Tenor
Die Revision des beklagten Landes gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. März 1987 wird zurückgewiesen.
Das beklagte Land hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Im Prozeß geht es um die Frage, ob ein im Bundesgebiet wohnender polnischer Staatsangehöriger, der einen Asylantrag gestellt hat, vor dessen unanfechtbarer Ablehnung den gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet i.S. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) haben kann.
Die im Jahr 1953 geborene Klägerin ist polnische Staatsangehörige. Sie reiste im August 1985 in das Bundesgebiet ein und stellte unmittelbar danach den Asylantrag. Am 9. Juni 1986 gebar sie in Kassel die Tochter Daria Yvonne. Am 27. Juni 1986 gewährte ihr der Oberbürgermeister der Stadt Kassel eine befristete Aufenthaltsgestattung.
Den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Erziehungsgeld lehnte das Versorgungsamt Kassel mit Bescheid vom 2. Juli 1986 ab, weil die Klägerin im Bundesgebiet nur einen vorübergehenden Aufenthalt habe. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos.
Das Sozialgericht (SG) Kassel hat mit Urteil vom 4. Dezember 1986 unter Aufhebung des Bescheides und des Widerspruchsbescheides das beklagte Land verurteilt, der Klägerin Erziehungsgeld ab 9. Juni 1986 zu gewähren. Das beklagte Land hat Berufung eingelegt. Während des Berufungsverfahrens hat das Verwaltungsgericht (VG) Kassel „den Asylantrag abgelehnt”. Die Stadt Kassel hat der Klägerin „den weiteren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gestattet”. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unbegründet zurückgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Die Klägerin habe auch als Asylbewerberin einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet. Da sie seit anderthalb Jahren im Bundesgebiet weile, liege eine hinreichend lange Verweildauer vor. Sie habe hier den Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse und beabsichtige, auf Dauer im Bundesgebiet zu bleiben. Sie halte sich schließlich auch rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland auf; Asylbewerber seien nicht nur geduldet, sondern hätten einen Anspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung, wenn nicht außergewöhnliche Umstände, die in der verfassungsrechtlichen Güterabwägung von vergleichbarer Bedeutung seien wie das Grundrecht auf Asyl, entgegenstünden. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, daß das Asylverfahren in der Zwischenzeit abgeschlossen worden sei und die Klägerin eine „vorläufige Aufenthaltserlaubnis” erhalten habe. Eine solche Aufenthaltserlaubnis werde erfahrungsgemäß regelmäßig verlängert.
Mit der Revision trägt das beklagte Land vor: Der Asylbewerber habe nur ein vorübergehendes, auf einen bestimmten Bezirk beschränktes Aufenthaltsrecht, aber keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet. Er könne auch – zumindest in den ersten zwei Jahren seines Hierseins – den Gesetzeszweck, nämlich dem berechtigten Elternteil u.a. den Entschluß zu erleichtern, auf Arbeitseinkünfte zu verzichten und so den Arbeitsmarkt vorübergehend zu entlasten, nicht erfüllen, weil er nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 der Arbeitserlaubnisverordnung (AErlaubVO) keine Arbeitserlaubnis erhalte. Im übrigen seien viele Asylbewerber auch nach Ablauf der Fristen für das Arbeitsverbot Sozialhilfeempfänger, erhielten aber die Sozialhilfe durch Sachleistungen und der Höhe nach gekürzt. Erziehungsgeld werde nach § 8 BErzGG nicht auf die Sozialhilfe angerechnet. Wenn aber die subsidiäre Sozialhilfe bei Asylbewerbern nach unten korrigiert werden könne, sei die Aufstockung der Barmittel dieses Personenkreises durch eine andere Sozialleistung sicher nicht gewollt.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie führt aus: Zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG sei sie keine Asylbewerberin mehr gewesen, da das VG Kassel ihre Klage rechtskräftig abgewiesen habe. Für sie als polnische Staatsangehörige bestehe ein Ausweisungshindernis. Das BErzGG habe nicht die Aufgabe, den Arbeitsmarkt zu entlasten. Die besonderen Leistungen des Sozialamtes für Asylbewerber könnten nicht „nach unten korrigiert werden”, es sei lediglich zulässig, einen Teil der Geldleistungen durch Sachleistungen zu ersetzen. Der Unterschied zwischen dem vorliegenden Fall und dem vom Senat im Urteil vom 25. Juni 1987 – 11a REg 1/87 – entschiedenen liege darin, daß die zuständige Ausländerbehörde für die absehbare Zukunft keine Schritte zur Beendigung des Aufenthaltes erwäge.
Während des Revisionsverfahrens hat sich das beklagte Land bereiterklärt, wegen der am 11. März 1987 erteilten Duldungsbescheinigung der Klägerin für den 10. Lebensmonat des Kindes, also für die Zeit vom 9. März bis 8. April 1987, Erziehungsgeld zu gewähren.
II.
Die Revision des beklagten Landes ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben im Ergebnis zu Recht der Klägerin das Erziehungsgeld zugesprochen.
Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin ist § 1 Abs. 1 des BErzGG vom 6. Dezember 1985 (BGBl. I 2154). Das LSG hat ausgeführt, alle Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift lägen vor. Die Revision bezweifelt lediglich, daß die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet habe. Der Senat folgt aber den Vorinstanzen. In der Zeit von der Geburt des Kindes am 9. Juni 1986 bis zum 8. März 1987 hatte die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Kassel.
Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes – Allgemeiner Teil – (SGB I) hat den gewöhnlichen Aufenthalt jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Das gilt auch, wie der Senat im Urteil vom 25. Juni 1987 – 11a REg 1/87 – (DVBl. 1987, 1123) entschieden hat, für das BErzGG.
Der Senat hat in diesem Urteil ferner entschieden, daß Asylbewerber in der Regel keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Dazu hat er ausgeführt: Als mit dem Aufenthalt verbundene Umstände (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I) seien alle – subjektive wie objektive, tatsächliche wie rechtliche, bestehende wie künftig zu erwartende – Umstände zu berücksichtigen, die für den nach der Vorschrift zu ziehenden Schluß im Einzelfall aussagekräftig seien. Asylbewerbern werde der Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nur zeitlich befristet und jedenfalls nicht über die Dauer des Asylverfahrens hinaus gestattet. Deshalb bleibe ungewiß, ob der Asylbewerber sich auch nach dem Ende des Asylverfahrens in der Bundesrepublik aufhalten darf. Es lasse sich sonach nicht erkennen, daß er hier nicht nur vorübergehend verweilt, wie dies § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I voraussetzt. An dieser, für den Regelfall vorgesehenen, Beurteilung ist festzuhalten.
Der Senat hat dabei mitberücksichtigt, daß die – damalige – Klägerin jedenfalls nicht zu einer Personengruppe gehörte, deren Angehörige nach den Erkenntnissen zur Zeit der streitigen Bezugszeiten des Erziehungsgeldes mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch bei einem erfolglosen Ausgang des Asylverfahrens nicht aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen würden. Die Klägerin des vorliegenden Falles gehört jedoch zu einer solchen Personengruppe.
Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin nach rechtskräftiger Ablehnung des Asylantrages eine „vorläufige Aufenthaltserlaubnis” erhalten habe, die erfahrungsgemäß regelmäßig verlängert werde. An diese Feststellung, der die Revision nicht widersprochen hat, ist der Senat gebunden, auch wenn es statt Aufenthaltserlaubnis (zu diesem Begriff vgl. § 2 des Ausländergesetzes und § 29 AsylVfG) Duldungsbescheinigung heißen muß. Dieser Umstand ist hier von wesentlicher Bedeutung.
Die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder hat mit Beschluß vom 26. August 1966 i.d.F. des Beschlusses vom 26. April 1985 angeordnet, daß Staatsangehörige der Ostblockstaaten grundsätzlich nicht wegen illegaler Einreise, illegalen Aufenthalts oder Bezugs von Sozialhilfe auszuweisen und ggf abzuschieben sind. Ostblockstaat i.S. dieses Beschlusses ist auch Polen. Angehörigen der Ostblockstaaten, die sich illegal im Bundesgebiet aufhalten, wird – soweit mit Ausnahme illegaler Einreise, illegalen Aufenthalts und Bezugs von Sozialhilfe keine Ausweisungsgründe nach § 10 Abs. 1 AuslG vorliegen – eine Duldung erteilt, wenn sie einen Asylantrag gestellt haben und dieser unanfechtbar abgelehnt worden ist. Eine befristete Aufenthaltserlaubnis wird erst erteilt, wenn sich der Ausländer seit mindestens zwei Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet aufhält und seinen Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfe bestreiten kann. Die Befolgung dieses Beschlusses hat der Hessische Minister des Innern mit Erlaß vom 26. Juni 1986 (Staatsanzeiger für das Land Hessen S 1505) angeordnet. Die Innenministerkonferenz hat zwar mit Beschluß vom 3. April 1987, bekanntgegeben durch den Erlaß des Hessischen Minister des Innern vom 16. Juli 1987 (StAnz S 1784), den früheren Beschluß „im Verhältnis zu polnischen und ungarischen Staatsangehörigen” aufgehoben; aber abgesehen davon, daß der gewöhnliche Aufenthalt ohnedies aus der Sicht der in Frage kommenden Bezugszeit zu beurteilen ist, betrifft die Neuregelung nicht diejenigen polnischen und ungarischen Staatsangehörigen, die vor dem 1. Mai 1987 in das Bundesgebiet eingereist sind.
Das bedeutet für die Klägerin, daß sie zwar während des ersten Zeitraums (vom Asylantrag bis zu dessen unanfechtbarer Ablehnung) durch den maßgebenden IMK-Beschluß (noch) nicht begünstigt war. Dieser Beschluß – und die darauf zurückgehende ständige Übung der Ausländerbehörden – gab ihr aber schon vom Tag ihres Eintreffens im Bundesgebiet an und somit jedenfalls auch während der in Frage kommenden Bezugszeit des Erziehungsgeldes die Sicherheit, im Bundesgebiet bleiben zu dürfen und nicht abgeschoben zu werden. Für den zweiten Zeitraum (von der Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils an) betrifft sie der IMK-Beschluß unmittelbar.
Damit sind die objektiven Voraussetzungen dafür gegeben, daß die Klägerin in der Bezugszeit im Bundesgebiet nicht nur vorübergehend verweilte. Nach den Beschlüssen der Innenminister-Konferenz von 1966/1985 stellte sich die Lage der Klägerin während des Asylverfahrens so dar, daß sie damit rechnen konnte, entweder als Asylberechtigte mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis (§ 29 Abs. 1 AsylVfg) anerkannt oder nach unanfechtbarer Ablehnung des Asylantrages auf Dauer im Bundesgebiet immerhin geduldet zu werden. Die Aussicht auf einen unangefochtenen Aufenthalt im Bundesgebiet war damit für sie von Anfang an so verfestigt, daß diese Aussicht einer Rechtsstellung im wesentlichen gleichstand. Es handelte sich um eine damals seit 21 Jahren bestehende Praxis, die ihre Grundlage in der Vorschrift des § 14 Abs. 1 Satz 1 des AuslG vom 28. April 1965 (BGBl. I 353) i.d.F. des AsylVfG vom 16. Juli 1982 (BGBl. I 946) hatte.
Daß bei der Klägerin ein Ausnahmefall vorgelegen hätte, der einem dauernden Verbleib im Bundesgebiet entgegenstand, also etwa das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes nach § 10 Abs. 1 AuslG oder die Annahme, die Klägerin könnte ihren Asylantrag zurücknehmen (dadurch wäre eine Voraussetzung des IMK-Beschlusses entfallen), ist weder festgestellt noch von dem Beklagten behauptet worden.
Nach den Feststellungen des LSG besteht kein Zweifel daran daß die Klägerin auch die Absicht hatte, auf Dauer, also nicht nur vorübergehend, im Bundesgebiet zu bleiben.
Lassen sonach die bei der Klägerin vorliegenden Umstände darauf schließen, daß diese in der maßgebenden Zeit in Kassel nicht nur vorübergehend verweilte, so können die von der Revision erwähnten anderen Umstände an der Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts i.S. des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB 1 nichts ändern.
In der Entscheidung vom 25. Juni 1987 hat der Senat unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung bereits hervorgehoben, daß das Erziehungsgeld eine familienpolitische Maßnahme ist. Der von dem Beklagten angeführte arbeitsmarktpolitische Zweck kann allenfalls ein Nebenzweck sein, der die Auslegung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 BerzGG nicht bestimmen darf. Auch die Verbindung des Erziehungsgeldes mit den Leistungen der Sozialhilfe spricht nicht gegen die Zahlung von Erziehungsgeld an die Klägerin. Wenn die Kumulation der beiden Leistungen zu unerwünschten Ergebnissen führen sollte, müßte die Korrektur von der nachrangigen Sozialhilfe vorgenommen werden.
Die Revision war als unbegründet zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen