Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Einkommensberücksichtigung. Verletztenrente aufgrund Wehrdienstbeschädigung als Wehrpflichtiger der Nationalen Volksarmee der ehemaligen DDR. Änderung des § 1 Abs 6 AlgIIV 2008 ab 1.7.2011 nur für die Zukunft. Verfassungsmäßigkeit
Orientierungssatz
1. Die gesetzgeberische Grundentscheidung, eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung als Einkommen iS des § 11 SGB 2 aF von der Berücksichtigung auch nicht in Teilen freizustellen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
2. Auch die Verletztenrente aufgrund einer Wehrdienstbeschädigung als Wehrpflichtiger der Nationalen Volksarmee ist bei Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in der Zeit vor dem 1.7.2011 in vollem Umfang als Einkommen zu berücksichtigen. Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung liegt nicht vor.
3. Die im Hinblick auf solche Wehrdienstbeschädigungsrenten ab 1.7.2011 in Kraft getretene Änderung in § 1 Abs 6 AlgIIV 2008 bezieht sich nach der Begründung des Entwurfs der Änderungsverordnung ausdrücklich nur auf die Zukunft. Aus dieser Rechtsänderung lassen sich keine weitergehenden Schlüsse für die Auslegung des Rechts für die Zeit vor Inkrafttreten ziehen.
Normenkette
SGB 2 § 11 Abs. 1 S. 1; SGB 2 § 11 Abs. 3; AlgIIV § 1 Abs. 6 Fassung: 2011-06-21; AlgIIV 2008 § 1 Abs. 6 Fassung: 2011-06-21; AGB DDR § 220; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 10. August 2011 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt höhere Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für Februar 2006, weil bei der Verletztenrente, die er aufgrund einer in der DDR erlittenen Wehrdienstbeschädigung bezieht, der Grundfreibetrag iS des § 31 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) in Höhe von 275 Euro von der Einkommensberücksichtigung ausgenommen werden müsse.
Der im Jahre 1947 geborene, alleinstehende Kläger erlitt im Jahre 1971 bei der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR als Wehrpflichtiger eine Wehrdienstbeschädigung und erhielt vom Träger der Sozialversicherung der DDR bis zum Jahre 1990 deshalb eine Rente in Höhe von 456 Mark, ab dem 1.1.1991 in Höhe von 526 DM nebst Kinderzuschlag in Höhe von 91,20 DM. Nach Überführung der Rente in die gesetzliche Unfallversicherung bezog er bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 60 vH von der nunmehr zuständigen Verwaltungs-Berufsgenossenschaft eine Verletztenrente, die im streitigen Zeitraum 647,35 Euro betrug. Er bezog daneben bis zum 12.6.2005 Arbeitslosengeld (Alg) in Höhe von 19,45 Euro täglich und seit Mai 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Der Kläger lebte im Februar 2006 in einer 51,70 m² großen Wohnung, für die er nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) eine Miete in Höhe von insgesamt 305,21 Euro monatlich zuzüglich einer Vorauszahlung von Heizkosten in Höhe von 15,56 Euro monatlich schuldete. Neben der Verletztenrente bezog er kein weiteres Einkommen. Für den Zeitraum vom 1.2.2006 bis 31.7.2006 bewilligte die Rechtsvorgängerin des Beklagten (im Folgenden: Beklagter) dem Kläger Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 239,39 Euro monatlich und berücksichtigte dabei nach Abzügen für Beiträge zu einer Rentenversicherung in Höhe von 15 Euro sowie den Ausgaben zur Kfz-Haftpflichtversicherung und der Versicherungspauschale (insgesamt 77,77 Euro) die Rente des Klägers aus der gesetzlichen Unfallversicherung in Höhe von 569,58 Euro als Einkommen (Bescheid vom 14.2.2006; Widerspruchsbescheid vom 17.8.2006). Die (ursprünglich gegen weitere Bescheide gerichtete und wegen der Zeit vom 1.2.2006 bis zum 31.1.2007 geführte) Klage zum Sozialgericht (SG) Altenburg blieb ohne Erfolg (Urteil vom 14.1.2008). Auf die Sprungrevision des Klägers zum Bundessozialgericht (BSG) hat der Senat dieses Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Thüringer LSG zurückverwiesen. Aufgrund der fehlenden tatsächlichen Feststellungen des SG sei der Senat nicht in der Lage, über die Höhe der dem Kläger zustehenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß §§ 19 ff SGB II zu entscheiden. Jedenfalls sei aber die Verletztenrente aufgrund einer Wehrdienstbeschädigung als Wehrpflichtiger der NVA bei der Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in vollem Umfang als Einkommen zu berücksichtigen. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen dieses Ergebnis teile der Senat nicht (Urteil vom 17.3.2009 - B 14 AS 15/08 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 20).
Die auf den Monat Februar 2006 beschränkte Berufung hat das LSG zurückgewiesen (Urteil vom 10.8.2011). Ein Anspruch auf höhere Leistungen bestehe in diesem Monat nicht. Einem Gesamtbedarf in Höhe von 808,97 Euro (Regelbedarf für einen Alleinstehenden in Höhe von 331 Euro, befristeter Zuschlag in Höhe von 160 Euro monatlich sowie Kosten der Unterkunft in Höhe von 305,21 Euro und Heizung in Höhe von 15,56 Euro abzüglich eines Warmwasseranteils von 2,80 Euro) stehe ein Einkommen von mindestens 569,58 Euro entgegen. Es könne offen bleiben, ob der Abzug der Beiträge für die Rentenversicherung, zutreffend erfolgt sei. Weitergehende Absetzungen von der Verletztenrente in entsprechender Anwendung des § 31 BVG seien nicht vorzunehmen. Daran ändere auch § 1 Abs 6 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung ≪Alg II-VO≫) in der zum 1.7.2011 in Kraft getretenen Fassung des Art 1 der Fünften Verordnung zur Änderung der Alg II-VO (BGBl I 1175) nichts, wonach nunmehr ein Betrag in Höhe der Grundrente nach § 31 BVG abzusetzen ist, die für den Grad der Schädigungsfolgen zu zahlen ist, der der jeweiligen Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht. Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Regelung habe der Senat nicht.
Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers. Er macht geltend, es liege ein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) vor. Die gesetzgeberische Entscheidung, im Dienst der NVA erlittene Wehrdienstbeschädigungen im Unfallversicherungsrecht auszugleichen und damit im SGB II nicht zu privilegieren, sei nicht durch sachliche Gesichtspunkte gerechtfertigt. Dies mache auch die zwischenzeitlich erfolgte Änderung der Alg II-VO deutlich.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Thüringer Landessozialgerichts vom 10. August 2011 und des Sozialgerichts Altenburg vom 14. Januar 2008 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 14. Februar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. August 2006 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Februar 2006 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist unbegründet.
Streitgegenstand sind höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Februar 2006. Der Kläger hat den Streitgegenstand in zeitlicher Hinsicht zulässigerweise entsprechend beschränkt, nachdem wegen der übrigen noch streitig gewesenen Zeiträume vor dem LSG ein sog "Überprüfungsvergleich" geschlossen worden war. Damit ist - anders als noch zum Zeitpunkt der ersten zwischen den Beteiligten in derselben Angelegenheit ergangenen Entscheidung des Senats - lediglich noch der Bescheid vom 14.2.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.8.2006 Gegenstand des Revisionsverfahrens.
In der Sache ist die Revision unbegründet. Zutreffend hat das LSG einen Anspruch auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II verneint.
Leistungen nach dem SGB II erhalten gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II (idF der Norm durch das Kommunale Optionsgesetz vom 30.7.2004 - BGBl I 2014) Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (Nr 1), die erwerbsfähig (Nr 2) und hilfebedürftig (Nr 3) sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr 4). Das LSG hat diese Voraussetzungen nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen zutreffend bejaht.
Der Kläger war insbesondere hilfebedürftig gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 3 iVm § 9 Abs 1 SGB II. Nach § 9 Abs 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, ua nicht aus dem zu berücksichtigenden Einkommen, sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen erhält. Bei Prüfung der Hilfebedürftigkeit ist von einem durch die Regelleistung nach § 20 Abs 2 letzter Halbsatz SGB II (hier in der Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I 2954) für einen Alleinstehenden abgedeckten Bedarf in Höhe von 331 Euro sowie einem Bedarf für Unterkunft und Heizung in Höhe von 320,77 Euro auszugehen. Das Vorbringen der Beteiligten bietet insoweit keinen Anhalt an der Höhe der Kosten der Unterkunft und Heizung, wie sie das LSG zugrunde gelegt hat, zu zweifeln. Schließlich war dem Bedarf des Klägers wegen des vorangegangenen Bezuges von Alg ein befristeter Zuschlag in Höhe von 160 Euro monatlich hinzuzurechnen (vgl § 24 Abs 1, 3 SGB II ebenfalls in der Fassung des genannten Gesetzes).
Diesem Gesamtbedarf des Klägers in Höhe von 808,97 Euro steht zu berücksichtigendes Einkommen in Höhe von (jedenfalls) 569,58 Euro gegenüber. Zutreffend und von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogen ist das LSG davon ausgegangen, dass es sich bei der Verletztenrente dem Grunde nach um Einkommen iS des § 11 Abs 1 SGB II (in der Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt; alte Fassung ≪aF≫) handelt. Dieses Einkommen ist - von den vom LSG festgestellten Absetzbeträgen in Höhe von allenfalls 77,77 Euro abgesehen (neben der Versicherungspauschale von 30 Euro die tatsächlich aufgewandten Beträge für eine Kfz-Haftpflichtversicherung iS des § 11 Abs 2 Nr 3 SGB II aF sowie - ihre Förderfähigkeit zugunsten des Klägers unterstellt - die Beiträge zur Altersvorsorge in Höhe von 15 Euro) - entgegen der Auffassung des Klägers nicht um einen Betrag zu vermindern, der dem Betrag der Grundrente nach § 31 BVG entspricht.
Die gesetzgeberische Grundentscheidung, eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung als Einkommen iS des § 11 SGB II aF von der Berücksichtigung auch nicht in Teilen freizustellen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Wie das Bundesverfassungsgericht zwischenzeitlich mit Beschluss vom 16.3.2011 (1 BvR 591/08, 1 BvR 593/08 - NZS 2011, 895 = SGb 2011, 702) entschieden hat, besteht eine ausreichende sachliche Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung der Empfänger einer bei der Berechnung von Leistungen nach dem SGB II in vollem Umfang als Einkommen zu berücksichtigenden Verletztenrente gegenüber den Empfängern der nach § 11 Abs 1 Satz 1, § 11 Abs 3 SGB II aF (nunmehr § 11a SGB II) privilegierten Leistungen, insbesondere der Grundrente nach § 31 BVG und dieser Rente gesetzlich gleichgestellten Renten.
Der Senat hat in der zwischen den Beteiligten ergangenen Entscheidung vom 17.3.2009 (SozR 4-4200 § 11 Nr 20) zudem ausgeführt, dass sich auch im Hinblick auf die Behandlung von solchen Verletztenrenten, die auf einer Schädigung als Wehrdienstleistender der NVA beruhen, keine verfassungswidrige Schlechterstellung im Vergleich mit demjenigen Personenkreis ergibt, der eine gleichartige Dienstbeschädigung als Wehrdienstleistender der Bundeswehr erlitten hat und folglich nach § 80 Soldatenversorgungsgesetz iVm dem BVG versorgt wird. Diese Entscheidung hat in der Folge in Rechtsprechung und Literatur keinen durchgreifenden Widerspruch erfahren (zweifelnd im Hinblick auf einen Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG nur O'Sullivan, SGb 2011, 691, 693). Weitergehende Argumente, mit denen sich der Senat nicht bereits auseinandergesetzt hat, trägt auch der Kläger nicht vor. An seiner Einschätzung hält der Senat daher fest, sodass zur Vermeidung von Wiederholungen im Einzelnen auf die Ausführungen dort (aaO, RdNr 14 ff) Bezug genommen wird.
Schließlich hat zwar der Verordnungsgeber in Ausfüllung der Verordnungsermächtigung in § 13 Abs 1 Nr 1 SGB II mit der Fünften Verordnung zur Änderung der Alg II-VO (BGBl I 1175) zum 1.7.2011 neu bestimmt, dass in Fällen wie dem vorliegenden die Verletztenrente teilweise nicht als Einkommen zu berücksichtigen ist, wobei sich die Höhe des nicht zu berücksichtigenden Betrages nach der Höhe der Grundrente nach § 31 BVG bestimmt, die für den Grad der Schädigungsfolgen zu zahlen ist, der der jeweiligen Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht (vgl § 1 Abs 6 Alg II-VO in der seither geltenden Fassung). Es ist aber erkennbar, dass dabei die Beseitigung eines als unbillig empfundenen Ergebnisses für die Zukunft Ziel der Änderung war. Der Verordnungsgeber wollte die zwischenzeitliche Änderung ausdrücklich nur für die Zukunft bezogen verstanden wissen (vgl die nichtamtliche Begründung des Verordnungsentwurfs vom 16.6.2011, S 6 f, abrufbar unter www.bmas.de sowie BT-Drucks 17/6658 S 30). Aus der Änderung der Rechtslage für die Zukunft lassen sich keine weitergehenden Schlüsse für die Auslegung des Rechts für die Zeit vor Inkrafttreten ziehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
Haufe-Index 4746726 |
WzS 2013, 157 |
SGb 2013, 229 |
ZfF 2013, 176 |
info-also 2013, 184 |