Beteiligte
Kläger und Revisionskläger |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I
Unter den Beteiligten ist die Rückforderung einer sogenannten "Urteilsrente" streitig.
Durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Koblenz vom 5. Dezember 1979 war die Beklagte verpflichtet worden, dem 1947 geborenen Kläger ab Antragstellung Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen. In Ausführung dieses Urteils gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 21. April 1980 dem Kläger ab 5. Dezember 1979 die Rente, wobei sie sich auf das Urteil des SG und auf die dagegen eingelegte Berufung bezog. Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hob das Urteil des SG auf und wies die Klage ab. Dieses Urteil wurde durch Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers rechtskräftig. Nunmehr forderte die Beklagte mit Bescheid vom 2. Juni 1982 die für die Zeit vom 5. Dezember 1979 bis zum 31. Dezember 1981 gezahlte "Urteilsrente" vom Kläger zurück. Widerspruch, Klage und Berufung blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 26. August 1982; Urteil des SG Koblenz vom 27. Oktober 1983; Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 26. März 1984). Das LSG hat ausgeführt, der Ausführungsbescheid der Beklagten vom 21. April 1980 enthalte nur eine vorläufige Regelung, die unter der auflösenden Bedingung der Aufhebung des Urteils des SG über die Rentengewährung gestanden habe und § 32 Abs. 2 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) entspreche. Durch die Aufhebung des Urteils sei rückwirkend die Unwirksamkeit des Ausführungsbescheides eingetreten. Die zwischenzeitlichen Zahlungen an den Kläger seien also "ohne Verwaltungsakt zu Unrecht" im Sinne von § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB 10 erfolgt. Der nach dieser Bestimmung entsprechend geltende § 45 SGB 10 sehe die Rücknahme eines begünstigenden rechtswidrigen Verwaltungsaktes u.a. für den Fall vor, daß der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Dem entspreche die Vorbehaltsklausel des Ausführungsbescheides.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger die Nichtanwendung des § 76 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 4) und weist darauf hin, daß er entweder Krankengeld, Arbeitslosenunterstützung oder Arbeitslosenhilfe oder aber Sozialhilfe hätte erhalten müssen, wenn er die sogenannte "Urteilsrente" nicht erhalten hätte.
Der Kläger beantragt,die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid der Beklagten vom 2. Juni 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. August 1982 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Der erkennende Senat geht mit dem 4. Senat (SozR 1300 § 50 Nr. 6) davon aus, daß § 50 Abs. 1 SGB 10 nicht unmittelbar auf die Rückforderung des aufgrund eines nicht rechtskräftigen Urteils Geleisteten anwendbar ist, weil nicht aufgrund eigener Entscheidung des Versicherungsträgers, sondern wegen der Verpflichtung durch das sozialgerichtliche Urteil (§ 154 Abs. 2 SGG) geleistet wurde. Entsprechendes hat der Senat bereits zu § 93 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG - (SozR Nr. 18 zu § 1301 RVO, S. Aa 21) ausgeführt.
Im Rahmen des § 50 SGB 10 ist in Absatz 1 die Aufhebung eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts Voraussetzung des Erstattungsanspruchs, weil nur die rechtswidrig zuerkannten Leistungen erstattungsfähig sind. Bereits bei der Aufhebung dieses Bescheides findet gemäß § 45 Abs. 2 SGB 10 die Prüfung des Vertrauensschutzes des durch die rechtswidrige Leistung Begünstigten statt. Ist ihm Vertrauensschutz zu versagen und deshalb der Bescheid aufzuheben, steht dem Erstattungsanspruch der Verwaltung dieser Gesichtspunkt nicht mehr entgegen. Nur soweit Leistungen ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind, erfolgt erst bei den Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs nach § 50 Abs. 2 SGB 10 die - zuvor nicht veranlaßte - Prüfung des Vertrauensschutzes. Dem § 50 Abs. 1 und 2 SGB 10 ist somit der Grundsatz zu entnehmen, daß eine Erstattung von Leistungen, die - mit oder ohne Leistungsbescheid - zu Unrecht erbracht worden sind, die Beachtung des Vertrauensschutzes des Empfängers - sei es bei Aufhebung des Leistungsbescheides (Abs. 1), sei es vor Erhebung des Erstattungsanspruchs - voraussetzt.
Die Leistungen, die auf ein zusprechendes aber angefochtenes Urteil der ersten Instanz hin gemäß § 154 Abs. 2 SGG erfolgen und im sogenannten Ausführungsbescheid des Versicherungsträgers, der Höhe nach festgestellt werden, sind "ohne Verwaltungsakt" im Sinne von § 50 Abs. 2 SGB 10 zu Unrecht erbracht. Selbst wenn man aber den Ausführungsbescheid - zwar nicht dem Grunde der Leistung nach, wohl aber zur Höhe derselben - als Verwaltungsakt betrachtet, entfällt er doch mit der Aufhebung des Urteils erster Instanz im Berufungsverfahren ohne Prüfung des Vertrauensschutzes des Empfängers der sogenannten "Urteilsrente". Letzterer hofft zwar auf die Richtigkeit des Urteils erster Instanz, darf sich aber wegen des Hinweises, daß es nicht endgültig sondern mit der Berufung angefochten sei, nicht darauf einstellen, die "Urteilsrente" behalten zu dürfen. Seine Situation in bezug auf das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit der ihm gewährten Leistung gleicht mithin mehr der Situation des Leistungsempfängers ohne Verwaltungsakt; allerdings mit der Belastung, auf den Bestand der Zahlung nicht sicher vertrauen zu dürfen. Dies spricht dafür, dem Empfänger der "Urteilsrente" bei Prüfung des Erstattungsanspruchs zwar nicht den Schutz des § 50 Abs. 2 i.V.m. § 45 Abs. 2 Nr. 3 SGB 10 zuteil werden zu lassen, ihm aber auch nicht jeden Schutz zu versagen.
Wie der 4. Senat in dem eingangs zitierten Urteil überzeugend ausgeführt hat, ergibt sich aus dem Grundgedanken des § 42 Abs. 3 Nr. 3 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB 1) ein gewisser Schutz des Empfängers der "Urteilsrente" nach Aufhebung des Urteils. § 42 SGB 1 bestimmt zunächst in Abs. 2, daß der Empfänger eines Rentenvorschusses diesen zu erstatten hat, soweit er die zustehende Leistung übersteigt. Einschränkend sieht aber Abs. 3 Nr. 3 der Bestimmung vor, daß der Erstattungsanspruch zu erlassen ist, wenn die Einziehung nach Lage des einzelnen Falles für den Leistungsempfänger eine besondere Härte bedeuten würde. Letzteres ist nach der Rechtsprechung des 4. Senats (SozR 1200 § 51 Nr. 11), der der Senat zustimmt, der Fall, wenn die Erstattung den Leistungsempfänger sozialhilfebedürftig machen würde.
Dieser Minimalschutz muß auch für den Empfänger einer "Urteilsrente" gelten. Der Versicherte soll nicht schlechter stehen, als er stände, wenn das die Rente zusprechende sozialgerichtliche Urteil nicht ergangen wäre (BSG SozR 1300 § 50 Nr. 6). Das folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität der Sozialhilfe (§ 2 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG -) in Verbindung mit dem Rechtsanspruch auf Sozialhilfe als Minimum einer Lebensführungshilfe (§§ 1 und 4 BSHG). Hat nämlich der Empfänger einer "Urteilsrente'' während ihres Bezuges keinen oder nur einen um ihren Betrag verminderten Anspruch auf Sozialhilfe, so würde der ihm auf diese Weise verloren gegangene Sozialhilfeanspruch nicht wieder aufleben, wenn und soweit er die für eine bestimmte Zeit erhaltene "Urteilsrente" zu erstatten hätte. Der Leistungsempfänger würde dadurch insoweit auf ein unter dem Satz der Sozialhilfe liegendes Lebensführungsniveau herabgedrückt. Das wäre mit seiner Menschenwürde nicht vereinbar und muß deshalb auch ohne besondere gesetzliche Anordnung bei Prüfung der Erstattung einer "Urteilsrente" beachtet werden.
Unabhängig von dieser Erwägung spricht auch der Zweck der "Urteilsrente" dafür, sie dem Empfänger jedenfalls in Höhe der ihm andernfalls zustehenden Sozialhilfe zu belassen. Müßte er nämlich mit der unbegrenzten Erstattung der in Ausführung des Urteils empfangenen Leistungen rechnen, so stünden sie ihm wirtschaftlich nicht zur Deckung seines Lebensunterhalts zur Verfügung und es wäre deshalb überflüssig, sie ihm überhaupt zufließen zu lassen. Damit wäre aber § 154 Abs. 2 SGG - entgegen dem Zweck des Gesetzes - inhaltslos und der damit verbundene Verwaltungsaufwand nutzlos, sofern nicht zuvor dem Träger der Sozialhilfe die Erkenntnis vermittelt werden könnte, daß die Voraussetzungen der Sozialhilfe vorliegen (vgl. §§ 103 Abs. 3 und 105 Abs. 3 SGB 10).
Für die aufgezeigte Begrenzung des Erstattungsanspruchs spricht endlich auch der Grundsatz des § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB 4. Die Verpflichtung der Versicherungsträger, Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben (Abs. 1) wird nämlich durch die Ermächtigung begrenzt, Ansprüche zu erlassen, wenn die Einziehung nach Lage des einzelnen Falles für den Anspruchsgegner eine besondere Härte bedeuten würde. Wenn diese Bestimmung auch im Titel über das Haushalts- und Rechnungswesen steht und somit einen bindend festgestellten Anspruch voraussetzt, müßte der Versicherungsträger doch spätestens in diesem Stadium der Einziehung des Erstattungsbetrages die Frage der besonderen Härte prüfen, die aus den dargelegten Gründen hier jedenfalls nicht strenger beurteilt werden kann als im Rahmen des § 42 Abs. 2 Nr. 3 SGB 1. Es erscheint deshalb geboten, die Frage der besonderen Härte nicht erst beim Vollzug sondern bereits bei der Erhebung des Erstattungsanspruchs zu prüfen und zu entscheiden.
Da das LSG - von seinem Standpunkt aus zu Recht - Feststellungen zu der Frage nicht getroffen hat, ob die dem Kläger durch den angefochtenen Bescheid auferlegte Erstattung für ihn eine besondere Härte in dem oben dargestellten Sinn bedeutet, hat der Senat die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.5b/1 RJ 34/84
Bundessozialgericht
Fundstellen