Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsarztrecht. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Statistischer Einzelleistungsvergleich. Fachgruppentypische Einzelleistung. Anwenderquote. Hinreichende Verbreitung der Leistung
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein statistischer Einzelleistungsvergleich setzt voraus, dass davon Leistungen betroffen sind, die für die gebildete Vergleichsgruppe typisch sind und zumindest von einem größeren Teil der Fachgruppenmitglieder regelmäßig in nennenswerter Zahl erbracht werden.
2. Von der Vergleichbarkeit einzelner Leistungen ist insbesondere auszugehen, wenn sie nicht einer bestimmten fachlichen Ausrichtung oder Behandlungsweise zuzuordnen sind, sondern weitgehend unabhängig vom individuellen diagnostischen und therapeutischen Konzept des jeweiligen Arztes bei bestimmten Krankheitszuständen eingesetzt werden.
3. Für die Beurteilung, ob eine Einzelleistung fachgruppentypisch ist, kommt es darauf an, dass die Anzahl der die Leistung ausführenden Ärzte im Verhältnis zur Fachgruppe insgesamt sowie die Anwendungshäufigkeit beim geprüften Arzt und bei den übrigen ausführenden Ärzten einen statistischen Vergleich stets in dem Sinne zulassen, dass im konkreten Fall verlässliche Aussagen zur Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung möglich sind.
4. Für die hinreichende Verbreitung der Leistung in der Fachgruppe ist entscheidend, dass eine Gesamtschau der in den Vergleich einbezogenen Umstände (insbesondere Art und Anwendungsbereich der Leistung, Behandlungsverhalten der Arztgruppe) es ermöglichen muss, noch von einer zuverlässigen Vergleichsbasis sprechen zu können.
Normenkette
SGB V § 70 Abs. 1 S. 2, § 106 Abs. 2 S. 1 Nr. 1; EBM-Ä Nrn. 301, 439, 443, 450; SGG § 54 Abs. 2 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. Juni 2002 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 7. März 2001 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die außergerichtlichen Kosten des Beklagten für das Berufungs- und das Revisionsverfahren zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um Honorarkürzungen aus Anlass von Wirtschaftlichkeitsprüfungen.
Der Kläger ist als Orthopäde zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. In den Quartalen I/1996 bis II/1997 überschritt er bei einzelnen Positionen des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen (EBM-Ä) den Durchschnitt der Vergleichsgruppe um Werte zwischen 52 % und 542 %. Bei unterdurchschnittlicher Fallzahl (zwischen 1070 und 1145 Behandlungsfälle im Quartal) entsprach der Rentneranteil mit gewissen Schwankungen dem Durchschnitt der Vergleichsgruppe. Die Kosten für verordnete Arzneimittel waren unterdurchschnittlich; die Gesamthonoraranforderung des Klägers wich nicht wesentlich vom Vergleichsgruppendurchschnitt ab.
Der Prüfungsausschuss kürzte – soweit noch von Bedeutung – die Honorarforderung des Klägers für Leistungen nach den Nummern 5 EBM-Ä (ärztliche Inanspruchnahme zur Nachtzeit), 72 EBM-Ä (kurze Bescheinigung, Zeugnis auf Verlangen der Krankenkasse), 273 EBM-Ä (Infusion), 301 EBM-Ä (Gelenkpunktion), 439 BM-Ä (Analgesie von Spinalnerven), 443 EBM-Ä (Plexusanalgesie) und 450 EBM-Ä (dokumentierte Überwachung bei Leistung nach Nr 439), wobei nicht alle genannten Gebührenordnungspositionen in allen Quartalen betroffen waren.
Der beklagte Beschwerdeausschuss reduzierte auf die Widersprüche des Klägers die Kürzungen. Er sah die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis hinsichtlich der fachgruppentypischen Leistungen bei einer Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts um 40 %. Bei Leistungen, die von weniger als drei Vierteln der Vergleichsgruppe (60 Orthopäden aus dem Bezirk der zu 1. beigeladenen Kassenärztlichen Vereinigung Pfal ≪KÄV≫) erbracht wurden, nahm der Beklagte das offensichtliche Missverhältnis wegen der etwas geringeren statistischen Sicherheit erst bei einer Überschreitung des Durchschnitts um 80 % an. Einzelleistungen, die lediglich von weniger als einem Viertel der Ärzte der Vergleichsgruppe abgerechnet wurden, wurden nicht statistisch geprüft. Der Beklagte bewertete einzelne Ansätze seitens des Klägers als fehlerhaft (zB betr Nr 72 EBM-Ä) und fand im Übrigen keine nachvollziehbaren Gründe für die hohen Überschreitungen. Die Praxisstruktur des Kläger unterscheide sich nicht von der typischen orthopädischen Praxis.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Im Berufungsrechtszug hat der Beklagte seinen ursprünglichen Bescheid dahin modifiziert, dass die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis bei einer Überschreitung von 100 % gegenüber der Fachgruppe angenommen und eine dahinter zurückbleibende Mehrforderung nicht beanstandet wird. Dieses Teilanerkenntnis hat der Kläger angenommen. Im Übrigen hat das Landessozialgericht (LSG) das sozialgerichtliche Urteil und den angefochtenen Bescheid des Beklagten aufgehoben und diesen verpflichtet, neu zu entscheiden. Es hat den Ausgangspunkt des Beklagten gebilligt, den Kläger mit der Gruppe der Orthopäden im Bereich der zu 1. beigeladenen KÄV Pfalz zu vergleichen. Die Berechtigung des Klägers, die Bezeichnung “Chirotherapie” zu führen, habe den Beklagten nicht verpflichtet, eine engere Vergleichsgruppe zu bilden. Auch Praxisbesonderheiten und kompensatorische Einsparungen lägen nicht vor. Die Bescheide seien jedoch deshalb rechtswidrig, weil bei einem Einzelleistungsvergleich die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis nicht schon bei Überschreitungswerten von 40 % bis 80 % gezogen werden dürfe. Auch die Grenzziehung zum offensichtlichen Missverhältnis bei einer Überschreitung von 100 %, wie sie der Beklagte nunmehr vorgenommen habe, halte einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Die von den Kürzungen betroffenen Leistungen seien von den Ärzten der Vergleichsgruppe nämlich nur selten angesetzt worden. Die niedrigen Ansatzfrequenzen hätten zur Folge, dass schon absolut gesehen geringe Überschreitungen zu erheblichen prozentualen Überschreitungen führten (Urteil vom 20. Juni 2002).
Mit seiner Revision rügt der Beklagte, das Berufungsgericht habe zu Unrecht bei Einzelleistungskürzungen die Grenzziehung zum offensichtlichen Missverhältnis bei einer Überschreitung von 100 % deshalb beanstandet, weil die jeweiligen Leistungen in der Fachgruppe nur selten berechnet würden. Dies stehe im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Die gekürzten Leistungen seien durchweg – mit nur einer Ausnahme – in den streitbefangenen Quartalen von mehr als der Hälfte der Angehörigen der Vergleichsgruppe abgerechnet worden. Allein der Umstand, dass eine große Zahl bzw eine Mehrzahl von Angehörigen der Vergleichsgruppe eine bestimmte Leistung erbringe und abrechne, rechtfertige es, insoweit das Behandlungsverhalten des einzelnen Arztes nach den Grundsätzen der statistischen Vergleichsprüfung zu untersuchen. Auf die durchschnittliche Ansatzhäufigkeit bei den einzelnen Ärzten könne in diesem Zusammenhang nicht abgestellt werden.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. Juni 2002 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 7. März 2001 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Das Urteil des LSG erweise sich als zutreffend, soweit es die Notwendigkeit betone, bei einer Einzelleistungsprüfung Nullabrechner und Wenigabrechner zu eliminieren, und zu gewährleisten, dass eine repräsentative Anzahl von Fachgruppenmitgliedern die verglichenen Leistungen abrechne. Andernfalls könnten keine statistisch relevanten Schlussfolgerungen aus einer rudimentären Datenlage gewonnen werden. Im Übrigen sei § 10 der einschlägigen Prüfvereinbarung nicht zutreffend umgesetzt worden. Nach § 47 Abs 2 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) sei im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung die gesamte Tätigkeit des Vertragsarztes zu berücksichtigen. Wichtige Vergleichsdaten fehlten nach wie vor, insbesondere für den Bereich der Krankenhauseinweisung. Durch die Nichtberücksichtigung dieser Daten verletze der Beklagte seine Amtsermittlungspflicht und unterlasse es zudem, die Voraussetzungen für die gebotene intellektuelle Würdigung und Prüfung des statistischen Zahlenmaterials zu schaffen.
Die Beigeladenen zu 1., 2., 6. und 7. beantragen,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. Juni 2002 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 7. März 2001 zurückzuweisen.
Die Beigeladenen zu 3. – 5. äußern sich nicht.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des beklagten Beschwerdeausschusses ist begründet. Das LSG hat den angefochtenen Bescheid des Beklagten in der Fassung, die er durch das Teilanerkenntnis vom 20. Juni 2002 erhalten hat, zu Unrecht aufgehoben. Dieser Bescheid ist nicht rechtswidrig. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ergeben sich auf der Grundlage der durchgeführten statistischen Vergleichsprüfungen keine durchgreifenden Zweifel daran, dass der Kläger in einzelnen der streitbefangenen Quartale Leistungen nach den Nummern 5, 72, 273, 301, 439, 443 und 450 EBM-Ä in unwirtschaftlichem Ausmaß erbracht und abgerechnet hat. Auch der Umfang der Honorarkürzungen ist nicht zu beanstanden.
Rechtsgrundlage für Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise ist § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V in der hier noch maßgeblichen Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 2266). Danach wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten beurteilt. Nach den hierzu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist die statistische Vergleichsprüfung die Regelprüfmethode (stRspr, vgl zB BSGE 84, 85, 86 = SozR 3-2500 § 106 Nr 47 S 250; SozR aaO Nr 51 S 272; SozR aaO Nr 55 S 306). Die Abrechnungswerte des Arztes werden mit denjenigen seiner Fachgruppe – bzw mit denen einer nach verfeinerten Kriterien gebildeten engeren Vergleichsgruppe – im selben Quartal verglichen. Ergänzt durch die sog intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, ist dies die Methode, die typischerweise die umfassendsten Erkenntnisse bringt (vgl BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 49 S 257; SozR aaO Nr 50 S 263 f; SozR aaO Nr 55 S 306). Ergibt die Prüfung, dass der Behandlungsaufwand des Arztes je Fall bei dem Gesamtfallwert, bei Sparten- oder bei Einzelleistungswerten in offensichtlichem Missverhältnis zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht, dh, ihn in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit (stRspr, vgl zB BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 50 S 263 f; SozR aaO Nr 51 S 272; zuletzt Urteile des Senats vom 11. Dezember 2002 – B 6 KA 1/02 R = SozR 3-2500 § 106 Nr 57 S 319 sowie vom 21. Mai 2003 – B 6 KA 32/02 R ≪zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen≫).
Die arztbezogene Vergleichsprüfung nach Durchschnittswerten ist nicht nur hinsichtlich des – hier gegenüber der Fachgruppe kaum abweichenden – Gesamtfallwerts einschlägig. Unter der Voraussetzung einer hinreichenden Vergleichbarkeit ist eine solche Prüfung gleichermaßen zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit des Ansatzes einzelner Leistungspositionen bzw mehrerer zu Leistungssparten zusammengefasster Leistungspositionen der Bewertungsmaßstäbe heranzuziehen (so schon BSGE 71, 194, 196 = SozR 3-2500 § 106 Nr 15 S 88; BSGE 74, 70, 71 = SozR aaO § 106 Nr 23 S 124; SozR aaO Nr 55 S 306 mwN). Namentlich dann, wenn die Gesamtfallkosten nur wenig über dem Durchschnitt der Fachgruppe liegen, muss bei den in den Blick genommenen Einzelleistungen allerdings geprüft werden, ob sich ein aus den Vergleichszahlen abgeleiteter Anschein der Unwirtschaftlichkeit durch weitere Umstände bestätigen lässt oder mit zu großen Unsicherheiten behaftet ist (vgl zB BSGE 71, 194, 199 = SozR 3-2500 § 106 Nr 15 S 91; SozR aaO Nr 36 S 206). Daraus folgt zwar nicht, dass bei einem im Vergleich zur Fachgruppe unauffälligen Gesamtkostendurchschnitt eine unwirtschaftliche Erbringung von Einzelleistungen ausgeschlossen wäre oder unbeanstandet gelassen werden müsste; ein Vertragsarzt ist nämlich verpflichtet, in dem Sinne umfassend wirtschaftlich zu behandeln, dass das Wirtschaftlichkeitsgebot auch in jedem Teilbereich seiner Tätigkeit gewahrt ist (vgl BSGE 71, 194, 199, 201 = SozR 3-2500 § 106 Nr 15 S 91 und 93; BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 42 S 232). Ein statistischer Einzelleistungsvergleich setzt aber voraus, dass davon Leistungen betroffen sind, die für die gebildete Vergleichsgruppe typisch sind und zumindest von einem größeren Teil der Fachgruppenmitglieder regelmäßig in nennenswerter Zahl erbracht werden (vgl BSGE 71, 194, 196 f = SozR 3-2500 § 106 Nr 15 S 88 f; BSGE 74, 70, 76 = SozR 3-2500 § 106 Nr 23 S 130; BSGE 76, 53, 57 = SozR 3-2500 § 106 Nr 26 S 148). Der Beklagte hat dies hier in beanstandungsfreier Weise im Rahmen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums (s dazu allgemein BSGE 71, 194, 197 = SozR 3-2500 § 106 Nr 15 S 88; BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 31 S 177) angenommen. Sein bei dem statistischen Einzelleistungsvergleich gewonnenes Ergebnis, das Abrechnungsverhalten des Klägers bei den gekürzten Einzelleistungen habe in den streitbefangenen Quartalen zu den Durchschnittswerten seiner Fachkollegen in einem offensichtlichen Missverhältnis gestanden und begründe den Anschein der Unwirtschaftlichkeit, ist frei von Rechtsfehlern.
Die Prüfgremien und das LSG haben festgestellt, dass bei dem Kläger weder Praxisbesonderheiten noch in Bezug auf den Gesamtfallwert bedeutsame kausale kompensatorische Einsparungen vorliegen, die den hohen Ansatz der beanstandeten Gebühren-Nrn rechtfertigen könnten. Entgegen der Ansicht des LSG geben die vom Beklagten zu den Leistungen nach den Nrn 5, 72, 273, 301, 439, 443 und 450 EBM-Ä vorgenommenen Vergleichsberechnungen zwischen dem Abrechnungsverhalten des Klägers und demjenigen der Orthopäden im Bezirk der Beigeladenen zu 1. auch im Übrigen keinen Anlass, seine Unwirtschaftlichkeit in den Quartalen I/1996 bis II/1997 in Frage zu stellen. Sowohl vom Leistungsinhalt der Gebühren-Nummern als auch vom tatsächlichen Abrechnungsverhalten in der Vergleichsgruppe her sind für Orthopäden fachgruppentypische Leistungen geprüft worden, die einem aussagekräftigen statistischen Vergleich zugänglich waren.
Von der Vergleichbarkeit einzelner Leistungen ist insbesondere auszugehen, wenn sie nicht einer bestimmten fachlichen Ausrichtung oder Behandlungsweise zuzuordnen sind, sondern weitgehend unabhängig vom individuellen diagnostischen und therapeutischen Konzept des jeweiligen Arztes bei bestimmten Krankheitszuständen eingesetzt werden (sog ärztliche Grundleistungen); dass die Leistungen nur für eine begrenzte Gruppe von Behandlungsfällen in Betracht kommen, schließt ihren Charakter als Standardleistungen nicht aus (vgl BSGE 71, 194, 197 = SozR 3-2500 § 106 Nr 15 S 89; BSGE 74, 70, 74, 76 = SozR 3-2500 § 106 Nr 23 S 128, 130; BSGE 76, 53, 57 f = SozR 3-2500 § 106 Nr 26 S 148 f; vgl auch: Engelhard in: Hauck/Noftz, SGB V, K § 106 RdNr 222 ff mwN; Clemens in: Schulin ≪Hrsg≫, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 1, 1994, § 35 RdNr 145, 148 f mwN). Das trifft hier für die Grundleistungen nach Nr 5 EBM-Ä (Inanspruchnahme zur Nachtzeit) und Nr 72 EBM-Ä (Bescheinigung) zu, die von den meisten Vertragsärzten erbracht werden. Die Leistungen nach Nummern 273 EBM-Ä (Infusion), 301 EBM-Ä (Punktion), 439 EBM-Ä (Analgesie von Spinalnerven) mit der korrespondierenden Überwachungsleistung nach Nr 450 EBM-Ä sowie 443 EBM-Ä (Plexusanalgesie) gehören zwar nicht zu den Grundleistungen nach Abschnitt B II.2 EBM-Ä, sind aber gleichwohl als fachgruppentypische Leistungen einem Einzelleistungsvergleich zugänglich.
Infusionen, Gelenkpunktionen und Anästhesien im Rahmen schmerztherapeutischer Behandlungen gehören nach der Beurteilung des Beklagten, gegen die sich der Kläger nicht gewandt hat, zum typischen Leistungsspektrum orthopädischer Praxen. Für die Beurteilung, ob eine Einzelleistung fachgruppentypisch ist, kommt es darauf an, dass die Anzahl der die Leistung ausführenden Ärzte im Verhältnis zur Fachgruppe insgesamt sowie die Anwendungshäufigkeit beim geprüften Arzt und bei den übrigen ausführenden Ärzten einen statistischen Vergleich stets in dem Sinne zulassen, dass im konkreten Fall verlässliche Aussagen zur Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung möglich sind. Letztes hängt von Art und Anwendungsbereich der jeweiligen Leistung sowie dem Behandlungsverhalten innerhalb der betreffenden Arztgruppe ab, also von Faktoren, die sich auf Grund von medizinischen Kenntnisse und ärztlichem Erfahrungswissen beurteilen lassen. Die Prüfgremien haben insoweit einen Beurteilungsspielraum, dh ihre Entscheidungen sind rechtmäßig, wenn alle für die Fragestellung erheblichen Tatsachen berücksichtigt wurden und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen sachlich vertretbar sind (vgl BSGE 71, 194, 196 f = SozR 3-2500 § 106 Nr 15 S 88; BSGE 74, 70, 71 ff = SozR 3-2500 § 106 Nr 23 S 124 ff; BSGE 76, 53, 57 f = SozR 3-2500 § 106 Nr 26 S 148 f). In zahlenmäßiger Hinsicht hat der Senat diese Voraussetzungen (noch) bejaht, wenn über 50 % der Mitglieder der Vergleichsgruppe eine Gebühren-Nr mindestens in 5 % bis 6 % aller Behandlungsfälle abgerechnet haben (so BSG, Urteil vom 30. November 1994 – 6 RKa 38/93 = USK 94143; ebenso als Grenzwert: Engelhard, aaO, K § 106 RdNr 223 mwN; vgl auch BSGE 71, 194, 197 = SozR 3-2500 § 106 Nr 15 S 89 ≪6 % der Behandlungsfälle≫). Unter bestimmten Voraussetzungen darf die für eine Vergleichsprüfung ausreichende Anwenderquote die Grenze von 50 % auch unterschreiten, soweit ausgeschlossen werden kann, dass besondere Behandlungsmethoden des betroffenen Arztes etwa wegen der geringen Größe und/oder Inhomogenität der Vergleichsgruppe (dazu näher Senatsurteil B 6 KA 14/02 R vom heutigen Tag) die Aussagekraft der Vergleichsprüfung verringern.
In den streitbefangenen Quartalen ist die Mehrzahl der gekürzten Leistungen von mehr als 50 % der Orthopäden erbracht worden. Soweit die Leistung nach Nr 450 EBM-Ä nur von ca einem Drittel der Vergleichsgruppe abgerechnet worden ist, ist die Besonderheit zu beachten, dass es sich insoweit um eine reine Begleitleistung zur Analgesie nach Nr 439 EBM-Ä handelt. Da diese Grundleistung von ca 50 % der Arztgruppe erbracht worden ist, stellt der Umstand, dass einige Ärzte zwar die Grundleistung erbracht, die Begleitleistung aber nicht berechnet haben, die Aussagekraft der Vergleichsprüfung nicht in Frage.
Entgegen der Ansicht des LSG kann es der Klage nicht zum Erfolg verhelfen, dass die betroffenen Leistungen in den streitigen Quartalen von den Ärzten der Vergleichsgruppe nur in Frequenzen abgerechnet wurden, die zwischen 7,68 % und 1,82 % schwanken. Zwar trifft es – wie dargestellt – zu, dass der Senat bislang erst eine Abrechnungshäufigkeit von ca 5 % bis 6 % der Fälle unbeanstandet gelassen hat. Es ist indessen klarzustellen, dass dieser Wert nicht im Sinne einer absoluten Untergrenze verstanden werden darf. Für die hinreichende Verbreitung der Leistung in der Fachgruppe ist vielmehr entscheidend, dass eine Gesamtschau der in den Vergleich einbezogenen Umstände (insbesondere Art und Anwendungsbereich der Leistung, Behandlungsverhalten der Arztgruppe) es ermöglichen muss, noch von einer zuverlässigen Vergleichsbasis sprechen zu können. Solches kann – wie hier – auch bei darunter liegenden Abrechnungsprozentsätzen der Fall sein.
Das Recht der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung nach statistischen Grundsätzen beruht auf der Vorstellung, dass die überwiegende Mehrheit der Vergleichsgruppe der Ärzte in Bezug auf die geprüften Leistungen wirtschaftlich behandelt, dass die dabei gewonnenen Durchschnittswerte also maßgebliches methodisches Kriterium zum Nachweis der Unwirtschaftlichkeit bei dem betroffenen Arzt sein können (vgl schon BSG SozR 2200 § 368n Nr 3 S 11; stRspr, s zB BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 55 S 307 f). Diese Grundannahme ist dann erschüttert, wenn die Basis des Vergleichs so unsicher ist, dass auf Grund von Zufällen und Unwägbarkeiten die Gefahr besteht, keine aussagekräftigen Ergebnisse mehr gewinnen zu können. Das ist insbesondere dann zu besorgen, wenn ein extrem unterschiedliches individuelles Abrechnungsverhalten nur noch rein rechnerisch zu einem statistisch-mathematischen Mittelwert führt, den in der Realität aber gar kein Arzt bzw – innerhalb großer Vergleichsgruppen – nur einzelne, für die Gesamtgruppe in keiner Weise repräsentative Ärzte abgerechnet haben. Dieses Risiko schlägt besonders dann durch, wenn die Prüfgremien eine sehr kleine Vergleichsgruppe gebildet haben, während bei größeren Gruppen sog “Ausreißer” per se statistisch nicht entscheidend ins Gewicht fallen (vgl Hesral in: Ehlers ≪Hrsg≫, Wirtschaftlichkeitsprüfung, 2. Aufl 2002 RdNr 126; s auch BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 50 S 265 ≪zum Auftreten schwererer und leichterer Behandlungsfälle≫).
Statistische Zufälle zum Nachteil des Klägers sind trotz der teilweise geringen Ansatzfrequenzen der Vergleichsgruppe unwahrscheinlich. Anwendungshäufigkeiten von unter 3 % ergeben sich insbesondere bei den Leistungen nach Nr 5 und Nr 72 EBM-Ä in den Quartalen III/1996 bis II/1997. Hinsichtlich dieser Positionen hat der Beklagte jedoch festgestellt, dass die signifikant hohen Überschreitungswerte des Klägers (bis + 542 %) teilweise auf einer unrichtigen Anwendung der Leistungslegende beruhen. Bezogen auf die Nr 72 EBM-Ä hat der Kläger das selbst eingeräumt. Bei Nr 5 EBM-Ä hat der Beklagte festgestellt, dass diese Leistung (Inanspruchnahme zur Unzeit) häufig im Rahmen von laufenden Behandlungen und bis zu sechs Mal in “kurztägigen” Abständen angesetzt worden ist. Das deutet zumindest – eine korrekte Abrechnung unterstellt – darauf hin, dass der Kläger routinemäßig Dauerpatienten auch vor 8 Uhr oder nach 20 Uhr behandelt hat. Dann ist die Nr 5 EBM-Ä indessen nicht berechnungsfähig. Das ergibt sich aus den amtlichen Erläuterungen zu Nr 5 EBM-Ä, deren Satz 1 bestimmt, dass die Gebühr nach Nr 5 nicht berechnungsfähig ist, wenn Sprechstunden vor 8 oder nach 20 Uhr stattfinden oder Patienten zu diesen Zeiten bestellt werden (vgl Wezel/Liebold, Handkommentar BMÄ, E-GO und GOÄ, Stand Juli 2000, S 9 B-42/1-43). Einen Fehlansatz hat der Beklagte auch hinsichtlich der Nr 273 EBM-Ä (Infusionen) festgestellt, soweit der Kläger diese Leistungen neben Anästhesien zur Schmerztherapie berechnet hat. Das ist gemäß der Präambel zu Abschnitt D I. EBM-Ä (“Anästhesien zur Schmerztherapie”) ausgeschlossen. Dort ist bestimmt, dass in den Leistungen ua nach Nummern 439 und 443 das Anlegen eines intravenösen Zugangs einschließlich der Infusionen nach Nr 273 enthalten ist. Der Beklagte hat insoweit ersichtlich von der ihm zustehenden Befugnis Gebrauch gemacht, in begrenztem Umfang sachlich unberechtigte Abrechnungen im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung zu korrigieren (sog Annexkompetenz; vgl BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 29 S 163 sowie zur fehlenden Kompetenz der KÄV zur Berichtigung unwirtschaftlicher Abrechnungen BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 10 S 45).
Bei den Leistungen nach den Nummern 301 und 443 EBM-Ä liegt die Anwenderfrequenz zwar in einigen betroffenen Quartalen unter 3 %. In anderen Quartalen wird diese Grenze jedoch überschritten, sodass bei der gebotenen Gesamtbetrachtung nichts dafür spricht, dass insoweit statistische Zufälle für die deutlichen Überschreitungen seitens des Klägers ursächlich sind. Bei den übrigen gekürzten Leistungen bewegen sich die Anwenderfrequenzen oberhalb von 4 % bzw sogar von 5 %.
Rechtsfehler zu Lasten des Klägers sind schließlich nicht erkennbar, soweit der Beklagte die Schwelle zur offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit nach der Modifikation seines ursprünglichen Bescheides im Berufungsverfahren bei einer Überschreitung von 100 % gegenüber der Fachgruppe angesetzt hat. Ausführungen des LSG zu der ursprünglichen Grenzziehung bei 40 % bzw 80 % waren daher nicht mehr veranlasst. Der Senat weist insoweit dazu lediglich auf sein Urteil im Revisionsverfahren B 6 KA 45/02 R vom heutigen Tag hin, in dem er bei einer eine ärztliche Grundleistung (Nr 18 EBM-Ä) betreffenden Einzelleistungskürzung die Grenzziehung bei einer Überschreitung von 50 % nicht beanstandet hat. Die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis beim Doppelten des Fachgruppendurchschnitts (= + 100 %) bei Einzelleistungskürzungen ist jedenfalls in der Rechtsprechung des Senats regelmäßig gebilligt worden (vgl BSGE 50, 84, 86 = SozR 2200 § 368e Nr 4 S 8 mwN; BSGE 71, 194, 198 f = SozR 3-2500 § 106 Nr 15 S 90; BSGE 74, 70, 76 = SozR 3-2500 § 106 Nr 23 S 130; ebenso Clemens, aaO, § 35 RdNr 153; Engelhard, aaO, K § 106 RdNr 228 mwN). Davon abzuweichen, besteht kein Anlass.
Formelle Mängel der Verwaltungsentscheidung des Beklagten liegen ebenfalls nicht vor. Seine – die Entscheidung des Prüfungsausschusses bestätigenden – Ausführungen lassen hinreichend erkennen, wie das Behandlungsverhalten des Klägers bewertet wurde und welche Gründe für die getroffene Kürzungsmaßnahme ausschlaggebend waren (vgl zu den entsprechenden Anforderungen BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 41 S 225; Engelhard, aaO, K § 106 RdNr 313). Der pauschale Vorwurf des Klägers, der Beklagte habe wichtige Daten insbesondere zur Krankenhauseinweisung nicht hinreichend gewürdigt, lässt einen rechtlich relevanten Verfahrensmangel nicht erkennen. In der Rechtsprechung des Senats ist seit langem geklärt, dass kompensierende Einsparungen in anderen Leistungsbereichen im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nur insoweit zu berücksichtigen sind, als sie ursächlich auf die Mehraufwendungen in den von der Wirtschaftlichkeitsprüfung betroffenen Leistungsbereichen zurückzuführen sind (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 42 S 231 f; SozR aaO, Nr 43 S 239; SozR aaO, Nr 57 S 325). Ein Arzt, der sich unter diesem Gesichtspunkt auf kompensierende Einsparungen beruft, muss gegenüber den Prüfgremien darlegen, inwieweit dieser ursächliche Zusammenhang besteht. Diesen Anforderungen ist der Kläger nicht nachgekommen. Der Hinweis auf tatsächlich oder vermeintlich fehlende Statistiken reicht insoweit nicht aus. Der Kläger hat nicht vorgetragen, durch welche von den Kürzungen betroffene Leistungen er Einweisungen zur stationären Behandlung vermieden haben will bzw bei welchen Krankheitsbildern er durch ambulante Behandlungen Kosten spart, weil die anderen Ärzte die Patienten ins Krankenhaus eingewiesen hätten.
Es ist schließlich nicht rechtsfehlerhaft, dass der Beklagte bei dem Kläger den gesamten bei den von den Kürzungen betroffenen EBM-Ä-Positionen als unwirtschaftlich angesehenen Mehraufwand – jenseits von + 100 % über dem Fachgruppendurchschnitt – gekürzt hat. Bei der Festlegung der Höhe der Honorarkürzungen als Reaktion auf die festgestellte Unwirtschaftlichkeit steht den Prüfgremien regelmäßig ein Ermessensspielraum zu, der eine ganze Bandbreite denkbarer vertretbarer Entscheidungen bis hin zur Kürzung des gesamten unwirtschaftlichen Mehraufwandes ermöglicht (vgl BSG SozR 2200 § 368n Nr 49 S 168; BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 38 S 212; zuletzt Urteil des Senats vom 21. Mai 2003 – B 6 KA 32/02 R, mwN ≪zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen≫). Letzteres ist im vorliegenden Fall geschehen. Gemäß § 54 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist eine derartige Ermessensentscheidung von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nur daraufhin zu überprüfen, ob die Behörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten und vom Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (zur Geltung im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen vgl zB BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 38 S 211).
Nach diesen Grundsätzen erweist sich die vollständige, noch unter die Grenze zur Ansetzung des offensichtlichen Missverhältnisses von dem Beklagten bei dem Kläger vorgenommene Honorarkürzung bei den unwirtschaftlich erbrachten Leistungen als ermessensfehlerfrei; denn von dem Ermessen ist in einer dem Zweck des § 106 Abs 1 SGB V entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden. Wie der Senat wiederholt betont hat, kommt dem Recht der Wirtschaftlichkeitsprüfung im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung ein hoher Stellenwert zu, weil damit dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs 1 Satz 2 SGB V Ausdruck verliehen wird (vgl auch § 70 Abs 1 Satz 2, § 72 Abs 2, § 75 Abs 1 SGB V). Da aus § 106 Abs 1 SGB V eine Verpflichtung der Träger der gemeinsamen Selbstverwaltung zur Überwachung der Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung folgt, bestehen gegen eine Entscheidung, die dem Arzt die Honorierung des gesamten, zu Recht als unwirtschaftlich angesehenen Mehraufwandes versagt, regelmäßig keine rechtlichen Bedenken (zuletzt Urteil des Senats vom 21. Mai 2003 – B 6 KA 32/02 R, mwN ≪zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen≫).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4 SGG in der bis zum Inkrafttreten des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 17. August 2001 (BGBl I 2144) am 2. Januar 2002 geltenden, hier noch anzuwendenden Fassung. Danach besteht aus den Gründen, die der Senat in seinem Urteil vom 30. Januar 2002 (SozR 3-2500 § 116 Nr 24 S 115 ff) im Einzelnen dargelegt hat, keine Verpflichtung des Klägers, für das Revisionsverfahren neben den außergerichtlichen Kosten des Beklagten auch diejenigen von Beigeladenen zu erstatten.
Fundstellen
Haufe-Index 1090955 |
ArztR 2004, 397 |
GesR 2004, 144 |
GuS 2003, 60 |