Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsärztliche Versorgung. Honorarverteilung. rechtswidrige Zuweisung eines zu hohen Regelleistungsvolumens. rückwirkende Korrektur
Leitsatz (amtlich)
Die rechtswidrige Zuweisung eines zu hohen Regelleistungsvolumens kann bei Vorliegen eines Vertrauensausschlussgrundes auch noch nach dem Beginn des Geltungszeitraumes rückwirkend korrigiert werden.
Normenkette
SGB V § 106a Abs. 2 S. 1 Hs. 1 Fassung: 2003-11-14, § 106d Abs. 2 S. 1 Hs. 1 Fassung: 2015-07-16, Abs. 5 S. 3 Fassung: 2019-05-06, § 87b Abs. 5 S. 4 Fassung: 2007-03-26, S. 5 Fassung: 2007-03-26; SGB X § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3, Abs. 4 S. 1, § 50 Abs. 1 S. 1; SGB I § 37 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Oktober 2017 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Zulässigkeit der rückwirkenden Korrektur eines zugewiesenen Regelleistungsvolumens (RLV) streitig.
Die Klägerin war im Quartal 1/2009 im Bezirk der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) als Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Sie verfügte über eine Anstellungsgenehmigung, auf der im Vorjahresquartal bis einschließlich Quartal 4/2008 die angestellte Ärztin Dr. D. vollzeitig tätig war. Im streitbefangenen Quartal 1/2009 war diese Ärztin nur noch auf einer Viertelstelle (Anrechnungsfaktor 0,25) angestellt; ferner wurde als weiterer angestellter Arzt Dr. Da. auf einer Dreiviertelstelle (Anrechnungsfaktor 0,75) tätig; die diesen Änderungen zugrunde liegenden Entscheidungen des Zulassungsausschusses ergingen im November 2008.
Der Zuweisungsbescheid der Beklagten vom 19.12.2008 wies der Praxis der Klägerin für das Quartal 1/2009 ein RLV von insgesamt 79 543,66 Euro zu und legte dabei für die angestellte Ärztin Dr. D. weiterhin die RLV-relevante Fallzahl aus dem Vorjahresquartal (1388) zugrunde und zusätzlich für den auf einer Dreiviertelstelle neu angestellten Arzt Dr. Da. ein entsprechendes RLV (Fallzahl 1130). Das der Praxis für die drei dort tätigen Ärzte zugewiesene RLV entsprach damit rechnerisch insgesamt 2,75 Arztstellen. Der zugrunde gelegte arztgruppenspezifische Fallwert betrug jeweils 17,08 Euro. Der Zuweisungsbescheid enthielt zudem ua folgenden Vorbehalt und den Hinweis, dass gegebenenfalls Anpassungen des RLV notwendig würden:
"Die der Berechnung zugrunde gelegten Verhältnisse können sich nach der Zuweisung verändern. Dies betrifft Praxisgründungen, Praxisauflösungen, Praxisverlegungen, Praxisübernahmen, Wechsel der Arztgruppe, Wechsel des Versorgungsbereichs oder vergleichbare Sachverhalte".
Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und machte eine verspätete RLV-Zuweisung und eine intransparente Berechnung geltend. Mit Honorarbescheid vom 7.10.2009 bewilligte die Beklagte der Praxis für das Quartal 1/2009 ein Honorar von 64 793,94 Euro, legte dabei abweichend von der RLV-Zuweisung vom 19.12.2008 ein RLV von 59 302,10 Euro zugrunde und berücksichtigte für die angestellte Ärztin Dr. D. (nur noch) eine RLV-relevante Fallzahl (348) entsprechend ihres reduzierten Tätigkeitsumfangs. Der arztgruppenspezifische Fallwert wurde mit 16,93 Euro ausgewiesen. Auch hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch. Mit Honorar-/Korrekturbescheid vom 24.6.2010 setzte die Beklagte das Honorar für das Quartal 1/2009 neu fest und berücksichtigte dabei ein RLV von 58 513,93 Euro. Der RLV-relevante Fallwert für die angestellte Ärztin blieb unverändert. Aufgrund einer RLV-relevanten Leistungsanforderung von 73 405,74 Euro führte dies zu einer Honorarkürzung von 11 920,98 Euro. Die Widersprüche der Klägerin sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 24.6.2010).
Das SG hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass die Beklagte das RLV für das Quartal 1/2009 rechtsfehlerfrei gemäß § 45 SGB X korrigiert und auf dieser Grundlage das Honorar zutreffend festgesetzt habe (Urteil vom 23.7.2015). Der RLV-Zuweisungsbescheid sei rechtswidrig gewesen, weil der reduzierte Tätigkeitsumfang der angestellten Ärztin nicht zutreffend abgebildet worden sei. Vertrauensschutz scheide aus, da die Klägerin die Rechtswidrigkeit des RLV-Zuweisungsbescheids hätte erkennen müssen.
Das LSG hat das Urteil des SG geändert und die Beklagte verurteilt, das Honorar der Klägerin für das streitbefangene Quartal unter Anwendung eines RLV festzusetzen, das nach einem arztgruppenspezifischen RLV-Fallwert von 17,08 Euro zu berechnen sei; im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 25.10.2017). Die KÄV sei berechtigt, das dem Vertragsarzt zugewiesene RLV in der Honorarfestsetzung zu überprüfen und ein unrichtiges RLV richtigzustellen. Da die RLV-Festsetzung stets Teilelement der Honorarfestsetzung sei, seien im Ausgangspunkt die Grundsätze der sachlich-rechnerischen Richtigstellung gemäß § 106a SGB V heranzuziehen, die allerdings bezogen auf den Vertrauensschutz des Vertragsarztes wegen der Unterschiede zwischen Honorarbescheid einerseits und RLV-Zuweisungsbescheid andererseits zu modifizieren seien. Der RLV-Zuweisung sei wegen ihrer Zukunftsbezogenheit eine Vorläufigkeit mit der Folge nachträglicher Abänderbarkeit auch ohne ausdrücklichen Vorläufigkeitshinweis insoweit immanent, als sie stets nur unter der Voraussetzung des Gleichbleibens der bei Ergehen des RLV-Zuweisungsbescheids bestehenden Verhältnisse der Praxis erfolgen könne. Änderten sich die für die Höhe des RLV relevanten Umstände in der Praxis nach der Zuweisung, etwa durch das Ausscheiden oder durch Veränderung des Tätigkeitsumfangs der Ärzte, dürfe die KÄV das nunmehr unrichtige RLV durch einen weiteren RLV-Zuweisungsbescheid während des Abrechnungsquartals oder im Honorarbescheid richtigstellen, wenn sie den Vertragsarzt auf diese Umstände (ausreichend konkret) hingewiesen habe oder der Vertrauensausschlusstatbestand des § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 iVm Abs 4 S 1 SGB X vorliege. So liege der Fall hier. Das der Klägerin ursprünglich zugewiesene RLV sei unrichtig gewesen, weil der reduzierte Tätigkeitsumfang der angestellten Ärztin nicht zutreffend erfasst sei. Auf Vertrauensschutz könne sich die Klägerin nicht berufen, weil ihr die Verminderung des Tätigkeitsumfangs bekannt gewesen sei.
Die Klägerin macht mit ihrer Revision geltend, dass § 87b Abs 5 SGB V einer rückwirkenden Reduzierung des RLV entgegenstehe. Zudem sei § 106a SGB V auf RLV-Zuweisungen nicht anwendbar. § 106a SGB V diene nur der Prüfung der Honorarabrechnungen des Vertragsarztes. Soweit die Rechtsprechung eine Änderung des RLV für möglich halte, wenn bei dessen Bekanntgabe die erforderlichen Berechnungsgrundlagen für eine richtige Zuweisung noch nicht vorlagen, fehle es hier an einem entsprechenden Änderungsvorbehalt in der RLV-Zuweisung. Der im Zuweisungsbescheid enthaltene Vorbehalt greife nach seinem Wortlaut nur bei einer Änderung der Verhältnisse nach der Zuweisung des RLV ein. Hier sei die Änderung - Reduzierung des Tätigkeitsumfanges der angestellten Ärztin - jedoch zeitlich vor der RLV-Zuweisung eingetreten. Die Beklagte habe auch vor Beginn des Quartals 1/2009 von der Anstellung des Dr. Da. und der Reduzierung des Tätigkeitsumfanges von Dr. D. Kenntnis gehabt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 25.10.2017 aufzuheben, soweit die Berufung gegen das Urteil des SG Stuttgart vom 23.7.2015 zurückgewiesen worden ist, und die Beklagte unter Änderung des Urteils des SG Stuttgart vom 23.7.2015 sowie des Honorarbescheides vom 7.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.6.2010 und des Korrekturbescheides vom 24.6.2010 zu verurteilen, für das Quartal 1/2009 Honorar unter Zugrundelegung des mit Bescheid vom 19.12.2008 zugewiesenen Regelleistungsvolumens von 79 543,66 Euro zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Das LSG habe zutreffend die Grundsätze der sachlich-rechnerischen Richtigstellung nach § 106a SGB V herangezogen, weil die RLV-Festsetzung stets Teilelement der Honorarfestsetzung sei. Das RLV müsse die Verhältnisse im aktuellen Abrechnungsquartal abbilden. Weil der Tätigkeitsumfang der angestellten Ärztin reduziert worden sei, sei die ursprüngliche Zuweisung des RLV rechtswidrig. Zudem habe sie, die Beklagte, den RLV-Zuweisungsbescheid ausdrücklich unter Vorbehalt gestellt. Die vorliegende Änderung des Tätigkeitsumfangs der angestellten Ärztin falle unter den Passus "vergleichbare Sachverhalte". Ihr sei im Zeitpunkt der Berechnung des zugewiesenen RLV die Reduzierung des Tätigkeitsumfanges der angestellten Ärztin nicht bekannt gewesen, andernfalls hätte sie dies bereits in der Zuweisung berücksichtigt. Selbst wenn aber von einer entsprechenden Kenntnis auszugehen wäre, sei die Richtigstellung rechtmäßig. Denn der Klägerin sei die Verminderung des Tätigkeitsumfanges der angestellten Ärztin zum 1.11.2008 bekannt gewesen, schließlich sei dies Folge ihrer eigenen unternehmerischen Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das LSG hat zutreffend entschieden, dass die von der Beklagten vorgenommene Richtigstellung der RLV-Festsetzung für das Quartal 1/2009 rechtmäßig ist.
A. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind das Urteil des LSG vom 25.10.2017, soweit die Berufung gegen das Urteil des SG vom 23.7.2015 zurückgewiesen worden ist, sowie der Honorarbescheid vom 7.10.2009 in Gestalt des Korrekturbescheides vom 24.6.2010 und des Widerspruchsbescheides vom 24.6.2010. Die Klägerin begehrt im Rahmen einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage höheres Honorar für das Quartal 1/2009 unter Zugrundelegung des im RLV-Zuweisungsbescheid vom 19.12.2008 ursprünglich festgesetzten RLV in Höhe von 79 543,66 Euro. Dabei ist die Entscheidung des LSG zur Anwendung des ursprünglich herangezogenen arztgruppenspezifischen Fallwerts (17,08 Euro) nicht mehr streitbefangen, da die Beklagte keine Revision eingelegt hat und das Urteil des LSG insoweit Bestandskraft erlangt hat. Mithin geht es vorliegend nur noch um die für die Berechnung des RLV maßgeblichen Fallzahlen.
B. Die Revision ist unbegründet. Die Reduzierung des RLV ist rechtmäßig erfolgt. Grundsätzlich kann eine rechtswidrige RLV-Zuweisung auch noch nach Beginn ihres Geltungszeitraumes rückwirkend nach § 106a Abs 2 S 1 Halbs 1 SGB V (in der hier noch maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung ≪GKV-Modernisierungsgesetz - GMG - vom 14.11.2003, BGBl I 2190≫ aF; nunmehr inhaltsgleich § 106d Abs 2 S 1 Halbs 1 SGB V in der ab 1.1.2017 geltenden Fassung des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes vom 16.7.2015, BGBl I 1211) reduziert werden, wenn sich der Arzt nicht auf Vertrauensschutz berufen kann (dazu 1.). Der RLV-Zuweisungsbescheid vom 19.12.2008 war von Anfang an rechtswidrig (dazu 2.a.); die Klägerin hat die Fehlerhaftigkeit des RLV-Zuweisungsbescheides zumindest infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt (dazu 2.b.).
1. Das LSG hat zutreffend entschieden, dass sich die rückwirkende Korrektur der RLV-Zuweisung nach § 106a SGB V aF (jetzt § 106d SGB V) richtet.
a. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats haben Honorarbescheide grundsätzlich vorläufigen Charakter und können auch noch nachträglich korrigiert werden (sog nachgehende Berichtigung, vgl BSG Urteil vom 14.12.2005 - B 6 KA 17/05 R - BSGE 96, 1 = SozR 4-2500 § 85 Nr 22, RdNr 12; BSG Urteil vom 28.8.2013 - B 6 KA 43/12 R - BSGE 114, 170 = SozR 4-2500 § 106a Nr 11, RdNr 13; BSG Urteil vom 24.10.2018 - B 6 KA 34/17 R - Juris RdNr 21 f zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen). Rechtgrundlage hierfür ist § 106a Abs 2 S 1 Halbs 1 SGB V aF (jetzt § 106d Abs 2 S 1 Halbs 1 SGB V) iVm § 50 Abs 1 S 1 SGB X. Die genannten Bestimmungen stellen Sonderregelungen dar, die gemäß § 37 S 1 SGB I in ihrem Anwendungsbereich die Regelung des § 45 SGB X verdrängen (dazu näher BSG Urteil vom 24.10.2018 - B 6 KA 34/17 R - RdNr 22 ff, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen).
b. Auch Bescheide über die Zuweisung eines RLV können im Grundsatz auf dieser Grundlage korrigiert werden. Sie betreffen zwar nicht unmittelbar die Abrechnung des Vertragsarztes, doch enthalten sie wesentliche Elemente des nachfolgenden Honorarbescheides. RLV-Zuweisungen treffen Regelungen zur Leistungshonorierung, die aus Gründen der Kalkulationssicherheit vorab getroffen werden sollen; die Wirkungen von RLV-Zuweisungen erschöpfen sich aber darin auch: Wenn ein Honorarbescheid bestandskräftig ist, kann die ihm zugrundeliegende RLV-Zuweisung nicht mehr gerichtlich überprüft werden (vgl BSG Urteil vom 15.8.2012 - B 6 KA 38/11 R - SozR 4-2500 § 87b Nr 1 RdNr 11).Gerade aber weil die Höhe des RLV für die Höhe des Gesamthonorars maßgebliche Bedeutung hat und immer auch den Honorarbescheid beeinflusst, kann die Korrektur von RLV-Bescheiden grundsätzlich nur nach denselben Maßstäben vorgenommen werden wie diejenige von Honorarbescheiden (BSG Urteil vom 2.8.2017 - B 6 KA 13/17 R - Juris RdNr 58; vgl auch BSG Urteil vom 30.6.2004 - B 6 KA 34/03 R - BSGE 93, 69 = SozR 4-2500 § 85 Nr 11 zur Korrektur von Degressionsbescheiden).
Die Prüfung auf sachlich-rechnerische Richtigkeit der Abrechnungen des Vertragsarztes zielt auf die Feststellung, ob die Leistungen rechtmäßig, also im Einklang mit den gesetzlichen, vertraglichen oder satzungsrechtlichen Vorschriften des Vertragsarztrechts - mit Ausnahme des Wirtschaftlichkeitsgebots - erbracht und abgerechnet worden sind (stRspr, zB BSG Urteil vom 29.11.2017 - B 6 KA 33/16 R - SozR 4-2500 § 106a Nr 17 RdNr 19 mwN). Voraussetzung für das Berichtigungsrecht der KÄV ist schon nach dem Wortlaut der Vorschrift allein die Unrichtigkeit des Honorarbescheides (BSG Urteil vom 24.10.2018 - B 6 KA 34/17 R - Juris RdNr 24 - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen; BSG Urteil vom 28.8.2013 - B 6 KA 50/12 R - SozR 4-2500 § 106a Nr 12 RdNr 18; BSG Urteil vom 30.6.2004 - B 6 KA 34/03 R - BSGE 93, 69 = SozR 4-2500 § 85 Nr 11, RdNr 19). § 106a SGB V aF ist nicht nur dann einschlägig, wenn der Arzt die Leistungslegenden des EBM-Ä falsch angewandt hat, sondern immer dann, wenn ein Honorarbescheid so nicht hätte ergehen dürfen, wie er ergangen ist. Für die generelle Anwendbarkeit des § 106a SGB V aF spielt keine Rolle, ob der "Fehler" des Bescheides in den Verantwortungsbereich des Arztes oder der KÄV fällt. Denn der Senat versteht die entsprechende Vorschrift im umfassenden Sinne und billigt deren Anwendung etwa bei Nichtbeachtung der bereichsspezifischen Vorschriften zur Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung im Rahmen der vertragsärztlichen Abrechnung (BSG Urteil vom 10.12.2008 - B 6 KA 37/07 R - BSGE 102, 134 = SozR 4-2500 § 295 Nr 2, RdNr 15; vgl auch § 106d Abs 2 S 1 Halbs 2 SGB V in der Fassung des Terminservice- und Versorgungsgesetzes vom 6.5.2019 ≪BGBl I 646 - TSVG≫) sowie bei Fehlern im Rahmen der Honorarverteilung (BSG Urteil vom 12.12.2012 - B 6 KA 35/12 R - SozR 4-2500 § 106a Nr 10 RdNr 12). Es ist daher folgerichtig, diese Korrekturvorschrift grundsätzlich - also vorbehaltlich gesetzlich normierter oder von der Sache her gebotener Ausnahmen - auch auf RLV-Bescheide anzuwenden.
c. Der nachträglichen RLV-Korrektur sind jedoch engere Grenzen gesetzt als der nachgehenden Honorarberichtigung. RLV-Zuweisungsbescheide genießen insoweit einen "höheren" Vertrauensschutz als Honorarbescheide, die für Quartale bis zum Inkrafttreten des Satzes 3 in § 106d Abs 5 SGB V durch Art 1 Nr 59b TSVG (Verkürzung der Ausschlussfrist auf zwei Jahre; vgl dazu BSG Urteil vom 15.5.2019 - B 6 KA 63/17 R - RdNr 34, zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen) innerhalb von vier Jahren ohne wesentliche Einschränkungen korrigiert werden können.
(1) Der gesteigerte Vertrauensschutz beruht auf dem in § 87b Abs 5 S 4 und 5 SGB V (in der vom 1.7.2008 bis 22.9.2011 geltenden und deshalb in dem streitbefangenen Quartal anzuwendenden Fassung des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes ≪GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378≫ aF) zum Ausdruck kommenden Prinzip der zukunftsbezogenen RLV-Festsetzung (BSG Urteil vom 2.8.2017 - B 6 KA 7/17 R - SozR 4-2500 § 87b Nr 12 RdNr 73; BSG Urteil vom 2.8.2017 - B 6 KA 13/17 R - Juris RdNr 61): Für den Fall der nicht rechtzeitigen Zuweisung des RLV gilt danach das RLV des Vorquartals fort. Für den Fall der späteren Zuweisung eines höheren RLV wird bestimmt, dass die daraus folgenden Zahlungsansprüche rückwirkend zu erfüllen sind. Damit soll eine "kontinuierliche Geltung des Mengensteuerungsinstruments" gewährleistet werden (vgl BT-Drucks 16/3100 S 126 zu § 85b Abs 6 des Entwurfs eines GKV-WSG). Rückwirkende Korrekturen des RLV sind nach dem Wortlaut des § 87b Abs 5 SGB V aF deshalb jedenfalls für den Regelfall ausgeschlossen.
(2) Wie der Senat bereits mit Urteilen vom 2.8.2017 entschieden hat, sind davon jedoch Ausnahmen möglich und etwa dann geboten, wenn das RLV auf Falschabrechnungen des Arztes im maßgeblichen Vorjahresquartal beruht oder wenn sich die KÄV eine Korrektur des RLV rechtmäßig vorbehalten hat (BSG Urteil vom 2.8.2017 - B 6 KA 7/17 R - SozR 4-2500 § 87b Nr 12 RdNr 68, 70; BSG Urteil vom 2.8.2017 - B 6 KA 13/17 R - Juris RdNr 56, 58).
Diese bislang vom Senat ausdrücklich benannten Ausnahmetatbestände greifen hier allerdings nicht ein. Zwar hat sich die KÄV im RLV-Zuweisungsbescheid vom 19.12.2008 die Korrektur des RLV im Falle nachträglicher Änderungen der Praxisstruktur vorbehalten. Ein solcher Fall liegt aber nicht vor, weil die Änderungen in der Praxisstruktur - Umwandlung der Anstellung von Dr. D. von einer vollen zu einer Einviertel-Anstellung und Einstieg von Dr. Da. mit einer Dreiviertel-Anstellung - zeitlich der Zuweisung des RLV mit Bescheid vom 19.12.2008 vorausgegangen sind. Das folgt - ungeachtet der Frage, wann die Beklagte den Bescheid des Zulassungsausschusses mit diesem Inhalt tatsächlich erhalten hat - schon aus dem Umstand, dass die Anstellung von Dr. Da. der Beklagten bekannt war: Sonst hätte sie diesen Arzt nicht bei der RLV-Zuweisung durch den Bescheid vom 19.12.2008 berücksichtigen können. Sie hat lediglich versehentlich angenommen, Dr. Da. sei zusätzlich zu Dr. D. angestellt worden; nur so erklärt sich die Berücksichtigung von insgesamt 2,75 Arztstellen in der Praxis - statt, wie es richtig gewesen wäre - weiterhin von 2,0. Mit dem Vorbehalt, den die Beklagte dem Zuweisungsbescheid beigefügt hatte, kann sie sich nicht gegen eigene Berechnungsfehler absichern; andernfalls würde der erhöhte Bestandsschutz von Zuweisungsbescheiden weitgehend leerlaufen.
(3) Eine rechtswidrige RLV-Zuweisung - wie sie hier mit Bescheid vom 19.12.2008 erfolgt ist (dazu noch unter 2.a.) - kann über die bisher vom Senat entwickelten Fallgruppen hinaus indessen bei Vorliegen der in § 45 Abs 2 S 3 SGB X normierten Vertrauensausschlussgründe auch noch nach dem Beginn ihres Geltungszeitraumes rückwirkend korrigiert werden.
(a) In seinem Urteil vom 28.8.2013 (B 6 KA 43/12 R - BSGE 114, 170 = SozR 4-2500 § 106a Nr 11, RdNr 24 ff mwN) hat der Senat zuletzt für den ärztlichen Bereich zusammenfassend dargestellt, in welcher Weise Vertrauensschutzerwägungen zu Gunsten des von einer rückwirkenden Honorarberichtigung betroffenen Arztes Beachtung finden müssen (vgl im Einzelnen zu den Fallgruppen Clemens in juris-PK SGB V, 3. Aufl 2016, § 106d SGB V RdNr 227 ff; Engelhard in Hauck/Noftz, SGB V, Stand: Januar 2018, K § 106d RdNr 33 ff). Die nachträgliche Korrektur eines Honorarbescheides ist, wenn die Frist von vier Jahren seit Erlass bereits abgelaufen ist, nur noch unter Berücksichtigung der Vertrauensausschlusstatbestände des § 45 Abs 2 S 3 iVm Abs 4 S 1 SGB X möglich (BSG Urteil vom 24.10.2018 - B 6 KA 34/17 R - Juris RdNr 21, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen). Weiterhin ist die Befugnis zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung aus Vertrauensschutzgesichtspunkten eingeschränkt, soweit die KÄV ihre Befugnis zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung bereits "verbraucht" hat, indem sie die Honoraranforderung des Vertragsarztes in einem der ursprünglichen Honorarverteilung nachfolgenden Verfahren auf ihre sachlich-rechnerische Richtigkeit überprüft und vorbehaltlos bestätigt hat (BSG Urteil vom 12.12.2001 - B 6 KA 3/01 R - BSGE 89, 90, 98 ff = SozR 3-2500 § 82 Nr 3 S 11 ff; BSG Urteil vom 14.12.2005 - B 6 KA 17/05 R - BSGE 96, 1 = SozR 4-2500 § 85 Nr 22, RdNr 15, 18). Gleiches gilt, wenn die KÄV es unterlassen hat, bei der Erteilung des Honorarbescheides auf ihr bekannte Ungewissheiten hinsichtlich der Grundlagen der Honorarverteilung oder ihrer Auslegung (BSG Urteil vom 31.10.2001 - B 6 KA 16/00 R - BSGE 89, 62, 72 = SozR 3-2500 § 85 Nr 42 S 352; BSG Urteil vom 26.6.2002 - B 6 KA 26/01 R - Juris RdNr 20) oder auf ein noch nicht abschließend feststehendes Gesamtvergütungsvolumen (BSG Urteil vom 14.12.2005 - B 6 KA 17/05 R - BSGE 96, 1, 7 = SozR 4-2500 § 85 Nr 22, RdNr 20) hinzuweisen und durch einen Vorläufigkeitshinweis zu manifestieren. Schließlich ist die Richtigstellungsbefugnis begrenzt, wenn die Besonderheiten der Honorierung vertragsärztlicher Leistungen nicht konkret tangiert sind, sondern lediglich sog "alltägliche Fehler" vorliegen (BSG Urteil vom 30.6.2004 - B 6 KA 34/03 R - BSGE 93, 69 = SozR 4-2500 § 85 Nr 11, RdNr 18 ff; BSG Urteil vom 14.12.2005 - B 6 KA 17/05 R - BSGE 96, 1 = SozR 4-2500 § 85 Nr 22, RdNr 19). Auch in diesen Fällen wird die Honorarberichtigung zwar nach den einschlägigen Regelungen über die Korrektur vertragsärztlicher Honorarbescheide durchgeführt, im Rahmen des Berichtigungsverfahrens sind indes die speziellen Vertrauensschutztatbestände des § 45 Abs 2 iVm Abs 4 SGB X entsprechend heranzuziehen.
(b) Die Maßstäbe zur Beurteilung der Frage, in welchem Umfang das Vertrauen von Vertragsärzten auf den Bestand einer rechtswidrigen, für sie günstigen RLV-Zuweisung geschützt ist, lassen sich der bisherigen Rechtsprechung des Senats nicht abschließend entnehmen. Der Senat führt seine Rechtsprechung dazu in der Weise fort, dass auch in diesem Fall Honorarberichtigungen nach den Vorschriften über die nachträgliche Korrektur von anfänglich rechtswidrigen Honorarbescheiden durchgeführt werden können, dass aber im Rahmen des Berichtigungsverfahrens die speziellen Vertrauensschutztatbestände des § 45 Abs 2 iVm Abs 4 SGB X entsprechend heranzuziehen sind. Dies hat der Senat für die strukturell vergleichbare Korrektur von Degressionsbescheiden in der vertragszahnärztlichen Versorgung bereits entschieden (BSG Urteil vom 30.6.2004 - B 6 KA 34/03 R - BSGE 93, 69 = SozR 4-2500 § 85 Nr 11; BSG Urteil vom 5.5.2010 - B 6 KA 21/09 R - SozR 4-2500 § 85 Nr 57).
Wenn eine KÄV in einem Einzelfall die für die RLV-Zuweisung maßgeblichen gesetzlichen und/oder untergesetzlichen Vorschriften, über deren generelle Anwendbarkeit und Rechtsgültigkeit kein Streit besteht, individuell fehlerhaft handhabt, bestehen keine relevanten Unterschiede zu der typischen Situation im Verwaltungsverfahrensrecht, dass nämlich eine Behörde bei Anwendung der maßgeblichen Vorschriften auf den Einzelfall fehlerhaft handelt. Könnte sich eine KÄV von den Folgen jedweder individuell fehlerhafter Gesetzesanwendung ohne Beachtung von Vertrauensschutzaspekten rückwirkend lösen, würde der RLV-Zuweisungsbescheid seinen Charakter als zukunftsbezogene Festsetzung endgültig verlieren. Anders als in den Fällen bestehender Ungewissheit über den rechtlichen Bestand der untergesetzlichen Vorschriften für die Honorarverteilung sowie über die Höhe der Gesamtvergütung bzw des insgesamt zur Verfügung stehenden Finanzvolumens besteht deshalb in der hier zu beurteilenden Situation kein Anlass, von den allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätzen abzuweichen. Danach trägt die Behörde vorbehaltlich der besonderen Tatbestände des § 45 Abs 2 S 3 iVm Abs 4 SGB X das Risiko dafür, dass sie einen für den Betroffenen günstigen Verwaltungsakt erlässt, der sich als teilweise rechtswidrig erweist. § 45 Abs 2 S 3 SGB X normiert in verallgemeinerungsfähiger Weise diejenigen Sachverhalte, bei denen nach der Wertung des Gesetzgebers ein schutzwürdiges Vertrauen, das die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes hindert, nicht anerkannt werden kann (sog Vertrauensausschlusstatbestände). Liegen sie vor, sind Korrekturen von rechtswidrigen RLV-Zuweisungsbescheiden auch rückwirkend möglich.
2. Diese Voraussetzungen für eine nachträgliche Korrektur des zugewiesenen RLV sind hier gegeben.
a. Der RLV-Zuweisungsbescheid vom 19.12.2008 ist rechtswidrig, da der Praxis der Klägerin ein RLV auf der Grundlage von 2,75 Arztstellen zugewiesen worden ist. Zwar führt nach der Rechtsprechung des Senats eine Änderung des Versorgungsauftrags eines Arztes nicht zwangsläufig dazu, dass auch sein RLV vermindert werden muss (BSG Urteil vom 24.10.2018 - B 6 KA 28/17 R - Juris - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen). Denn die Ermittlung des RLV aus der Vorjahresfallzahl und dem arztgruppenspezifischen Fallwert weist keinen unmittelbaren Bezug zum Umfang des Versorgungsauftrages des Arztes auf. Daher ist zB eine Reduzierung des Versorgungsauftrages mit dem Ziel einer Anpassung an den tatsächlichen Umfang der vertragsärztlichen Tätigkeit auch kein geeignetes Anknüpfungskriterium für eine Änderung der Fallzahl bei der Bildung des RLV (vgl BSG, aaO, RdNr 20). In der vorliegenden Fallgestaltung geht es jedoch nicht um die Frage der Zulässigkeit einer Reduzierung des RLV wegen einer Änderung des Versorgungsauftrages, sondern um die Frage, ob eine bloße "Neuaufteilung" der Versorgungsaufträge bzw Anstellungsgenehmigungen innerhalb einer Arztpraxis bei gleichbleibendem Versorgungsauftrag zu einer Erhöhung des RLV führen kann.
Hinsichtlich der Zahl der Versorgungsaufträge der Praxis der Klägerin hat es keine Änderung gegeben: Die mit vollem Versorgungsauftrag zugelassene Klägerin verfügte nur über eine Anstellungsgenehmigung für eine (weitere) volle Stelle, die zunächst von der Ärztin Dr. D. alleine ausgefüllt wurde. Der Praxis waren daher in 2008 zwei Versorgungsaufträge zugeordnet. Dasselbe galt auch für das Quartal 1/2009, denn die - bedarfsplanungsrechtlich neutrale - Einstellung des weiteren Arztes Dr. Da. auf einer Dreiviertel-Stelle erfolgte bei gleichzeitiger Reduzierung der vollen Anstellung der Ärztin Dr. D. auf eine Viertel-Stelle. Die Zuweisung eines RLV auf der Grundlage von 2,75 Stellen anstatt von zwei Stellen ist deshalb rechtswidrig gewesen.
b. Der Vertrauensausschlusstatbestand des § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X liegt hier vor. Nach dieser Vorschrift ist die Berufung auf Vertrauen in eine rechtswidrig begünstigende Regelung ausgeschlossen, wenn der Betroffene die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG - gegen die keine Verfahrensrügen vorgebracht wurden (§ 163 SGG) - hat die Klägerin stets gewusst, dass ihrer Praxis neben der eigenen Zulassung im Umfang eines vollen Versorgungsauftrags nur insgesamt eine volle Arztstelle für einen angestellten Arzt zugeordnet war und dass die angestellte Ärztin Dr. D. ihren Tätigkeitsumfang entsprechend dem Umfang der Neuanstellung des Dr. Da. ab 1.1.2009 reduziert hat. Auf dieser Grundlage bestehen gegen die Feststellung im Urteil des LSG, nach der die Klägerin sich nicht auf Vertrauensschutz berufen kann, keine Bedenken (zur Bewertung eines Handelns als grob fahrlässig als von den Tatsacheninstanzen zu entscheidende Tatfrage s BSG Urteil vom 21.3.2018 - B 6 KA 47/16 R - SozR 4-2500 § 106a Nr 18 RdNr 36; BSG Urteil vom 28.11.1978 - 4 RJ 130/77 - BSGE 47, 180, 181 f = SozR 2200 § 1301 Nr 8 S 20 ff). Für eine mit den Grundlagen der vertragsärztlichen Honorierung vertraute Ärztin wie die Klägerin musste sich der Schluss aufdrängen, dass die gleichzeitige Berücksichtigung von Dr. Da. mit einem Anrechnungsfaktor von 0,75 und die Berücksichtigung von Dr. D. weiterhin mit einem Anrechnungsfaktor von 1,0 nur auf einem Versehen beruhen konnte. Auf dieser Basis zu erkennen, dass und sogar warum die RLV-Zuweisung falsch war, bedarf keiner vertieften Kenntnisse im Vertragsarztrecht.
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§ 154 ff VwGO. Danach trägt die Klägerin die Kosten des von ihr erfolglos geführten Rechtsmittels (§ 154 Abs 2 VwGO).
Fundstellen
Haufe-Index 13287146 |
ArztR 2019, 277 |
MedR 2020, 509 |
NZS 2019, 760 |
SGb 2019, 480 |