Entscheidungsstichwort (Thema)
Bemessung der MdE. Unfallfolgen. unfallunabhängige völlige Erwerbsunfähigkeit
Leitsatz (amtlich)
Zur Bemessung der MdE durch die Unfallfolgen bei Eintritt unfallunabhängiger völliger Erwerbsunfähigkeit nach dem Arbeitsunfall.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Köln (Entscheidung vom 21.09.1989; Aktenzeichen S 16 U 62/86) |
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.02.1991; Aktenzeichen L 5 U 156/89) |
Tatbestand
Dem Anspruch des Klägers auf Verletztenrente wegen der Folgen seines Arbeitsunfalls im Jahre 1975 hält die Beklagte entgegen, der Kläger sei bereits im Jahre 1984 völlig erwerbsunfähig geworden, bevor der unfallbedingte Gesundheitsschaden ein rentenberechtigendes Ausmaß erreicht habe.
Der Kläger stürzte am 13. Oktober 1975 bei seiner Beschäftigung als Heizungsingenieur von einer Leiter. Dadurch erlitt er eine Radiusköpfchenfraktur rechts bei Distorsion des rechten Handgelenks. Der Durchgangsarzt leitete das berufsgenossenschaftliche Heilverfahren ein, legte dem Kläger eine Oberarm-Gipsschiene an, verordnete eine Ruhigstellung für vier Wochen und anschließend heilgymnastische Bewegungsübungen.
Im Mai 1985 beantragte der Kläger eine Verletztenrente, weil sich die Folgen seines Unfalls vom 13. Oktober 1975 verschlimmert hätten. Die Beklagte holte daraufhin das orthopädische Gutachten vom 17. September 1985 durch Dr. M und Prof. Dr. D ein, in dem die Gutachter die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) für die Zeit vom 2. November 1975 (Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit) bis zum 30. April 1976 mit 20 vH und für die Zeit danach mit unter 10 vH eingeschätzt hatten. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 7. November 1985 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente ab, weil der Arbeitsunfall nach dem Wegfall der Arbeitsunfähigkeit keine MdE in rentenberechtigendem Grade hinterlassen habe.
Auch vor dem Sozialgericht (SG) Köln und dem Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen ist der Kläger ohne Erfolg geblieben (Urteile vom 21. September 1989 und 5. Februar 1991). Das LSG hat es dahinstehen lassen, ob die Folgen des Arbeitsunfalls über die 13. Woche hinaus zunächst noch bis zum 30. April 1976 eine MdE von 20 vH bedingt hätten. Denn etwaige Rentenansprüche daraus seien verjährt und die Beklagte habe sich auch darauf berufen.
Auch für eine spätere Zeit stehe dem Kläger kein Rentenanspruch zu. Zwar stehe aufgrund der gerichtlichen Sachverständigengutachten fest, daß nach dem Arbeitsunfall im Jahre 1975 die unfallbedingten Beschwerden und Funktionsstörungen durch eine Ellenbogengelenksarthrose langsam zugenommen und zu Beginn (Gutachten Dr. M ) oder im Laufe (Gutachten Prof. Dr. B ) des Jahres 1985 eine MdE in rentenberechtigendem Grade (20 vH) verursacht hätten. Der Kläger könne deswegen jedoch keine Verletztenrente beanspruchen, weil er zu dieser Zeit durch unfallunabhängige Leiden bereits völlig erwerbsunfähig gewesen sei. Aus den Aktenunterlagen ergebe sich, daß der Kläger allein infolge cerebraler Durchblutungsstörungen mit entsprechenden massiven psychischen Ausfällen zumindest seit Mitte des Jahres 1984 nicht mehr in der Lage gewesen sei, regelmäßig eine sinnvolle Tätigkeit auszuüben.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Entscheidend sei, daß der Arbeitsunfall zunächst eine MdE in rentenberechtigendem Grade hervorgerufen habe, die etwa sechs Monate lang angedauert habe. Denn nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Februar 1983 (- 2 RU 25/82 -) sei darauf abzustellen, ob zur Zeit des Unfalls, also durch den Unfall selbst, eine unfallbedingte MdE vorgelegen habe. Dann könne es nicht mehr von Bedeutung sein, ob der Verletzte danach aus anderen Gründen völlig erwerbsunfähig werde. Entscheidend sei allein, daß ein Schaden entstanden sei, der eine MdE rentenberechtigenden Grades verwirklicht habe.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die angefochtenen Urteile des LSG und des SG sowie den angefochtenen Bescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 13. Oktober 1975 Verletztenrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Ein Anspruch auf Rentenzahlung sei nur dann gegeben, wenn vor Eintritt des Unfallschadens nicht eine dauernde völlige Erwerbsunfähigkeit festzustellen sei. Im vorliegenden Falle habe aber eine solche dauernde völlige Erwerbsunfähigkeit vor Eintritt des Unfallschadens vorgelegen. Dabei sei der Zeitpunkt des Eintritts auf jeden Fall der, zu dem eine rentenberechtigende MdE erreicht werde.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Dem Kläger steht dem Grunde nach (§ 130 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), frühestens ab 1. Januar 1985, ein Anspruch auf Verletztenrente zu, weil er nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG in dem angefochtenen Urteil (§ 163 SGG) im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls, als der Unfallschaden erstmals eingetreten ist, noch nicht unfallunabhängig andauernd völlig erwerbsunfähig war und die Unfallfolgen - frühestens seit dem 1. Januar 1985- einen rentenberechtigenden Grad der MdE erreicht haben (§ 581 Abs 1 Nr 2 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫).
Als Verletztenrente wird nach § 581 Abs 1 Nr 2 RVO gewährt, solange infolge des Arbeitsunfalls die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert ist, der Teil der Vollrente, der dem Grade der Minderung seiner Erwerbsfähigkeit entspricht (Teilrente). Zur Bemessung der unfallbedingten MdE ist die bei dem Verletzten vor dem Unfall bestandene Erwerbsfähigkeit zugrunde zu legen. Diese individuelle Erwerbsfähigkeit ist dabei mit 100 vH einzusetzen und die Einbuße an der individuellen Erwerbsfähigkeit durch den Unfall in einem bestimmten Prozentsatz davon auszudrücken (BSG SozR 2200 § 580 Nr 5 mwN). War der Verletzte jedoch schon im Zeitpunkt des Arbeitsunfallereignisses dauernd völlig erwerbsunfähig, so daß er keine Erwerbsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens mehr hatte und keinen nennenswerten Verdienst mehr erzielen konnte (s BSGE 17, 160, 163; 43, 208; vgl § 561 RVO idF vor dem Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz ≪UVNG≫), dann ist es schon begrifflich ausgeschlossen, daß sich der durch den Arbeitsunfall hervorgerufene Gesundheitsschaden noch zusätzlich durch einen unfallbedingten Verlust an Erwerbsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens auswirken kann (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 568d); es fehlt dann eine MdE "infolge des Arbeitsunfalls" iS des § 581 Abs 1 Satz 1 RVO (BSG SozR 2200 § 580 Nr 5).
In allen anderen Fällen, in denen der Verletzte vor dem Arbeitsunfall noch nicht völlig erwerbsunfähig war (individuelle Erwerbsfähigkeit), richtet sich die Haftung des Unfallversicherungsträgers aufgrund des Arbeitsunfalls in dem Entschädigungsverhältnis zum Verletzten ausschließlich, aber auch "ein für alle Mal" (vgl BSGE 43, 208, 210), dh für die ganze Dauer des Entschädigungsverhältnisses, nach dem Gesundheitsschaden, den der Arbeitsunfall hervorgerufen hat. Alle, aber auch nur diejenigen Gesundheitsstörungen, die das Unfallereignis wesentlich bedingt hat, muß der Unfallversicherungsträger nach Maßgabe ihrer späteren Verbesserungen oder Verschlimmerungen entschädigen. Dagegen sind spätere unfallunabhängige Nachschäden von der Entschädigungspflicht ausgeschlossen, selbst wenn sie sich auf die Arbeitsunfallfolgen dahin auswirken, daß sie die unfallbedingte MdE verstärken (s BSGE 27, 142, 145; Brackmann aaO S 568 f; s zur KOV BSGE 41, 70).
Dem kommt entsprechende Bedeutung zu, wenn nach dem Arbeitsunfallereignis unfallunabhängig eine völlige Erwerbsunfähigkeit auftritt. Vermag ein unfallunabhängiger Nachschaden nicht zu einer Erhöhung der unfallbedingten MdE zu führen, so kann er einer solchen Erhöhung auch nicht entgegenstehen, wenn sich die Unfallfolgen wesentlich verschlimmert haben. Es ist deshalb schon im Ansatzpunkt rechtlich verfehlt, für die Bemessung der unfallbedingten MdE zu prüfen, ob im Vergleich zu den Verhältnissen im Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens einer unfallbedingten MdE der Verletzte schon unfallunabhängig völlig erwerbsunfähig war. Stattdessen ist der Vergleich auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls abzustellen.
Bereits der 8. Senat des BSG hat dementsprechend in seinem Urteil vom 24. Februar 1977 (BSGE 43, 208) zur Frage der Berücksichtigung unfallunabhängiger andauernder, völliger Erwerbsunfähigkeit bei der Bemessung der unfallbedingten MdE an die Verhältnisse angeknüpft, die zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls vorlagen, also an den zur Zeit des schädigenden Arbeitsunfallereignisses bestehenden Zustand. Er sei "ein für alle Mal", also unabhängig von späteren unfallunabhängigen erwerbsmindernden Umständen, der maßgebende Vergleichspunkt. Das müsse auch gelten, wenn sich die Unfallfolgen in ihrer Bedeutung für das Ausmaß der Erwerbsfähigkeit später änderten, dh besserten oder verschlechterten. Eine unfallunabhängige "dauernde völlige Erwerbsunfähigkeit" stehe daher dem Rentenanspruch grundsätzlich nur dann entgegen, wenn sie bereits bestanden habe, als der Unfallschaden (erstmals) eingetreten sei (BSGE 43, 208, 210 f). Während diese Rechtsauffassung bereits dem Urteil des 2. Senats vom 30. März 1962 (SozR Nr 1 zu § 561 RVO aF) zugrunde liegt, hat der erkennende Senat diese Frage zum Recht nach Inkrafttreten des UVNG in seinem Urteil vom 23. Februar 1983 - 2 RU 25/82 - in SozR 2200 § 580 Nr 5 noch offengelassen. Er schließt sich nunmehr insoweit der oa Rechtsauffassung des 8. Senats an, die bereits - jedenfalls in bezug auf Arbeitsunfälle - eine Abkehr von der Rechtsprechung des 5. Senats des BSG (BSGE 30, 224 und 35, 232; ebenso KassKomm-Ricke § 581 RdNr 4) bedeutete. Der 5. Senat, der nicht mehr für das Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung zuständig ist, meinte, für die Bemessung der unfallbedingten MdE sei nicht auf den Zeitpunkt des Unfallereignisses, sondern auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem an sich eine rentenberechtigende MdE des Verletzten eingetreten wäre. Falls der Verletzte zu diesem Zeitpunkt, wenn auch nach dem Arbeitsunfallereignis, unfallunabhängig völlig erwerbsunfähig gewesen sei, könne kein Anspruch auf Verletztenrente mehr entstehen. Dieser, schon vom 8. Senat des BSG nicht geteilten Rechtsmeinung, folgt der erkennende Senat aus den oa Gründen jedenfalls für die Frage der Entschädigung von Arbeitsunfallfolgen nicht. Da außer dem erkennenden Senat nur noch der 8. Senat über Streitigkeiten aus dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung zu entscheiden hat, bedarf es keiner Anrufung des Großen Senats des BSG.
Die Beklagte war dem Grunde nach zu verurteilen, Verletztenrente zu zahlen, weil nach den nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG die Unfallfolgen des Klägers - frühestens vom 1. Januar 1985 an - eine MdE von 20 vH bedingen.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 517825 |
BSGE, 177 |