussetzungen einer Herabsetzung der Beitragsklasse iS dieser Norm nicht vorgelegen hätten. Wenn dort von Einzelfällen die Rede sei, bedeute dies, dass nur außergewöhnliche, für die betreffende Unternehmensart atypische Betriebsweisen eine Herabsetzung rechtfertigen könnten. Die Regelgefahrklasse einer Gefahrtarifstelle dürfe nicht dadurch ausgehöhlt werden, dass in erheblichem Umfang Beitragsklassenherabsetzungen bewilligt würden. Es stehe zur Überzeugung des Senats fest, dass in der von den Klägern geltend gemachten Betriebsweise kein außergewöhnlicher Einzelfall gesehen werden könne. Dies sei mit hinreichender Sicherheit den ab der Gefahrtarifsperiode 1984 gestellten 59 Herabsetzungsanträgen von anderen Architekturbüros zu entnehmen. Die Unternehmensverhältnisse sämtlicher Antragsteller, die nach ihrer Selbsteinschätzung bereits eine erheblich abweichende Betriebsweise aufwiesen, ließen eine weit geringere Außendiensttätigkeit erkennen, als die Kläger für ihr Unternehmen dargelegt hätten. Wenn deshalb in Unternehmen, die für sich eine strukturell vom Üblichen abweichende Betriebsweise durch fehlenden oder geringen Außendienst reklamierten, der Außendienst insgesamt geringer sei als bei dem Unternehmen der Kläger, sei bei diesem eine branchentypisch außergewöhnlich abweichende Betriebsweise nicht festzustellen, sondern vielmehr davon auszugehen, dass bei der Unternehmensart “Architekturbüro” eine überwiegende bis ausschließliche Bürotätigkeit noch zu den üblichen Betriebsweisen zähle.
Mit ihrer – vom LSG zugelassenen – Revision rügen die Kläger eine Verletzung materiellen Rechts. Das Berufungsgericht habe für seine unzutreffende Rechtsauffassung, der BG sei bei der Entscheidung über die Herabsetzung der Gefahrklasse kein Ermessen eingeräumt, keine Begründung gegeben. Die Vorschrift wolle sicherstellen, dass eine Herabsetzung (auch im Wege des Ermessens) dann nicht in Betracht kommen solle, wenn die objektiven tatbestandlichen Voraussetzungen nicht gegeben seien; dies ändere aber nichts daran, dass die Prüfung dieser Voraussetzungen zum Zweck der anschließenden Anwendung des Ermessens unerlässlich sei. Werde diese Prüfung nicht vorgenommen, könne die vorgesehene Folgerung nicht in Angriff genommen werden. Daher erscheine eine Verfahrensweise, die Prüfung der tatbestandlich geforderten Feststellung “in concreto” nicht mehr vorzunehmen, nicht als sachgerecht. Weiter verstoße die Auffassung des LSG, eine Herabsetzung komme nur in seltenen Einzelfällen in Betracht, gegen Wortlaut sowie Sinn und Zweck von Teil II Nr 2 des Gefahrtarifs der Beklagten. Ein solches Postulat lasse sich der Vorschrift nicht entnehmen, da zwar von Einzelfällen, nicht jedoch von seltenen Einzelfällen die Rede sei, vom Gericht auf diese Weise vielmehr ein weiteres – vom (materiellen) Gesetzgeber nicht für erforderlich gehaltenes – Tatbestandsmerkmal hinzugefügt werde. Es sei auch nicht ersichtlich, dass eine bestimmte absolute Zahl von bewilligten Herabsetzungen das Merkmal “Herabsetzung in erheblichem Umfang” ausfüllen und dadurch eine Aushöhlung der Regelgefahrklasse bewirken könnte; vielmehr müsse ein relativer Grenzwert gefunden werden. Erst recht sei eine Zahl von Herabsetzungen, die das Merkmal “in erheblichem Umfang” ausfüllen könnten, nicht aus der Zahl der gestellten Herabsetzungsanträge ableitbar. Soweit das LSG “außergewöhnliche Betriebsverhältnisse” verlange, werde der Wortlaut des Gefahrtarifs nicht ernst genommen. Die Folgerungen des LSG beruhten letztlich offenkundig auf den Ausführungen von Schulz (in SGb 1993, 402 ff), der damals wohl der Geschäftsführung eines Unfallversicherungsträgers angehört habe; dessen dem vorgegebenen Wortlaut widersprechende Kommentierung könne nicht die Entscheidung des autonomen Satzungsgebers außer Kraft setzen. Im Übrigen sei vom LSG übersehen worden, dass auch nach dessen Vorstellung ein Ermessen bei der Höhe der Herabsetzung bestehe. Dann aber könne im Rahmen der dort möglichen Ermessenserwägungen einer Aushöhlung von vornherein entgegengetreten werden.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 21. November 2002 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 15. Februar 2001 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Insbesondere habe das LSG die Begriffe “Einzelfall” und “von der üblichen erheblich abweichende Betriebsweise” zutreffend äußerst restriktiv ausgelegt. Einen “relativen Grenzwert”, wie ihn sich die Kläger vorstellten, könne es angesichts der Vielzahl und Vielfalt der Unternehmensarten sowie deren vielfältiger Ausgestaltung im Bereich der Beklagten nicht geben. Letztlich verlangten die Kläger mit der Beitragsherabsetzung eine Differenzierung nach Tätigkeiten diverser Ausgestaltungen der jeweiligen Unternehmensart, die indes mit dem Gewerbezweigprinzip ihrer Gefahrtarife nicht vereinbar sei, sondern bei genereller Anwendung dessen Ende bedeuten würde. Angesichts der Vielzahl der möglichen Varianten der Betriebsweise von Unternehmen – auch von Architekturbüros – müsse auch von mehreren üblichen Betriebsweisen bzw verschiedenen Varianten der üblichen Betriebsweise ausgegangen werden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Kläger ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Herabsetzung der Gefahrklassen, zu denen die Kläger durch ihre Zuordnung zur Gefahrtarifstelle 4.2 des Gefahrtarifs 1990 ab 1. Januar 1990 und zur Gefahrtarifstelle 10 des Gefahrtarifs 1995 ab 1. Januar 1995 veranlagt wurden, auf Grund des Teil II Sonstige Bestimmungen Nr 2 der genannten Gefahrtarife ab 1. Januar 1990 und die Beiträge für die Jahre 1994 bis 1997, über die die Beklagte in dem angefochtenen Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1998 entschieden hat. Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Veranlagung der Kläger durch die Beklagte zu den Gefahrtarifen 1990 und 1995 selbst nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens gewesen ist, da die betreffenden Veranlagungsbescheide der Beklagten bestandskräftig sind, im Übrigen diese auch von den Klägern nicht ausdrücklich angegriffen wird; dies gilt auch für das Revisionsverfahren.
Maßgebliche Rechtsgrundlage zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Beitragserhebungen in der gesetzlichen Unfallversicherung bis zum 31. Dezember 1996 ist die RVO und für die anschließende Zeit das Siebte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII), weil nach § 219 SGB VII, der am 1. Januar 1997 in Kraft getreten ist, die Vorschriften des SGB VII erstmals für das Haushaltsjahr 1997 anzuwenden sind. Der Senat hat bereits ua in seinen Entscheidungen vom 6. Mai 2003 – B 2 U 7/02 R – (zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen) und – B 2 U 17/02 R – klargestellt, dass durch das SGB VII keine grundlegende Neuregelung des Beitragsrechts in der gesetzlichen Unfallversicherung erfolgt ist, sondern dass es im Wesentlichen das zuvor geltende Recht der RVO übernommen hat (vgl Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung, BT-Drucks 13/2204, S 73, 110, 112). Die von den Unternehmen allein zu zahlenden Beiträge berechnen sich nach dem Finanzbedarf der jeweiligen BG, den Arbeitsentgelten der Versicherten in dem jeweiligen Unternehmen und dem in der Gefahrklasse zum Ausdruck kommenden Grad der Unfallgefahr in den Unternehmen (vgl §§ 723 Abs 1, 725 Abs 1, 730 RVO, §§ 150 Abs 1, 153 Abs 1, 157 Abs 3 SGB VII). Grundlage für die Beitragserhebung ist der Gefahrtarif, in dem entsprechend den Unfallgefahren bzw den Gefährdungsrisiken Gefahrtarifstellen zu bilden sind und den die jeweilige BG als autonomes Recht erlässt (§§ 730, 734 Abs 1 RVO; § 157 Abs 1 bis 3 SGB VII). Dieser Gefahrtarif war nach § 731 Abs 1 RVO alle fünf Jahre nachzuprüfen und darf nach § 157 Abs 5 SGB VII höchstens sechs Jahre gelten. Nach dem als Satzung anzusehenden Gefahrtarif der jeweiligen BG sind die Unternehmen für die Tarifzeit zu den Gefahrklassen zu veranlagen (§ 734 Abs 1 RVO, § 159 Abs 1 Satz 1 SGB VII).
Des Weiteren haben die BGen unter Berücksichtigung der anzuzeigenden Versicherungsfälle Zuschläge aufzuerlegen oder Nachlässe zu bewilligen (§ 725 Abs 2 Satz 1 RVO, § 162 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Die Höhe der Zuschläge und Nachlässe richtet sich nach der Zahl, der Schwere oder den Aufwendungen – nach der RVO: Kosten – der Versicherungsfälle oder nach mehreren dieser Merkmale (§ 725 Abs 2 Satz 3 RVO, § 162 Abs 1 Satz 4 SGB VII). Die sog Wegeunfälle (§ 550 RVO, § 8 Abs 2 Nr 1 bis 4 SGB VII) bleiben dabei außer Betracht (§ 725 Abs 2 Satz 2 RVO, § 162 Abs 1 Satz 2 SGB VII). Außerdem können die Unfallversicherungsträger unter Berücksichtigung der Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen Prämien gewähren (§ 725 Abs 1 Satz 4 RVO, § 162 Abs 2 SGB VII).
Der neue § 162 Abs 1 SGB VII übernimmt im Wesentlichen das bisher geltende Recht des § 725 Abs 2 RVO (BT-Drucks aaO, S 112). Der Neuregelung, dass das Nähere über das Zuschlags-Nachlass-Verfahren in “der” oder, da BGen nach § 114 Abs 2 Satz 1 SGB VII mehrere Satzungen erlassen dürfen, “einer” Satzung zu erfolgen hat, wird durch eine Regelung in dem als Satzung beschlossenen Gefahrtarif Rechnung getragen. Die weiteren Neuregelungen hinsichtlich der zu berücksichtigenden Versicherungsfälle sind im Rahmen der Ausgestaltung dieser Satzung zu berücksichtigen.
In den genannten Entscheidungen vom 6. Mai 2003 – B 2 U 7/02 R – und – B 2 U 17/02 R – hat der Senat auch klargestellt, dass entsprechend seiner bisherigen Rechtsprechung zu § 725 Abs 2 RVO auch für die Auslegung des § 162 Abs 1 SGB VII an Folgendem festzuhalten ist: Ein Zuschlags-Nachlass-Verfahren als solches ist zwingend vorgeschrieben. Bei seiner näheren Ausgestaltung hat die jeweilige BG im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben einen weiten Gestaltungsspielraum. Grund für diese Übertragung auf die Selbstverwaltung der BGen ist deren besondere Sachkunde und Sachnähe. Von den Gerichten ist nicht zu entscheiden, ob das beschlossene Verfahren die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Regelung ist (BSGE 54, 232, 235 = SozR 2200 § 809 Nr 1). Das Verfahren muss Zuschläge und Nachlässe von wirtschaftlichem Gewicht vorsehen (BSG SozR 2200 § 725 Nr 10). Grenzen sind das Versicherungsprinzip und der aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Übermaßverbot (BSG SozR 2200 § 725 Nr 10). Das Verfahren soll dem Zweck dienen, mit Mitteln des Beitragsrechts positive Anreize für eine verstärkte Unfallverhütung durch den Unternehmer in seinen Betrieben zu bewirken. Nach den im Gesetz vorgesehenen Kriterien für die Höhe der Zuschläge und Nachlässe (“Zahl, Schwere oder Aufwendungen für die Versicherungsfälle”) ist das tatsächliche objektive Unfallgeschehen als Folge der durch den Betrieb bedingten Gefahrenlage ausschlaggebend (BSGE 42, 129, 134 = SozR 2200 § 548 Nr 22).
Im Teil II Sonstige Bestimmungen sieht der Gefahrtarif 1990 der Beklagten, bei dem es sich wegen seiner Erstreckung über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus um objektives revisibles Recht handelt (§ 162 SGG), unter Nr 2 vor: “Ergibt sich in Einzelfällen, dass wegen einer von der üblichen erheblich abweichenden Betriebsweise die Unternehmen geringeren oder höheren Gefahren unterliegen als die, für welche die Gefahrklasse im Teil I berechnet ist, so kann die Berufsgenossenschaft die Gefahrklasse um 10 bis 50 vom Hundert herabsetzen oder erhöhen”. Im Gefahrtarif 1995 findet sich eine entsprechende Regelung mit praktisch gleichem Wortlaut; dass dort “erhöhen” durch “heraufsetzen” ersetzt wurde, hat keine materielle Bedeutung.
Diese Regelung in den Gefahrtarifen der Beklagten steht, wie schon in früheren Entscheidungen des BSG (zuletzt Urteile vom 6. Mai 2003 – B 2 U 7/02 R – und – B 2 U 17/02 R –; sa BSGE 27, 237 = SozR Nr 1 zu § 730 RVO; BSG Urteil vom 21. August 1991 – 2 RU 54/90 = NZA 1992, 335 f) festgestellt, mit § 725 Abs 2 RVO und nun mit § 162 Abs 1 SGB VII in Einklang. Zur Auslegung dieser bzw ähnlicher Regelungen wie in dem Teil II Nr 2 der Gefahrtarife 1990 und 1995 der Beklagten hat der Senat unter Anknüpfung an die Entscheidungen des Reichsversicherungsamtes wiederholt entschieden, dass die Voraussetzungen für eine Herabsetzung dann erfüllt sind, wenn in Abweichung vom “Normalfall” eines Unternehmens mit regelrechter Betriebsweise, guten Einrichtungen und allen üblichen und durch die Unfallverhütungsvorschriften angeordneten Schutzvorkehrungen bei einem einzelnen Unternehmen eine Betriebsweise vorliegt, die von der in dem betreffenden Gewerbezweig üblichen nicht unerheblich abweicht und zu einer von dem “normalen” Unternehmen nicht unwesentlich geminderten oder erhöhten Gefahrenlage führt (vgl BSGE 27, 237, 242 = SozR aaO; BSG Urteil vom 21. August 1991 aaO). An dieser ständigen Rechtsprechung ist festzuhalten. Entscheidend für die Anwendung dieser Regel über die Herabsetzung der Gefahrklassen ist, dass bei einem bestimmten Unternehmen besondere betriebliche Gegebenheiten vorhanden sind und deshalb eine von der im Teil I des Gefahrtarifs vorgesehenen Gefahrklasse abweichende Veranlagung dieses Unternehmens durch die BG als gerechtfertigt angesehen wird (vgl BSGE 27, 237, 242 = SozR aaO). Diese Korrekturmöglichkeit ist auf Einzelfälle beschränkt und darf nicht dazu führen, für eine bestimmte Art von Unternehmen, die durch die Veranlagung zu einer bestimmten Gefahrtarifstelle einer bestimmten Gefahrklasse zugeordnet wurden, über den Weg der Herabsetzung eine niedrigere Gefahrklasse festzusetzen (vgl BSG Urteile vom 6. Mai 2003 aaO und vom 21. August 1991 aaO). Nur zur Klarstellung sei angefügt, dass schon aus dem im Wortlaut des Teils II Nr 2 der Gefahrtarife 1990 und 1995 verwandten Plural “Einzelfälle” folgt, dass es mehr als einen Einzelfall bei der Herabsetzung geben kann, ohne dass damit eine Festlegung notwendig oder möglich ist, wie viele Einzelfälle es jeweils im Höchstfall sein können.
Entgegen der Ansicht der Kläger steht die Entscheidung der BG, ob im konkreten Einzelfall die Gefahrklasse herabzusetzen ist, nicht in deren Ermessen. Bei Vorliegen der genannten Tatbestandsvoraussetzungen (Einzelfall, erheblich abweichende Betriebsweise, geringere Unfallgefahr, Kausalität zwischen den beiden letzteren Voraussetzungen), bei denen es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt, deren Vorliegen durch Subsumtion geprüft werden muss, ist vielmehr die Herabsetzung im Wege einer gebundenen Entscheidung vorzunehmen; das “kann” ist insoweit nicht als Ermessens-, sondern als “Kompetenz-Kann” zu verstehen. Aus der Verwendung eines weiten Rahmens (10 bis 50 vH) für die Herab- bzw Heraufsetzung der Gefahrklasse ohne Angabe, nach welchen Kriterien dieser Rahmen im Einzelfall Anwendung finden soll, ist in Verbindung mit der Verwendung des Wortes “kann” zu entnehmen, dass die Entscheidung der BG über den Umfang der Herabsetzung allerdings nach Ermessen zu treffen ist, insoweit also ein Auswahlermessen besteht (vgl Ricke in KasselerKomm, § 730 RVO RdNr 19 und § 157 SGB VII RdNr 17).
Nach diesen Grundsätzen hat es die Beklagte zu Recht abgelehnt, die Gefahrklasse für das Unternehmen der Kläger nach beiden hier anzuwendenden Gefahrtarifen herabzusetzen und die Beiträge dementsprechend neu festzusetzen. Auf Grund der nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffenen und damit für das BSG bindenden (§ 163 SGG) tatsächlichen Feststellungen des LSG liegen die Voraussetzungen für eine Herabsetzung der Gefahrklasse der Kläger gemäß Teil II Nr 2 der Gefahrtarife 1990 und 1995 der Beklagten nicht vor. Ob das LSG mit den von ihm verwendeten Begriffen “außergewöhnliche, für die betreffende Unternehmensart atypische Betriebsweisen” und “außergewöhnlicher Einzelfall” von der oben wiedergegebenen Rechtsprechung des BSG abweichen wollte, kann – wie bereits bei den oben angeführten Urteilen des Senats vom 6. Mai 2003 aaO – dahinstehen. Denn es ist nicht ersichtlich, inwieweit das Ersetzen der Formulierung “von der üblichen erheblich abweichenden” Betriebsweise durch die Wendung “außergewöhnlichen, für die betreffenden Unternehmen atypischen” Betriebsweise eine über den Ausdruckswechsel hinausgehende konkret fassbare Bedeutung haben könnte.
Das Tatbestandsmerkmal einer von der üblichen erheblich abweichenden Betriebsweise ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt, sodass es auf das Bestehen der weiteren Merkmale und eine ordnungsgemäße Ermessensausübung nicht mehr ankommt. Die Kläger betreiben nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ein Architekturbüro; dass ihr Unternehmen dieser Gattung angehört, wird von ihnen auch nicht in Abrede gestellt. Als solches ist ihr Unternehmen von der Beklagten auch bindend veranlagt worden. Aus den eigenen Angaben der Kläger, von deren Richtigkeit auch das LSG ausgegangen ist, ergibt sich, dass ihr Unternehmen nicht einem Architekturbüro fremde bzw dafür unübliche Aktivitäten entfaltet, sondern dass es Bauprojekte plant und zum Teil auch die Bauleitung übernimmt, wie es für diesen Gewerbezweig typisch ist. Es werden mithin auch nach dem Vortrag der Kläger keine für den Zweig untypische Arbeits- bzw Produktionsmethoden verwandt, bei deren Vorliegen die Annahme einer Abweichung iS des Teils II Nr 2 der Gefahrtarife in Betracht käme (s dazu BSGE 27, 237, 242 = SozR aaO; Schulz SGb 1993, 402, 405). Allerdings soll sich die erheblich abweichende Betriebsweise aus dem unterschiedlichen Umfang der einzelnen Tätigkeitsgruppen – Überwiegen der planerischen Bürotätigkeiten gegenüber den Tätigkeiten mit Außendienst – ergeben. Es kann dahingestellt bleiben, ob mit diesem Vorbringen überhaupt schlüssig eine abweichende Betriebsweise dargelegt wird. Vergleichsmaßstab kann nämlich in diesem Rahmen nicht ein durchschnittliches Architekturbüro schlechthin sein, sondern es ist auf die übliche Betriebsweise der in der betreffenden Gefahrengemeinschaft zusammengefassten Mitgliedsunternehmen der BG abzustellen. Dessen ungeachtet hat das LSG festgestellt, dass bei der Unternehmensart “Architekturbüro” im Bereich der entsprechenden Gefahrtarifstelle der Beklagten eine überwiegende bis ausschließliche Bürotätigkeit noch zu den üblichen Betriebsweisen zählt. Diese tatsächlichen Feststellungen sind ebenfalls nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen und daher für das BSG bindend (§ 163 SGG). Danach handelt es sich bei der Betriebsweise des Unternehmens der Kläger noch um eine Variante der üblichen Betriebsweise, jedenfalls weicht sie nicht erheblich davon ab. Weitere Besonderheiten in der Betriebsweise des Unternehmens der Kläger hat das LSG nicht festgestellt und werden von den Klägern im Rahmen ihrer Revisionsbegründung auch nicht vorgetragen. Wollte man den Mitgliedsunternehmen mit dieser Betriebsvariante eine Herabsetzung der Gefahrklasse zubilligen, würde dies im Kern die Schaffung einer neuen, im Gefahrtarif bisher nicht vorgesehenen Gefahrklasse für eine bestimmte Art von Unternehmen, die einer bestimmten Gefahrtarifstelle einer bestimmten Gefahrklasse zugeordnet sind, bedeuten; eine solche Möglichkeit wird durch Teil II Nr 2 der Gefahrtarife aber gerade nicht eröffnet (vgl BSG Urteile vom 6. Mai 2003 – B 2 U 7/02 R – und vom 21. August 1991 – 2 RU 54/90 = NZA 1992, 335 f).
Da die Beitragsbescheide für die Jahre 1994 bis 1997 von den Klägern allein im Hinblick darauf angefochten werden, dass der Beitragsfestsetzung die ihrer Ansicht nach herabzusetzende Gefahrklasse zu Grunde gelegt worden ist und weitere die Rechtswidrigkeit begründende Umstände nicht ersichtlich sind, ist die Revision auch insoweit unbegründet.
Die Revision der Kläger war nach alledem zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden Fassung.
Fundstellen