Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt, ihm wegen unfallbedingter Gesundheitsschäden an der linken Hand und am linken Arm Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Er war bei einem Bestattungsinstitut beschäftigt. Dort zog er sich nach seinen Angaben im Oktober 1976 und Januar 1977 beim Ausschlagen von Särgen jeweils eine Splitterverletzung an der linken Hand zu. Eine danach auftretende schwere Infektion der gesamten linken Hand machten mehrfache Sehnenoperationen sowie eine Hauttransplantation notwendig. Der Kläger war vom 18. Dezember 1976 bis 20. Januar 1977 und sodann wiederum ab 24. Januar 1977 bis 31. März 1982 arbeitsunfähig.
Die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) lehnte eine Unfallentschädigung ab (Bescheid vom 18. Dezember 1980).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, durch den ihm ab 1. April 1982 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H. gewährt wird. Zur Begründung hat das Berufungsgericht im wesentlichen ausgeführt: Die von dem Sachverständigen Privatdozent Dr. B… festgestellten Gesundheitsschäden (Bewegungseinschränkung im linken Handgelenk, unvollständiger Faustschluß links mit Minderung der groben Kraft, Narbenbildung an der linken Hand, am Unterbauch sowie am rechten Oberschenkel) seien mit Wahrscheinlichkeit Unfallfolgen. Eine subakute Entzündung infolge des ersten Arbeitsunfalles mit verbliebener Schwellung des linken Handrückens sowie eine neuerliche Infektion infolge des zweiten Unfallgeschehens hätten zu einer Exazerbation bzw. zu einer Potenzierung beider geführt. Dabei sei es zu einer schweren Infektion der gesamten linken Hand mit einer fortschreitenden nekrotisierenden Tendovaginitis gekommen. Hierbei handele es sich um eine berufsspezifische Erkrankung, die bei einem Kontakt mit Leichen leicht eintreten könne.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision macht die Beklagte Divergenz geltend. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (Urteil vom 24. August 1960 - 2 RU 53/62 - Lauterbach-Kartei § 581 Nr. 6720) seien entsprechend § 581 Abs. 1 und 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) mehrere Arbeitsunfälle getrennt zu entschädigen. Die Bildung einer Gesamt-MdE sei unzulässig, wenn Unfallfolgen auf mehrere Arbeitsunfälle zurückzuführen seien. Außerdem habe das Berufungsgericht nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt. Es habe sich wesentlich auf das Sachverständigengutachten Dr. B… gestützt, ohne die entgegenstehenden Gutachten einer eingehenden Würdigung zu unterziehen. Dadurch habe es seine Aufklärungspflicht (§ 103 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) verletzt.
Die Beklagte beantragt,das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen; hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision der Beklagten hat insoweit Erfolg, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen ist.
Dem Berufungsgericht ist es grundsätzlich nicht gestattet, die Unfallfolgen, die durch zwei voneinander unabhängig erlittene Arbeitsunfälle verursacht sind, nach einer Gesamt-MdE zu bewerten. Vielmehr sind die Unfallschäden getrennt zu beurteilen.
Nach den Feststellungen des LSG, die mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen nicht angefochten sind (§ 164 Abs. 2 Satz 3 SGG) - das Berufungsgericht hat das Gesamtergebnis des Verfahrens ausreichend gewürdigt (§ 128 Abs. 1 SGG); Verfahrensfehler sind dagegen nicht substantiiert vorgetragen - hat der Kläger in einem zeitlichen Abstand von etwa einem Vierteljahr zwei Arbeitsunfälle im Bereich der linken Hand erlitten. Die nach mehrfachen operativen Eingriffen vorhandenen Unfallfolgen schätzt das Berufungsgericht auf insgesamt 30 v. H. Diese Verfahrensweise steht mit § 581 Als 1 RVO nicht im Einklang. In Fällen dieser Art, in denen die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge mehrerer Arbeitsunfälle gemindert ist und der Vomhundertsatz der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit zusammen wenigstens die Zahl 20 erreicht, ist für jeden - auch für einen früheren Arbeitsunfall - Verletztenrente zu gewähren. Die Folgen eines Arbeitsunfalles sind allerdings nur zu berücksichtigen, wenn die Erwerbsfähigkeit jeweils um wenigstens 10 v. H. gemindert ist (§ 581 Abs. 3 Satz 2 RVO).
Bereits aus dem Wortlaut des § 581 Abs. 3 Satz 1 RVO wird deutlich, daß Gesundheitsschäden, die auf mehreren Arbeitsunfällen beruhen, jeweils getrennt zu beurteilen sind; eine Gesamt-MdE kommt insoweit nicht in Betracht (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl. 1984 S. 571). Der sachlich und örtlich zuständige Unfallversicherungsträger hat für jeden Arbeitsunfall die Rente jeweils gesondert festzusetzen (förmliche Feststellung: § 1569a RVO). Hingegen ist der für den zuletzt eingetretenen Arbeitsunfall zuständige Unfallversicherungsträger nicht auch für die Entschädigung des anderen Unfalls zuständig (Urteil des erkennenden Senats vom 27. Juni 1984 - 9b RU 76/83 -; Breiter-Hahn/Schiekel/Mertens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl. 1984 RdNr. 11 zu § 581). Das entspricht dem in der Unfallversicherung allgemein herrschenden Grundsatz, daß nur der durch den jeweiligen Unfall herbeigeführte Schaden ausgeglichen wird. § 581 Abs. 1, aber auch Abs. 3 RVO tragen der Konzeption des Gesetzgebers Rechnung, wonach die MdE - neben dem Jahresarbeitsverdienst - Maßstab des (abstrakt) auszugleichenden Schadens ist (BSGE 50, 133, 135 = SozR 2200 § 589 Nr. 3). Die MdE ist allein danach zu bemessen, in welchem Ausmaß das Leistungsvermögen des Verletzten durch den Unfall gemindert worden ist. Dies gilt nach der Rechtsprechung des 2. Senats selbst dann, wenn durch mehrere Unfälle dasselbe Organ betroffen wird (Urteil vom 24. August 1966 - 2 RU 53/62 - Lauterbach-Kartei, § 581 Nr. 6720) und für diese Unfälle derselbe Unfallversicherungsträger zuständig ist (Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl. 1984, Kennzahl 480 S. 6). Auch nach der Entscheidung des erkennenden Senats (BSG SozR 2200 § 581 Nr. 15) sieht § 581 Abs. 3 RVO lediglich eine Addition der MdE aus den nebeneinander zu bewertenden Schadensfällen vor, jedoch nicht eine einheitliche Gesamtbewertung der Erwerbsminderung; die Unfallfolgen sollen nebeneinander bestehen bleiben und unter Umständen mehrere getrennte Rentenansprüche auslösen.
Die geschichtliche Entwicklung des § 581 Abs. 1 und 3 bestätigt diese Auslegung. Nach der bis zum 31. Dezember 1938 geltenden Vierten Notverordnung vom 8. Dezember 1931 (RGBl. I 699) war Rente bei einer MdE um 20 v. H. ausnahmsweise zu gewähren, wenn der Verletzte aufgrund eines früheren Unfalles Anspruch auf bestimmte Geldleistungen der Unfallversicherung hatte (5. Teil, Kapitel II, § 2 Abs. 2 Satz 1). Der mit dem 5. Änderungsgesetz vom17. Februar 1939 (RGBl. I 267) anstelle der Notverordnung geschaffene § 559a Abs. 3 RVO billigte Rentenleistungen bei einer durch Arbeitsunfall hervorgerufenen MdE von weniger als 20 v. H. jedenfalls dann zu, wenn durch die Folgen eines anderen Unfalls der Verletzte zusätzlich so geschädigt war, daß seine MdE insgesamt 20 v. H. betrug. Solange dieser Zustand anhielt, war der aus beiden Unfällen verbliebene Schaden mit der jeweils entsprechenden Teilrente zu vergüten (BSGE 12, 58, 64 = SozR Nr. 7 zu § 559a RVO a. F.). Hatte aber der Verletzte für die Folgen der früheren Unfälle eine Rente nach § 559a Abs. 3 und 4 RVO a. F. nicht erhalten, war nach Abs. 5 dieser Vorschrift der für den späteren Unfall zuständige Versicherungsträger gehalten, die MdE aus den Folgen beider Unfälle zu bemessen und eine entsprechende Gesamtrente zu gewähren (BSG SozR Nr. 16 zu 5 581 RVO). Demgegenüber sind nach dem mit dem Unfallversicherungs-Neuregelungbgesetz vom 30. April 1963 (UVNG) - BGBl. I 241 - geschaffenen § 581 Abs. 3 RVO nur solche Arbeitsunfälle noch rechtlich relevant, deren MdE mindestens10 v. H. beträgt. Hingegen enthält § 581 RVO im Gegensatz zu der Vorgängervorschrift keine Regelung mehr über die Bildung einer Gesamt-MdE bei mehreren Arbeitsunfällen. Daraus schließt die Rechtsprechung, daß die Rechtsgrundlage für die Zuerkennung einer Gesamtrente - und damit als Voraussetzung hierfür für die Schaffung einer Gesamt-MdE - entfallen ist (BSG SozR Nr. 5 zu § 581 RVO; Nr. 16 zu § 581 RVO unter Bezugnahme auf BT-Drucks. IV/120, Begründung zu § 581 des Entwurfs zum UVNG, S. 58; vgl. auch BSGE 12, 58 = SozR Nr. 7 zu § 559a RVO a. F.).
Daraus folgt für den zugrundeliegenden Streitfall, daß die Unfallfolgen getrennt zu beurteilen sind. Sollten die insoweit noch anzustellenden Ermittlungen ergeben, daß der durch den ersten Arbeitsunfall verursachte Gesundheitsschaden mit unter 10 v. H. zu bewerten ist - was der bisher festgestellte Sachverhalt zu bestätigen scheint, weil am 18. Januar 1977 ein guter Befund erhoben und ab 20. Januar 1977 Arbeitsfähigkeit angenommen worden war -, ist allein § 581 Abs. 1 Nr. 2 anzuwenden. Dem Kläger steht sonach Verletztenrente zu, wenn seine Erwerbsfähigkeit um mindestens 1/5 (= 20 v. H.) gemindert ist. Dabei sind die tatsächlichen Auswirkungen des Unfalls festzustellen. Ergibt sich, daß die Erwerbsfähigkeit durch die dem ersten Arbeitsunfall zuzurechnende Vorschädigung in einem höheren Maß beeinträchtigt ist, als dies bei einem unverletzten Versicherten der Fall wäre, ist die unfallbedingte individuelle MdE mit einem höheren Vomhundertsatz zu bewerten (Brackmann, a. a. O. S. 568c). Dies gilt auch für den Fall, daß die Vorschädigung noch keine meßbare MdE verursacht hatte. Mit der nach diesem Maßstab festgestellten Entschädigungspflicht für den zweiten Arbeitsunfall werden der Beklagten nicht Leistungen für solche Schäden aufgebürdet, die unmittelbar auf dem ersten Arbeitsunfall beruhen. Sie hat vielmehr nur für diejenigen Folgen einzustehen, die unter Einflußnahme der Vorschädigung entstanden sind (BSG, BG 1967, 35).
Das Berufungsgericht wird auch zu beachten haben, daß eine Aufhebungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) und nicht eine Aufhebungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) in Streit steht. Die beklagte BG ist mithin - sofern im übrigen die Voraussetzungen hierfür vorliegen - zur unmittelbaren Rentengewährung sowie zur Anerkennung von Gesundheitsschäden, die dem anzulastenden Arbeitsunfall zuzurechnen sind, zu verurteilen.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahren zu entscheiden.9b RU 58/83
Bundessozialgericht
Fundstellen