Entscheidungsstichwort (Thema)
Wegeunfall. Arztbesuch. Weg vom dritten Ort
Leitsatz (amtlich)
Zum Versicherungsschutz nach § 550 RVO auf dem weiteren Wege zum Ort der Tätigkeit nach einer kurzen ärztlichen Untersuchung (Abgrenzung zu BSG vom 27.8.1987 2 RU 70/85 = BSGE 62, 113 = SozR 2200 § 550 Nr 76).
Normenkette
RVO § 550 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 06.03.1989; Aktenzeichen L 2 U 15/87) |
SG Bremen (Entscheidung vom 30.06.1987; Aktenzeichen S 5 U 177/86) |
Tatbestand
Streitig ist, ob der Unfall des Klägers am 15. August 1985 ein Arbeitsunfall iS des § 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist.
Der Kläger war seit Mai 1985 beim Magistrat der Seestadt Bremerhaven beschäftigt. Am 15. August 1985 suchte er vor Aufnahme seiner Arbeit von seiner Wohnung in der P. Str. aus mit dem Fahrrad um etwa 7.00 Uhr die in der B.- straße gelegene Praxis seines ihn ua wegen Diabetes mellitus behandelnden Arztes auf, um sich einer Blutzuckeruntersuchung zu unterziehen. Gegen 7.25 Uhr verließ er die Praxis und fuhr in Richtung seiner Arbeitsstelle in der Hermann-Ehlers-Straße. Um 7.30 Uhr stürzte er auf der Stresemannstraße in Höhe der Einmündung der Straße Zur Hexenbrücke und zog sich eine Tibiakopffraktur mit Sprengung der Gelenkfläche rechts zu.
Der Beklagte lehnte die Feststellung des Unfalls vom 15. August 1985 als Arbeitsunfall iS des § 550 RVO ab, da sich der Unfall nicht auf dem direkten Wege von der Wohnung des Klägers zu seiner Arbeitsstelle ereignet habe (Bescheid vom 29. September 1986; Widerspruchsbescheid vom 10. November 1986).
Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 30. Juni 1987 die Klage abgewiesen, da sich der Kläger wegen seiner eigenwirtschaftlichen Tätigkeit (Aufsuchen des Arztes) auf einem nicht nur unerheblichen Abweg befunden habe.
Im Berufungsverfahren haben die Beteiligten einen Teilvergleich dahin geschlossen, daß sie den Streitgegenstand auf die Zeit vom 2. April bis 31. Dezember 1986 begrenzt haben und sich der Beklagte verpflichtet hat, für den Fall eines verbindlich festgestellten Arbeitsunfalles die Unfallfolgen ab 1. Januar 1987 festzustellen, zu bewerten und dem Kläger ggf eine Verletztenrente zu gewähren.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 6. März 1989 die Berufung des Klägers zurückgewiesen und zur Begründung ua ausgeführt: Der Kläger habe den Weg von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte zwecks Erledigung einer privaten Angelegenheit verlängert und sei auf einem mit dem Arbeitsweg nicht identischen Teil des Weges verunglückt. Für die Beurteilung des Versicherungsschutzes sei von ausschlaggebender Bedeutung, ob sich der von der Wohnung des Klägers zur Praxis des Arztes und von dort zur Arbeitsstätte führende Weg als ein rechtlich einheitlicher Gesamtweg darstelle oder ob es sich um zwei selbständige, möglicherweise unterschiedlich zu beurteilende Wege, nämlich den Weg von der Wohnung zur Arztpraxis und den von dort zur Arbeitsstätte des Klägers führenden Weg handele. Während der Versicherungsschutz im ersteren Fall unter dem Gesichtspunkt eines Umweges zu beurteilen sei, sei er im letzteren Fall nach den Grundsätzen zu prüfen, die die Rechtsprechung zur Frage der Zurücklegung eines Weges von einem dritten Ort zur Arbeitsstelle entwickelt habe. Ob es sich um einen Gesamtweg bzw Umweg oder zwei rechtlich selbständige Wege handele, hänge von der Dauer ab, während der sich der Versicherte am dritten Ort aufgehalten habe. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) lasse keine allgemein gültigen Richtlinien erkennen, nach denen die Frage nach der Erheblichkeit des Aufenthaltes zu beurteilen sei. Jedenfalls reiche aber eine Verweil- bzw Aufenthaltsdauer von 25 Minuten an einem dritten Ort nicht aus, um dem - unversicherten - Weg von der Wohnung des Klägers zur Praxis des Arztes sowie dem Weg von dort zur Arbeitsstätte des Klägers jeweils eine selbständige Bedeutung beizumessen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger weiterhin geltend, er habe am 15. August 1985 einen Arbeitsunfall iS des § 550 RVO erlitten. Ob zwei Wege mit selbständiger Bedeutung vorlägen, sei nicht allein nach dem Zeitablauf zu entscheiden. Vielmehr sei auch zu berücksichtigen, daß Arztbesuche üblicherweise nicht auf einem Umweg erledigt werden könnten; denn wer zum Arzt gehe, rechne damit, daß die Behandlung länger dauern könne. Zudem spreche für zwei selbständige Wege auch die Zeitdauer. Von dem Verlassen der Wohnung bis zum Unfall seien mehr als 40 Minuten verstrichen. Auch angesichts dieses Zeitablaufs könne nicht angenommen werden, daß das Endziel des von ihm mit Verlassen der Wohnung angetretenen Wegs schon von Anfang an die Arbeitsstätte gewesen sei. Im übrigen sei der Unfall im Kreuzungsbereich Hexenbrücke passiert. Dieser Ort liege aber wieder in einem Verkehrsbereich, den er für den Hinweg zur Arbeitsstätte auch hätte wählen können.
Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid des Beklagten vom 29. September 1986 idF des Widerspruchsbescheides vom 10. November 1986 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 2. April 1986 bis 31. Dezember 1986 eine Verletztenrente in Höhe von 30 vH der Vollrente zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Als Arbeitsunfall gilt auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs 1 RVO).
Der Unfall des Klägers am 15. August 1985 ist, wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben, kein Arbeitsunfall, weil der Kläger nicht auf dem Weg nach dem Ort der Tätigkeit iS des - hier allein in Betracht kommenden - § 550 Abs 1 RVO verunglückt ist.
Der Kläger hat seinen Weg zum Ort der Tätigkeit iS dieser Vorschrift von seiner Wohnung und nicht erst von der Praxis seines Arztes aus angetreten. Der Senat nimmt in ständiger Rechtsprechung einen anderen Ort als die Wohnung nur dann als Ausgangspunkt des Weges nach dem Ort der Tätigkeit an (s ua BSGE 1, 171, 172; 62, 113, 115; BSG Urteil vom 27. Juli 1989 - 2 RU 10/89 -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 11. Aufl, S 485 r; Krasney NZV 1989, 369, 371), wenn die Dauer des Aufenthaltes an dem anderen Ort so erheblich ist, daß der vorangegangene Weg eine selbständige Bedeutung erlangt und deshalb nicht in einem rechtlich erheblichen Zusammenhang mit der bevorstehenden Aufnahme der Arbeit an der Arbeitsstätte steht (BSGE 62, 113, 115; Brackmann aaO S 485 r I; Krasney aaO). Der Senat hat danach auch bei einem Arztbesuch vor Beginn der betrieblichen Tätigkeit den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO auf dem Weg von der Arztpraxis oder dem Krankenhaus zum Ort der Tätigkeit bejaht, wenn der Aufenthalt dort von rechtserheblicher Dauer war (BSGE 62, 113, 115; BSG Urteil vom 27. Juli 1989 aaO). Das ist hier nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG aber nicht der Fall. Dabei hat der Senat in ständiger Rechtsprechung die Dauer des Aufenthaltes selbst als maßgebend angesehen und den Weg von der Wohnung zu dem anderen Ort zeitlich nicht mit eingerechnet. Das Berufungsgericht weist allerdings zutreffend darauf hin, daß das BSG bisher, anders als für das Entfallen des Versicherungsschutzes nach einer längeren Unterbrechung des Weges von dem Ort der Tätigkeit (s hierzu BSGE 55, 141, 143; Brackmann aaO S 487 k; Krasney aaO S 375), für die Erheblichkeit des Aufenthaltes an dem anderen Ort als die Wohnung keine bestimmte Zeitdauer als wesentliches Kriterium festgelegt hat (s Brackmann aaO S 485 r II; Krasney aaO; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 4. Aufl, Kennzahlen 070 S 6, 104 S 12). Auch der vorliegende Fall bietet dazu keinen Anlaß. Der Senat hat bisher einen Aufenthalt von etwa einer Stunde noch als erheblich angesehen, um von dort den Weg zum Ort der Tätigkeit anzunehmen (s BSG SozR Nr 32 zu § 543 RVO aF). Der für Angelegenheiten der gesetzlichen Unfallversicherung nicht mehr zuständige 9b-Senat des BSG hat, worauf das LSG hinweist, sogar einen Aufenthalt von wohl nur knapp über einer halben Stunde als erheblich angenommen (s Urteil vom 5. August 1987 - 9b RU 28/86). Ob diesem Urteil insoweit zu folgen ist und ob in dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt der Versicherungsschutz nicht schon aus anderen Gründen anzunehmen gewesen wäre (vgl BSGE 63, 273), kann hier dahinstehen. Jedenfalls reicht in Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung der Vorinstanzen ein Aufenthalt von - wie hier - weniger als einer halben Stunde nicht aus, um dem Weg von der Wohnung zu der Praxis des Arztes eine unfallversicherungsrechtlich selbständige Bedeutung zu geben. Wie zu entscheiden wäre, wenn ein wesentlich längerer Aufenthalt zu erwarten gewesen wäre und er sich unvorhergesehen entscheidend verkürzt hätte, bedarf ebenfalls keiner Entscheidung. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG war nicht zu erwarten, daß die nur zwei Minuten dauernde Untersuchung nach Öffnung der Praxis um 7.00 Uhr an diesem Tage einschließlich der Wartezeit eine erhebliche Zeitdauer in Anspruch nehmen werde.
Der Kläger hatte somit am 15. August 1985 seinen Weg zum Ort der Tätigkeit von zu Hause aus angetreten. Er hatte diesen Weg unterbrochen, um den Arzt aufzusuchen. Dabei hat es sich um eine dem privaten unversicherten Bereich zuzurechnende sog eigenwirtschaftliche Tätigkeit gehandelt (s BSGE 4, 219, 223; BSG SozR 2200 § 548 Nr 31; BSG Urteil vom 27. Juli 1989 aaO). Während einer Privatzwecken dienenden Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit besteht jedoch kein Versicherungsschutz; erst nach Beendigung der Unterbrechung wäre auf dem weiteren Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit grundsätzlich Versicherungsschutz wieder gegeben gewesen (s Brackmann aaO S 486 m I und S 487 ff sowie Krasney aaO S 372 - jeweils mit zahlreichen Nachweisen der ständigen Rechtsprechung des BSG). Der Kläger ist jedoch nicht, wie die Revision wohl hilfsweise meint, in einem Verkehrsbereich verunglückt, den er auf dem Weg von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte durchfahren hätte. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG und dem einen Gegenstand der mündlichen Verhandlung bildenden Stadtplan ist der Kläger auf einer Wegstrecke verunglückt, die er ohne das Aufsuchen des Arztes von zu Hause mit dem Fahrrad nicht zurückgelegt hätte. Somit war die Unterbrechung des Weges nach dem Ort der Tätigkeit im Unfallzeitpunkt noch nicht beendet und der Versicherungsschutz nicht wieder gegeben.
Die Vorinstanzen haben demnach zu Recht die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen. Die Revision des Klägers war deshalb ebenfalls zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen