Leitsatz (amtlich)
Der Aufenthalt eines suchtkranken Versicherten (hier: Alkoholiker) in einem "Sozialtherapeutischen Übergangsheim" zwischen der durchgeführten Entgiftungsbehandlung und der vom Rentenversicherungsträger als Rehabilitationsmaßnahme bewilligten Entwöhnungsbehandlung ist auch dann eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme iS des § 1237 RVO, wenn während des Aufenthalts eine ärztliche Betreuung des Versicherten nicht erfolgt (Anschluß an und Fortführung von BSG vom 12.8.1982 11 RA 62/81 = BSGE 54, 54 = SozR 2200 § 1237 Nr 18).
Orientierungssatz
1. Leitet der Versicherte seine Rehabilitation selbst in die Wege, obliegt dem Rentenversicherungsträger zumindest für den Zeitraum nach Eingang des Antrags auf Rehabilitation die unverzügliche Prüfung, ob und gegebenenfalls welche Leistungen zur Rehabilitation er dem Versicherten zur Verfügung stellen kann und welche Rehabilitationseinrichtung dafür in Betracht kommt.
2. Ermessen iS des § 1236 Abs 1 S 1 RVO, nach der der Rentenversicherungsträger unter den dort bestimmten Voraussetzungen Leistungen zur Rehabilitation erbringen "kann", bedeutet nicht, daß dem Rentenversicherungsträger für die Eingangsprüfung, ob er überhaupt leisten muß, ein Ermessensspielraum eingeräumt ist. Es besteht in diesen Fällen darin, daß die für die Erwerbsfähigkeit des Versicherten günstigste Maßnahme durchgeführt wird, wobei alle Versicherten in gleicher Lage auch in gleicher Weise zu fördern sind.
Normenkette
RVO § 1236 Abs 1 S 1, § 1237
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 23.11.1988; Aktenzeichen L 2 J 99/88) |
SG Stade (Entscheidung vom 19.02.1988; Aktenzeichen S 5 J 62/87) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt, ihn von den Kosten seines Aufenthaltes im Übergangswohnheim in Stade in der Zeit vom 24. Oktober 1986 bis 2. Dezember 1986 freizustellen.
Der 1950 geborene Kläger war alkoholabhängig erkrankt. Er unterzog sich vom 2. bis 16. Oktober 1986 einer Entgiftungsbehandlung. Vom 20. Oktober 1986 bis 2. Dezember 1986 hielt er sich im Sozialtherapeutischen Übergangswohnheim in Stade auf. In diesem Heim werden Suchtkranke nach Abschluß einer klinischen Entgiftungsmaßnahme betreut.
Mit einem am 24. Oktober 1986 eingegangenen Schreiben beantragte der Kläger die Übernahme der Pflegesatzkosten. Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab (Bescheid vom 4. November 1986, Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 1987). Die Beklagte gewährte dem Kläger auf dessen ebenfalls gestellten weiteren Antrag hin durch Bescheid vom 17. November 1986 eine viermonatige Rehabilitation (Reha), die der Kläger am 3. Dezember 1986 antrat und am 1. April 1987 abschloß.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage gegen die Bescheide vom 4. November 1986 und 23. Februar 1987 abgewiesen, weil der Aufenthalt im Übergangswohnheim keine medizinische Reha gewesen sei (Urteil vom 19. Februar 1988). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, den Kläger für die Zeit vom 24. Oktober 1986 bis 2. Dezember 1986 von den Kosten des Aufenthaltes im Übergangswohnheim in Stade freizustellen (Urteil vom 23. November 1988). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Bei dem Übergangswohnheim in Stade handele es sich um eine Einrichtung, die von ihrer Konzeption her sinnvoll und geeignet sei, eine zeitlich und therapeutisch angemessene Überbrückung zwischen einer abgeschlossenen Entgiftungsbehandlung und einer bevorstehenden Entwöhnung zu gewährleisten. Medizinische Reha könne auch eine Maßnahme sein, die ohne ärztliche Mitwirkung stattfinde. Die Beklagte habe nichts unternommen, um die erforderliche Nahtlosigkeit zwischen Entgiftung und Entwöhnung zu gewährleisten. Es bleibe ihr kein ermessensfreier Raum für eine Ablehnung der streitigen Reha-Maßnahme.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts: Medizinische Maßnahmen zur Reha iS der gesetzlichen Rentenversicherung seien nur Maßnahmen, die unmittelbar der Sicherung bzw der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit dienten. Erforderlich für den Begriff der medizinischen Leistungen sei auch, daß der Betreffende auf ärztliche Anordnung in das Heim komme und ärztlich betreut werde. Die Behandlung im Heim in Stade diene nicht der medizinischen, sondern der sozialen Reha.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 23. November 1988 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 19. Februar 1988 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Übernahme der Kosten seiner Behandlung im Übergangswohnheim in Stade in der Zeit vom 24. Oktober 1986 bis zum 2. Dezember 1986 bejaht.
Ist die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder ist sie gemindert, so kann gemäß § 1236 Abs 1 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) der Träger der Rentenversicherung Leistungen zur Reha erbringen, wenn die Erwerbsfähigkeit durch diese Leistungen wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann oder wenn bei einer bereits geminderten Erwerbsfähigkeit durch diese Leistungen der Eintritt von Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit abgewendet werden kann. Nach § 1236 Abs 1 Satz 4 RVO richtet sich der Umfang der Leistungen zur Reha nach den §§ 1237 bis 1237b RVO.
Die in § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO genannten allgemeinen Leistungsvoraussetzungen, daß es sich bei dem Kläger um einen Versicherten iS von § 1236 Abs 1a RVO handelt und seine Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist, sind unter den Beteiligten nicht streitig. Sie liegen nach den mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen nicht angegriffenen und damit gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG vor.
Allerdings bestimmt § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO nach seinem Wortlaut nur, daß der Versicherungsträger unter den - hier gegebenen - allgemeinen Voraussetzungen Leistungen zur Reha erbringen "kann". Wie der erkennende Senat bereits mit seinem Urteil vom 2. Oktober 1984 (BSGE 57, 157, 161 = SozR 2200 § 1236 RVO Nr 45) entschieden hat, bedeutet dieser Wortlaut der Vorschrift indes nicht, daß dem Rentenversicherungsträger für die Eingangsprüfung, ob er überhaupt leisten muß, ein Ermessensspielraum eingeräumt ist. Diese Entscheidung hat der Senat aus dem in § 7 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (Reha-AnglG) vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) festgelegten Grundsatz hergeleitet, daß die Reha gegenüber der Rentengewährung vorrangig ist: Setzt aber die Rentengewährung - eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht - voraus, daß zuvor Maßnahmen zur Reha durchgeführt worden sind oder wegen Art oder Schwere der Behinderung keinen Erfolg versprechen, so rücken die Maßnahmen zur Reha trotz ihres Charakters als dem Ermessen des Versicherungsträgers unterliegende Leistungen gleichwohl von ihrer Intention her nahe an die Leistungen heran, auf die der Versicherte einen Rechtsanspruch hat. An der daraus im Urteil vom 2. Februar 1984 gezogenen Schlußfolgerung, daß bei medizinischer Notwendigkeit und Erfolgsaussicht der Rentenversicherungsträger keine Möglichkeit zur Versagung einer geeigneten Reha-Maßnahme hat, hält der erkennende Senat fest.
Die Bestimmung des "Wie" der Reha nach § 1236 Abs 1 Satz 5 RVO ist dagegen als nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung des Versicherungsträgers lediglich in den Grenzen der §§ 39 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I), 54 Abs 2 Satz 2 SGG überprüfbar, soweit nicht ein Fall der 'Reduzierung des Ermessens auf Null' vorliegt. Daß eine solche Ausnahme speziell bei medizinischen Leistungen zur Reha dann gegeben ist, wenn für eine Reha-Maßnahme "medizinische Notwendigkeit und Erfolgsaussicht" besteht, hat der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 2. Oktober 1984 aaO ausgesprochen. Wie das LSG unter Bezugnahme auf diese Entscheidung zutreffend ausgeführt hat, ist der Rentenversicherungsträger vom Zweck des Gesetzes her gehalten, sein Ermessen dahin auszuüben, daß die für die Erwerbsfähigkeit des Versicherten günstigste Maßnahme durchgeführt wird, wobei alle Versicherten in gleicher Lage auch in gleicher Weise zu fördern sind.
Dabei ist davon auszugehen, daß die Auffassung der Beklagten, der hier streitige Aufenthalt des Klägers im Übergangswohnheim Stade beinhalte keine medizinische Leistung zur Reha iS des § 1237 RVO, nicht zutrifft. Sie widerspricht bereits der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). So hat der 11. Senat des BSG mit Urteil vom 12. August 1982 (BSGE 54, 54 = SozR 2200 § 1237 Nr 18) entschieden, daß eine Drogenbehandlung in einer sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft zur Wiederherstellung der Drogenabstinenz auch ohne Mitwirkung eines Arztes eine medizinische Leistung iS des § 1237 RVO selbst dann ist, wenn daneben noch weitere Verhaltensstörungen behoben, Allgemein- und Berufskenntnisse vermittelt werden und die Eingliederung in die Gesellschaft ebenfalls angestrebt wird. Der 4a Senat des BSG hat dieser Entscheidung mit Urteil vom 17. November 1987 (SozR 2200 § 1237 RVO Nr 21) jedenfalls insoweit zugestimmt, als es auf die finale Auswirkung der Reha abhebt und auch eine pädagogisch, auf die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit ausgerichtete Maßnahme unter dem Blickpunkt "Stabilisierung der Persönlichkeit" als medizinische Leistung der Reha ausreichen läßt. Dieser insoweit übereinstimmenden Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an, zumal die Aufzählung einzelner spezifischer Leistungsarten in § 1237 RVO, wie die Worte "insbesondere" und "vor allem" erkennen lassen, nur als beispielhafter Katalog zu verstehen ist, der andere, nicht ausdrücklich genannte medizinische Maßnahmen nicht ausschließt. Der medizinische Reha-Auftrag des Rentenversicherungsträgers ist damit ganz pragmatisch bestimmt. Entgegen der Ansicht der Beklagten erfordert er weder nach dem Wortlaut noch nach dem Sinn der Vorschrift den Einsatz eines Arztes. Ein solcher kann, muß aber nicht zweckmäßig sein. Er kann gerade bei der Behandlung und Betreuung von Suchtkranken nach der im Urteil des BSG vom 12. August 1982 aaO zitierten wissenschaftlichen Meinung zumindest zeitweise nicht geboten, womöglich sogar schädlich sein.
Nach den von der Beklagten nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen und daher für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG liegen diese von der genannten Rechtsprechung des BSG für eine medizinische Reha-Maßnahme iS des § 1237 RVO genügenden Voraussetzungen hier vor. Abgesehen davon, daß danach die Betreuung des Klägers auch durch eine fachärztliche Aufsicht auf Honorarbasis erfolgte, beschränkte sich der Heimaufenthalt nicht auf ein rein "beschützendes Wohnen", sondern knüpfte an die Entgiftungsbehandlung des Klägers an und bereitete diesen durch vielfältige persönlichkeitsstabilisierende Maßnahmen unter Anleitung einer Diplompsychologin sowie weiterer therapeutisch erfahrener Mitarbeiter auf das Endziel der medizinischen Reha - eine dauernde Suchtmittelabstinenz - vor. Insoweit hat die Beklagte - wie ihre Gewährung einer viermonatigen Reha-Maßnahme in Form einer Entwöhnungskur zeigt - ihre Zuständigkeit und eine Erfolgsaussicht bejaht. Nach den weiteren - unangegriffenen - Feststellungen des Berufungsgerichts war indes eine zeitliche Nahtlosigkeit zwischen Entgiftung und Entwöhnung notwendig und schon deswegen muß die streitige Übergangsbetreuung ebenso wie die von der Beklagten anschließend durchgeführte stationäre Entwöhnungsbehandlung als medizinische Reha-Maßnahme angesehen werden.
Daß der Kläger mit der aufgezeigten Therapie im Übergangswohnheim von sich aus begonnen hatte, kann jedenfalls für den hier streitigen Zeitraum nach Eingang seines Reha-Antrags bei der Beklagten am 24. Oktober 1986 (vgl hierzu BSGE 58, 263, 271 mwN) nicht zu seinen Lasten gehen. Seit diesem Zeitpunkt hätte die Beklagte vielmehr berücksichtigen müssen, daß eine nahtlose Betreuung des Klägers im Anschluß an die vorausgegangene Entgiftungsbehandlung zur Vermeidung der sonst - vom LSG ebenfalls unangegriffen festgestellten - Rückfallgefahr bis zum Beginn der - später bewilligten - Entwöhnungsbehandlung notwendig war. Sie durfte sich deshalb nicht darauf beschränken, den vom Kläger zu diesem Zweck gewählten Aufenthalt im sozialtherapeutischen Übergangsheim für ungeeignet bzw nicht zweckmäßig zu halten, sondern hätte dem Kläger zugleich einen Weg aufzeichnen müssen, der die erforderliche Nahtlosigkeit der einzelnen Behandlungsstadien - zB durch Wechsel in ein von der Beklagten als medizinische Reha akzeptiertes Heim - gewährleistet hätte. Mangels solcher Hinweise hat die Beklagte gegen ihre im Rahmen einer - hier grundsätzlich von ihr bejahten - Reha-Verpflichtung bestehende Fürsorgepflicht verstoßen (so übereinstimmend die BSG-Urteile vom 12. August 1982 und 2. Oktober 1984 aaO). Bei dieser Sach- und Rechtslage blieb der Beklagten kein ermessensfreier Raum mehr, die vom Kläger geltend gemachte Kostenübernahme für den streitigen Zeitraum abzulehnen.
Der Revision der Beklagten mußte nach alledem der Erfolg versagt bleiben; sie war zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1655675 |
BSGE, 84 |
RsDE 1991, 77 |