Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialversicherungsabkommen. Rentenantrag. Rentenanspruch. Fiktion. Verjährung. Verjährungshemmung. Verjährungsunterbrechung. Amtsermittlungsgrundsatz
Leitsatz (amtlich)
- Gilt ein im Ausland gestellter Rentenantrag nach Abkommensrecht zugleich als ein solcher nach deutschem Recht, ist er auch dann gegenüber dem deutschen Rentenversicherungsträger wirksam gestellt, wenn nicht alle erforderlichen Angaben vollständig gemacht wurden mit der Folge, dass der ausländische den deutschen Träger über die Antragstellung nicht in Kenntnis gesetzt hat.
- Die Verjährungsvorschriften des Zivilrechts, wonach ein Verfahren “betrieben” werden muss, damit die Verjährungsunterbrechung Bestand hat, passen auf das dem Amtsermittlungsgrundsatz unterliegende Sozialverwaltungsverfahren nicht (Bestätigung und Fortführung von BSG vom 24.9.1992 – 9a RV 22/91 = SozR 3-1200 § 45 Nr 1).
Normenkette
SozSichAbk CAN Art. 19 Abs. 3 S. 1; SGB I § 45 Abs. 1 Fassung: 1982-11-04, Abs. 2 Fassung: 1982-11-04, Abs. 3 S. 1 Alt. 1 Fassung: 1982-11-04, S. 2 Alt. 1 Fassung: 1982-11-04, §§ 60, 60ff; SGB X § 20 Abs. 1 S. 1; BGB § 204 Abs. 2 S. 2 Fassung: 2002-01-02, § 211 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 Fassung: 1964-01-01, § 242; RVO § 1248 Abs. 5
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 22. Oktober 2003 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 2. Juli 2002 zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über einen früheren Beginn der Regelaltersrente (RAR) der Klägerin.
Die am 24. April 1926 geborene Klägerin lebt seit 1957 in Kanada und ist kanadische Staatsangehörige. Am 8. November 1990 beantragte sie gegenüber dem kanadischen Rentenversicherungsträger die Gewährung von Altersrente. Im Formantrag beantwortete sie die Frage 10 nach Zurücklegung rentenrelevanter Zeiten in der Bundesrepublik Deutschland nicht; die Frage blieb offen. Nachfragen bezüglich dieser Frage durch den Träger der kanadischen Rentenversicherung erfolgten nicht. Die Klägerin kam von sich aus auf die Fragestellung nicht zurück.
Auf ihren am 16. Mai 1997 bei der Beklagten gestellten Rentenantrag gewährte diese ihr mit Bescheid vom 10. Dezember 1998 RAR ab Antragstellung (1. Mai 1997). Auf den im Hinblick auf das Rentenantragsverfahren in Kanada aus dem Jahre 1990 eingelegten Widerspruch der Klägerin änderte die Beklagte den Bewilligungsbescheid durch weiteren Bescheid vom 17. Dezember 1999 dahingehend ab, dass sie den Rentenbeginn auf den 1. Mai 1991 verlegte, eine Zahlung im Hinblick auf § 44 Abs 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) aber erst ab 1. Januar 1993 zusprach. Durch Widerspruchsbescheid vom 6. April 2000 wies sie den Widerspruch im Übrigen zurück.
Das Sozialgericht Hamburg (SG) hat die Beklagte unter Änderung ihrer Bescheide vom 10. Dezember 1998 und 17. Dezember 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. April 2000 verurteilt, der Klägerin RAR für die Zeit vom 1. Mai 1991 bis 31. Dezember 1992 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen (Urteil vom 2. Juli 2002). Es hat darauf abgestellt, dass der gegenüber dem kanadischen Rentenversicherungsträger gestellte Rentenantrag auch als ein solcher nach den deutschen Rechtsvorschriften gelte. Für eine Weigerung der Rentenzahlung für einen mehr als vier Jahre vor der Antragstellung gegenüber der Beklagten zurückliegenden Zeitraum fehle es an einer Rechtsgrundlage; der Anspruch sei insbesondere nicht verwirkt, und eine Einrede der Verjährung habe die Beklagte nicht erhoben.
Nach ausdrücklicher Erhebung der Verjährungseinrede im anschließenden Berufungsverfahren am 12. September 2002 hat das Landessozialgericht Hamburg (LSG) das Urteil des SG auf die Berufung der Beklagten aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 22. Oktober 2003). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Zwar gelte der am 8. November 1990 gegenüber dem kanadischen Rentenversicherungsträger gestellte Rentenantrag gemäß Art 19 Abs 3 Satz 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada über Soziale Sicherheit vom 14. November 1985 (BGBl 1988 II 28 ≪Abk Kanada SozSich≫) auch als Antrag auf eine Leistung nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaats, mithin nach den Vorschriften der deutschen Rentenversicherung. Für den streitigen Zeitraum sei der Rentenanspruch auf Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres nach § 1248 Abs 5 der Reichsversicherungsordnung jedoch verjährt. Die Verjährungsvorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) gälten gemäß § 45 Abs 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch alter Fassung (SGB I aF) sinngemäß. Danach sei in entsprechender Anwendung des § 209 Abs 1 BGB in der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung (aF) zwar durch die Rentenantragstellung die Verjährung unterbrochen worden; die Unterbrechung habe aber in entsprechender Anwendung des § 211 Abs 2 Satz 1 Alternative 2 BGB aF mit der “letzten Verfahrenshandlung” der Klägerin geendet. Da sie – nach eigenem Vortrag – keine Angaben zu rentenrelevanten deutschen Zeiten gemacht und das Verfahren mithin nicht betrieben habe, sei es gegenüber dem deutschen Rentenversicherungsträger sofort wieder zum Stillstand gekommen. Von der Klägerin habe erwartet werden können, dass sie Beschäftigungs- und sonstige rentenrelevante Zeiten, die sie in Deutschland absolviert habe, bei Antragstellung gegenüber dem kanadischen Rentenversicherungsträger angebe. Wegen der Nichtangabe habe der kanadische Rentenversicherungsträger den Antrag nicht an die deutsche Rentenversicherung weiterleiten und diese keine Bearbeitung vornehmen können.
Erst durch Antragstellung vom 16. Mai 1997 sei eine Weiterbetreibung des Verfahrens erfolgt; zu diesem Zeitpunkt sei die Verjährungsfrist aber bereits abgelaufen gewesen. Gleiches gelte für Rentenansprüche aus dem Jahr 1992 (RAR nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB VI≫); hier habe die Verjährungsfrist mit dem Ende des Jahres 1992 zu laufen begonnen und am 31. Dezember 1996 geendet. Die Verjährungseinrede habe die Beklagte mit Schreiben vom 12. September 2002 erhoben. Ermessenserwägungen habe sie nicht anzustellen brauchen; denn es seien keine Gesichtspunkte vorgetragen worden oder sonst ersichtlich, die gegen die Erhebung der Einrede sprechen könnten.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§ 45 SGB I, § 211 Abs 2 BGB aF und Art 19 Abs 3 Satz 1 Abk Kanada SozSich) und führt zur Begründung aus: Der Beginn der Verjährungsfrist von vier Jahren gemäß § 45 Abs 1 SGB I sei zwar unabhängig von der Kenntnis des Berechtigten von einem Rentenantrag nach deutschem Recht. Die Nichtbeantwortung der Frage 10 des Antragsvordrucks des kanadischen Rentenversicherungsträgers hätte diesen aber veranlassen müssen, Rücksprache mit ihr – der Klägerin – zu nehmen. Es sei Aufgabe des kanadischen Versicherungsträgers gewesen, gezielt darauf zu achten, dass die Frage Nr 10 beantwortet werde. Der kanadische Versicherungsträger sei organisatorisch in das deutsche Rentenverfahren derart einbezogen, dass dessen Fehler bei der Bearbeitung des Rentenantrags der Beklagten zugerechnet werden müssten.
Aus dem allgemein gültigen Grundsatz von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB sei der Beklagten die Möglichkeit abzusprechen, eine Leistung aufgrund einer Verjährungseinrede zu verweigern. Das Sich-Berufen auf die Verjährungseinrede sei von vornherein unzulässig, weil rechtsmissbräuchlich. Überdies sei fraglich, ob überhaupt Verjährung eingetreten sei. Denn durch die Rentenantragstellung in Kanada sei eine laufende Verjährungsfrist unterbrochen worden. Nach § 45 Abs 3 Satz 2 SGB I ende aber die Hemmung (Unterbrechung) der Verjährung sechs Monate nach Bekanntwerden der Entscheidung über den Antrag. Allein das Nichtbetreiben des Antrags führe nicht zu einer solchen Hemmung (Unterbrechung) der Verjährung. Die Regelung des § 211 Abs 2 BGB aF (= § 204 Abs 2 Satz 2 BGB nF) betreffe unmittelbar nur den von den Prozessparteien beherrschten Zivilprozess, über dessen Verlauf sie in der Regel selbst zu bestimmen hätten (Dispositionsmaxime). Im Gegensatz hierzu würden die Rentenverfahren nach der Antragstellung gemäß § 20 Abs 1 und 2 SGB X aber von Amts wegen betrieben (Offizialmaxime). Deshalb sei ein Antragsteller nicht verpflichtet und folglich sei von ihm nicht zu erwarten, dass er auf den Verfahrensgang einwirke, um einen Verfahrensstillstand und damit das Ende der Verjährungsunterbrechung zu vermeiden (BSG Urteile vom 24. September 1992 – 9a RV 22/91 – SozR 3-1200 § 45 Nr 1 und vom 13. Dezember 1984 – 9a RV 60/83 – SozR 1200 § 45 Nr 5).
Ausgenommen seien nur Fälle, in denen der Antragsteller eine der Mitwirkungspflichten in §§ 60 ff SGB I verletze, was aber regelmäßig eine entsprechende Handlungsaufforderung durch den Versicherungsträger voraussetze. Schließlich setze die Einrede der Verjährung voraus, dass der Versicherungsträger Ermessen ausübe. Eine solche Ermessensausübung sei aber durch die Beklagte vor Erklärung der Einrede der Verjährung nicht erfolgt. Da sich die Beklagte das Handeln bzw Unterlassen des kanadischen Rentenversicherungsträgers zurechnen lassen müsse, sei zudem das Ermessen der Beklagten zugunsten der Klägerin auf Null reduziert, so dass die Erhebung der Verjährungsreinrede ausgeschlossen sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 22. Oktober 2003 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 2. Juli 2002 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision ist begründet. Wie das SG zutreffend entschieden hat, hat die Klägerin in Änderung der angefochtenen Bescheide der Beklagten vom 10. Dezember 1998 und 17. Dezember 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. April 2000 Anspruch auf Zahlung des Altersruhegelds (bzw der RAR) auch für die Zeit vom 1. Mai 1991 bis 31. Dezember 1992. Auf die Revision der Klägerin war daher das erstinstanzliche Urteil wieder herzustellen.
Die Klägerin hat die Gewährung von Altersrente am 8. November 1990 gegenüber dem kanadischen Rentenversicherungsträger beantragt. Dieser Antrag, der nicht ausdrücklich auf Leistungen aus der kanadischen Rentenversicherung beschränkt war, gilt gemäß Art 19 Abs 3 Satz 1 Abk Kanada SozSich auch als Antrag auf eine Leistung nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaats, mithin nach den Vorschriften der deutschen Rentenversicherung. Diese Wirkung ist – worauf das LSG zutreffend hingewiesen hat – nach dem Wortlaut des Abkommens nicht an weitere Voraussetzungen – zB die Angabe von deutschen Versicherungszeiten – geknüpft. Damit unterscheidet sich die Regelung in Art 19 Abs 3 des Abk Kanada SozSich vom 14. November 1985 zB vom Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika vom 7. Januar 1976 (BGBl 1976 II 1358), das in seinem Art 14 zwar ebenfalls die Wirksamkeit des Antrags gegenüber einem Träger des anderen Vertragsstaats vorsieht, in Art 7 Abs 1 der Durchführungsvereinbarung vom 21. Juni 1978 (BGBl 1979 II 567) aber einschränkend regelt, dass der Antrag erkennen lassen müsse, dass auch Versicherungszeiten nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaats geltend gemacht würden. Ein solches “Kenntlich-Machen” einer weiteren Rentenberechtigung in dem anderen Vertragsstaat wird nach dem Abk Kanada SozSich nicht gefordert; eines insoweit “vollständigen” Antrags bedarf es nicht. Soll der Antrag nicht zugleich als im anderen Vertragsstaat gestellter Antrag anzusehen sein, muss dies ausdrücklich erklärt werden. Das bloße Nichtankreuzen der Frage nach im Ausland zurückgelegten Versicherungszeiten ist nicht mit einer ausdrücklichen Verneinung der Frage gleichzusetzen, sondern lässt den Antrag nur “unvollständig”.
Mit ihrem Antrag vom 8. November 1990 hat die Klägerin mithin zugleich Ansprüche auf eine Altersrente nach den Vorschriften des deutschen Rechts – hier: vor Inkrafttreten des SGB VI – geltend gemacht, auch wenn sie nicht alle Fragen im Formantrag beantwortet hat. Im Sinne einer Fiktion gilt der Antrag als ein solcher auf entsprechende Leistung nach den Rechtsvorschriften der anderen Vertragspartei (Deutschland). Weder nach dem Abk Kanada SozSich noch nach den deutschen Vorschriften (vgl § 16 Abs 3 SGB I) hängt die Wirksamkeit des Antrags davon ab, dass er vollständig gestellt worden ist, wenn jedenfalls das Begehren unmissverständlich zum Ausdruck gebracht worden ist. Nach den Feststellungen des LSG hat die Klägerin im Jahre 1990 beim kanadischen Versicherungsträger die Gewährung von Altersrente beantragt. Hierbei handelt es sich um eine der RAR entsprechende Leistung iS von Art 19 Abs 3 Satz 1 Abk Kanada SozSich. Die Klägerin hatte mit der Antragstellung in Kanada mithin alles Erforderliche dafür getan, um die begehrte Leistung (Altersruhegeld bzw RAR) – auch – in Deutschland beanspruchen zu können.
Unabhängig von der Kenntnis der Beklagten von diesem Antrag hatte die Klägerin bereits am 8. November 1990 alle Leistungsvoraussetzungen erfüllt, und zwar ungeachtet dessen, dass der kanadische Versicherungsträger seiner Verpflichtung aus Art 19 Abs 2 Abk Kanada SozSich auf unverzügliche Übersendung nicht nachgekommen ist. Für die Wirksamkeit des beim kanadischen Versicherungsträger gestellten Antrags kommt es auf die rechtzeitige Übersendung oder auch nur die Kenntnis der Beklagten nicht an, weil eine entsprechende Einschränkung dem Abk Kanada SozSich nicht zu entnehmen ist (vgl dagegen zB Art 13 Abs 5 iVm Abs 4 Abk Australien SozSich vom 13. Dezember 2000 – BGBl 2002 II 2307 ff, 2314 –, in Kraft getreten am 1. Januar 2003 ≪Bekanntmachung vom 15. November 2002 – BGBl 2002 II 2932≫). Diese nahezu vollständige Antragsgleichstellung bewirkt eine automatische Erstreckung eines Antrags auf Leistung in einem Vertragsstaat auf die entsprechende Leistung in dem anderen Vertragsstaat. Damit wird ein Antragsteller der Mühe einer doppelten Antragstellung entbunden, andererseits wird aber auch das Risiko einer Fristversäumnis durch verspäteten Eingang im anderen Vertragsstaat ausgeschlossen (Frank in Berliner Komm, Internationales Rentenrecht Bd 2, Stand Oktober 2000, RdNr 564, S 189).
Die von der Beklagten in ihrer Revisionserwiderung vom 21. Januar 2004 angeführte Änderung des Art 19 Abs 3 Abk Kanada SozSich zum 1. Dezember 2003, wonach ein nach den Vorschriften des einen Vertragsstaats gestellter Rentenantrag künftig nur noch dann als Antrag auch nach den Vorschriften des anderen Vertragsstaats gelten soll, wenn der Antragsteller dies ausdrücklich wünscht oder bei der Antragstellung Versicherungszeiten im anderen Vertragsstaat angibt, berührt den vorliegend zu entscheidenden Fall nicht, weil der Antrag weit vor dem 1. Dezember 2003 gestellt worden ist. Die Änderung belegt aber, dass die bisherige Regelung nicht im Sinne der Beklagten verstanden werden kann und die Vertragspartner einen entsprechenden Regelungsbedarf angenommen haben.
Entgegen der Ansicht des LSG und der Beklagten ist der Rentenanspruch auf Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres für den streitigen Zeitraum auch nicht verjährt. Gemäß § 45 Abs 1 SGB I in der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entstanden sind. Für die Hemmung, die Unterbrechung und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des BGB sinngemäß (§ 45 Abs 2 SGB I aF). Nach § 45 Abs 3 Satz 1 Alternative 1 SGB I aF wird die Verjährung auch durch schriftlichen Antrag auf die Sozialleistung unterbrochen. Nach Satz 2 Alternative 1 dieser Vorschrift dauert die Unterbrechung bis zur Bekanntgabe der Entscheidung über den Antrag.
Eine Entscheidung über den am 8. November 1990 aufgrund der Gleichstellungsregelung in Art 19 Abs 3 Satz 1 Abk Kanada SozSich auch mit Geltung gegen die Beklagte gestellten Antrag auf Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahrs (bzw auf RAR) hat die Beklagte erstmals durch Bescheid vom 10. Dezember 1998 getroffen; jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt – nach Einlegung des Widerspruchs auch danach – war die Verjährung bezogen auf Leistungen aus dem Recht auf Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs 5 RVO unterbrochen. Anderes lässt sich – entgegen der Auffassung des LSG im angefochtenen Urteil – nicht aus der sinngemäßen Anwendung des § 211 Abs 2 Satz 1 Alternative 2 BGB aF entnehmen. Hiernach endet eine Verjährungsunterbrechung ua dann, wenn das Verfahren dadurch in Stillstand gerät, dass es nicht “betrieben” wird. Es endet dann mit der “letzten Verfahrenshandlung der Parteien oder des Gerichts”.
Die mit der Antragstellung eingeleitete Verjährungsunterbrechung endete nicht dadurch sogleich wieder, dass die Klägerin – nach eigenem Vortrag – keine Angaben zu rentenrelevanten deutschen Zeiten machte. Auch wenn das Verfahren dem deutschen Rentenversicherungsträger gegenüber nicht aktiv “betrieben” wurde, kam es nicht – wovon das LSG ausgeht – “sofort wieder zum Stillstand”. Entgegen der Auffassung des LSG lässt sich § 211 Abs 2 Satz 1 Alternative 2 BGB aF (entspricht § 204 Abs 2 Satz 2 BGB nF) auf Antragsverfahren in dem vom Amtsermittlungsgrundsatz (Offizialmaxime) beherrschten sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren nicht entsprechend anwenden.
Während das zivilrechtliche Verfahren von den Parteien “betrieben” werden muss, hat die Verwaltung im sozialrechtlichen Verfahren von Amts wegen den Sachverhalt aufzuklären, § 20 Abs 1 Satz 1 SGB X. Das “Betreiben” iS des § 211 Abs 2 Satz 1 Alternative 2 BGB aF ist daher ein spezifisches Erfordernis des vom Beibringungsgrundsatz beherrschten zivilrechtlichen Verfahrens; die Vorschrift “passt” auf das sozialrechtliche Verfahren nicht, so dass eine analoge Anwendung ausgeschlossen ist. Soweit das LSG für seine Ansicht Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zitiert (vgl BSG Urteile vom 13. Dezember 1984 – 9a RV 60/83 – SozR 1200 § 45 Nr 5, vom 24. September 1992 – 9a RV 22/91 – SozR 3-1200 § 45 Nr 1 und vom 15. Juni 2000 – B 7 AL 64/99 R – BSGE 86, 182 = SozR 3-1200 § 45 Nr 9), steht diese der Auffassung des Senats nicht entgegen.
Ist der 9a Senat im Urteil vom 13. Dezember 1984 (aaO) noch davon ausgegangen, ein Versorgungsverfahren könne durch “Nichtbetreiben” in “Stillstand” iS des § 211 Abs 2 Satz 1 Alternative 2 BGB aF geraten, hat derselbe Senat seine Auffassung in der späteren Entscheidung vom 24. September 1992 (aaO) im Sinne einer Aufgabe dieser früheren Rechtsprechung deutlich modifiziert (revidiert), indem es dort heißt, die Versorgungsverwaltung habe ein Verfahren auch dann fortzusetzen und abzuschließen, wenn der Antragsteller seinen Antrag trotz Aufforderung nicht ergänze; ein Nichtbetreiben des von der Offizialmaxime beherrschten Verfahrens iS der Verjährungsvorschriften liege darin nicht (“Abgrenzung” zum Urteil des BSG vom 13. Dezember 1984 – 9a RV 60/83 – SozR 1200 § 45 Nr 5). In der Entscheidung des 9a Senats ist ausgeführt, dass weitere Aktivitäten als die Antragstellung grundsätzlich in einem Verfahren, in dem die Offizialmaxime gelte, nicht erwartet werden könnten. Die Erwartung eines besonderen Einwirkens auf den Verfahrensfortgang bestehe im Sozialverwaltungsverfahren nicht, weil in diesem Verwaltungsverfahren der Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären sei. Die Folgen fehlender Mitwirkung seien allein in §§ 60 ff SGB I geregelt. Die vom LSG zitierte Rechtsprechung des 7. Senats des BSG (Urteil vom 15. Juni 2000 – B 7 AL 64/99 R – BSGE 86, 182 = SozR 3-1200 § 45 Nr 9) betrifft die zeitabschnittsweise Bewilligung von Arbeitslosenhilfe und die Notwendigkeit einer Mitwirkungshandlung des Leistungsberechtigten nach Ablauf eines Bewilligungsabschnitts, damit das Arbeitsamt in die Lage versetzt werde, über die Voraussetzungen der Arbeitslosenhilfe für einen weiteren Bewilligungsabschnitt zu entscheiden. § 211 BGB aF spielt in dieser Entscheidung keine Rolle.
Die Verwaltung ihrerseits durfte nach dem in § 20 SGB X normierten Untersuchungsgrundsatz bei einem Fehlen von Unterlagen nicht untätig bleiben; sie hatte den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, wobei sie an das Vorbringen der Beteiligten nicht gebunden war. Fehlten Angaben – hier: die Beantwortung einer Frage im Formantrag – musste sie daher auf ergänzende Informationen drängen. Diese Verpflichtung konnte im Verhältnis zum deutschen Rentenversicherungsträger – mangels dessen Kenntnis vom Rentenantrag im November 1990 – faktisch zwar nur den kanadischen Träger treffen; nach den den Senat bindenden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) Feststellungen des LSG sind Nachfragen des kanadischen Rentenversicherungsträgers zu der offen gebliebenen Frage jedoch unterblieben.
Entscheidend ist aber, dass der in Kanada gestellte Antrag nach Art 19 Abs 3 Satz 1 Abk Kanada SozSich sowohl formell als auch materiell als Antrag auf Leistung in Deutschland gilt; der insoweit durch das Abkommen geschützten Klägerin darf es nicht zum Nachteil gereichen, dass entsprechende Nachfragen unterblieben sind. Sie hat vielmehr alles getan, um einen den Rentenanspruch auslösenden Antrag wirksam zu stellen. Der – erneuten – Antragstellung der Klägerin am 16. Mai 1997 bei der Beklagten – dem deutschen Rentenversicherungsträger – kommt nur noch die Rechtsqualität einer “Erinnerung” bezogen auf den nicht erledigten Antrag vom 8. November 1990 zu. Die mit der Antragstellung vom 8. November 1990 wirksam unterbrochene Verjährung dauerte bis zur Bescheidung durch die Beklagte fort.
Die Beklagte hatte mithin keine Handhabe, sich auf Verjährung von Ansprüchen aus dem am 8. November 1990 gestellten Rentenantrag zu berufen.
Wie das SG zutreffend entschieden hat, ist die Beklagte zur Zahlung des Altersruhegeldes der Klägerin auch für die streitige Zeit von Mai 1991 bis Dezember 1992 verpflichtet. Auf die Revision war das anders lautende Urteil des LSG aufzuheben und die erstinstanzliche Entscheidung wieder herzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1143685 |
BSGE 2004, 159 |
BSGE 92, 159 |
FA 2004, 318 |
NZS 2004, 597 |
SGb 2004, 715 |
SozR 4-6580 Art.19, Nr.1 |
GuS 2004, 63 |
ZfSSV 2007 |