Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. häusliche Krankenpflege. gezielte Bewegungsübungen als Maßnahme der Behandlungspflege. Abgrenzung. Grundpflege. Verbindlichkeit der Richtlinien über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege
Leitsatz (amtlich)
- Gezielte Bewegungsübungen, die den Folgen bestimmter Erkrankungen und nicht nur den Folgen der Bettlägerigkeit entgegenwirken sollen, sind als Maßnahmen der Behandlungspflege im Rahmen der häuslichen Krankenpflege von den Krankenkassen zu gewähren.
- Zur Verbindlichkeit der Abgrenzung von Grund- und Behandlungspflege in den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege (HKP-Richtlinien).
Normenkette
SGB V § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 4, § 37 Abs. 2, § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6, Abs. 7 S. 1; SGB XI § 14
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 1. Juli 2004 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist die Gewährung von häuslicher Krankenpflege. Die 1922 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert und bei der Pflegekasse der Allgemeinen Ortskrankenkasse Bayern pflegeversichert. Seit Juni 1998 erhält sie Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegestufe III, die ebenso wie die häusliche Krankenpflege vom Pflegedienst der Caritas Sozialstation in Neunburg vorm Wald erbracht werden. Sie leidet im Wesentlichen an Polyarthrose, Demenz vom Typ Alzheimer, Osteoporose, den Folgen eines Schlaganfalls, rezidivierenden Druckgeschwüren mit Wundheilungsstörungen und ist deswegen dauernd bettlägerig. Der behandelnde Hausarzt S…. verordnete für das erste Quartal 1999 neben Krankengymnastik auch verschiedene Maßnahmen der Behandlungspflege, darunter einmal täglich Bewegungsübungen. Mit Bescheid vom 19. Februar 1999 lehnte es die Beklagte ab, die Bewegungsübungen gesondert zu bewilligen, weil eine Mobilisierung bereits im Rahmen der Grundpflege erfolge und von der Pflegekasse vergütet werde. Dem Widerspruch der Klägerin, mit dem sie geltend machte, dass die durchgeführten Bewegungsübungen als therapeutische Maßnahmen neben der Mobilisierung im Rahmen der Grundpflege anzusehen seien, half die Beklagte nur insoweit ab, als sie die Kostenübernahme für die Bewegungsübungen erst ab Zugang des Bescheids am 20. Februar 1999 verweigerte (Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 2000).
Dagegen hat die Klägerin Klage erhoben. Während des Klageverfahrens hat die Beklagte am 5. Dezember 2000 einen weiteren Bescheid erteilt, in dem sie ihre Weigerung, die Bewegungsübungen zu vergüten, nunmehr auch auf die seit dem 1. Juli 2000 geltenden Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege (im Folgenden: HKP-Richtlinien) stützte, die Bewegungsübungen im Rahmen der Behandlungspflege nicht vorsähen. Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 5. Juni 2002 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19. Februar 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2000 sowie des Bescheides vom 5. Dezember 2000 verurteilt, die Klägerin von den Kosten der Bewegungsübungen freizustellen. Die dagegen eingelegte Berufung der Beklagten wurde durch Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) vom 1. Juli 2004 nach Einholung schriftlicher Auskünfte der behandelnden Hausärzte zurückgewiesen. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, dass die Klägerin nach den eingeholten Auskünften zusätzlich zur Krankengymnastik und der begleitenden Mobilisation im Rahmen der Grundpflege weitere Bewegungsübungen benötige, um eine angemessene Krankenbehandlung zu erhalten. Derartige zur Bekämpfung der bei ihr vorliegenden Erkrankungen notwendige Maßnahmen seien als Behandlungspflege einzuordnen, für die die Krankenversicherung einzutreten habe. Dem stünden die HKP-Richtlinien nicht entgegen, weil das darin enthaltene Verzeichnis verordnungsfähiger Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege nicht abschließend sei. Die ausgebildeten Pflegekräfte des Pflegedienstes seien auch in der Lage, die ärztlich angeordneten Maßnahmen durchzuführen. Da der Pflegedienst “offensichtlich” mit der Klägerin Stundung vereinbart habe, komme nur eine Verurteilung zur Freistellung von den Kosten in Betracht, wobei es für sachdienlich gehalten werde, alle Quartale einzubeziehen, in denen die Bewegungsübungen von den Hausärzten verordnet worden seien.
Dagegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten. Sie weist darauf hin, dass Bewegungsübungen auch für die weiteren Quartale des Jahres 1999 und des Jahres 2000 verordnet, gegenüber dem Pflegedienst aber jeweils abgelehnt worden seien. Der Pflegedienst leiste Grundpflege ua in Form von “Lagern, Mobilisieren, Betten” drei mal täglich. Das Urteil des LSG verstoße gegen Bundesrecht, weil zum Leistungsumfang der Behandlungspflege nach § 37 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch (SGB V) keine nicht näher spezifizierten Geh- und Bewegungsübungen gehörten, die zur Kontrakturenvermeidung, zur Vermeidung von Dekubitus sowie zur Vorbeugung gegen sonstige Folgen der Bettlägerigkeit durchgeführt würden. Geh- und Bewegungsübungen seien weder vertraglich noch gesetzlich noch durch Richtlinien definiert. Häufig werde bei bettlägerigen Patienten das “Durchbewegen” darunter verstanden. Ein solches “Durchbewegen” möge nützlich sein. Deshalb sei es jedoch keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung, weil es nicht um die Behandlung einer Krankheit iS von § 27 SGB V gehe. Bei der Klägerin sei das “Durchbewegen” allein deshalb erforderlich, weil sie sich auf Grund ihres Alters und der im Wesentlichen altersbedingten Erkrankungen nicht selbstständig aktiv bewegen könne. Es liege deshalb ein auf natürlicher Entwicklung beruhender Schwächezustand, nicht aber eine behandlungsbedürftige Krankheit iS der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Selbst wenn man aber bei der Klägerin das Vorliegen von Krankheiten bejahen würde, fehle es an der konkreten Behandlungsbedürftigkeit im Hinblick auf die Bewegung. Mit den pflegerischen Maßnahmen sei kein Behandlungsziel verbunden. Bewegungsübungen, die gezielt einen therapeutischen Zweck bei einer akuten Krankheit verfolgten, seien nur als Heilmittel in Form von krankengymnastischen Leistungen verordnungsfähig. Eine Versorgungslücke, die es erforderlich mache, Bewegungsübungen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege durchzuführen, liege deshalb nicht vor. Bewegungsübungen ohne konkrete therapeutische Zielrichtung seien entweder im Rahmen der Pflegeversicherung als aktivierende Pflege zu erbringen oder in die Eigenverantwortung des Versicherten nach §§ 1 und 2 SGB V zu verweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 1. Juli 2004 und des Sozialgerichts Regensburg vom 5. Juni 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil und macht geltend, dass die Bewegungsübungen nicht einem auf natürlicher Entwicklung beruhenden Schwächezustand, sondern einer Verschlimmerung der Versteifung der Gelenke, einer Muskelatrophie, Dekubitusgeschwüren und der Gefahr einer Bettlungenentzündung entgegenwirken sollten. Der Pflegedienst habe sie, die Klägerin, auch nicht bloß “durchbewegt”, sondern die Bewegungsübungen nach den Pflegestandards der Diakonie, die allgemein anerkannt seien, durchgeführt. Vor Inkrafttreten der HKP-Richtlinien seien in der Gebührenvereinbarung zum Rahmenvertrag gemäß § 132 SGB V auch Geh- und Bewegungsübungen als Leistungen der häuslichen Krankenpflege enthalten gewesen. Da Behandlungspflegemaßnahmen, die nicht im Zusammenhang mit einer Hilfe bei den Verrichtungen des täglichen Lebens erbracht werden müssen, nicht in die Leistungspflicht der Pflegeversicherung fielen, seien sie als häusliche Krankenpflege zu gewähren. Die Beklagte könne sie, die Klägerin, stattdessen nicht auf krankengymnastische Leistungen als Heilmittel verweisen, weil solche Leistungen nicht mindestens einmal täglich erbracht würden, im Übrigen aber auch wesentlich teurer wären.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung an die Vorinstanz begründet. Die Entscheidung verletzt Bundesrecht, der Senat ist aber zu einer abschließenden Entscheidung des Rechtsstreits nicht in der Lage (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Es fehlt schon an von Amts wegen auch im Revisionsverfahren zu beachtenden Sachurteilsvoraussetzungen. Tenor und Urteilsgründe der angefochtenen Entscheidung lassen nicht erkennen, über welchen Streitgegenstand entschieden worden ist (§ 123 SGG). Insbesondere vermag das Revisionsgericht nicht zu erkennen, über welchen Zeitraum anhand welcher Rechtsnormen das Urteil zu überprüfen ist. Bei Rechtskräftigwerden der angefochtenen Entscheidung bliebe der Umfang der Rechtskraft unklar (§ 141 SGG).
Dem Tenor nach hat das LSG die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 5. Juni 2002 zurückgewiesen. Aber das Urteil des SG leidet bereits an dem Mangel, dass der Umfang der Verurteilung der Beklagten nicht erkennbar ist. Das SG hat die Beklagte verurteilt, die Klägerin von den Kosten der Bewegungsübungen freizustellen. Es hat weder klargestellt, für welche Zeiträume das gilt, noch in welcher Höhe die Freistellung zu erfolgen hat. Die aufgehobenen Verwaltungsakte betrafen einmal den Zeitraum vom 20. Februar bis 30. April 1999 (erstes Quartal), der weiterhin aufgehobene Bescheid vom 5. Dezember 2000 betraf die Ablehnung einer weiteren Leistungsbewilligung für die Zukunft. Im Tatbestand des SG-Urteils werden vier weitere Verordnungen für die vier Quartale des Jahres 2000 und die darüber ergangenen ablehnenden Bescheide erwähnt, diese Bescheide aber nicht ausdrücklich in das Verfahren einbezogen. Das LSG hat den Streitgegenstand nicht näher präzisiert, sondern nur in den Entscheidungsgründen ausgeführt, dass es für sachdienlich gehalten werde, über die Quartale zu entscheiden, in denen Bewegungsübungen verordnet worden seien, zumal auch die Beteiligten keine Einschränkungen gemacht hätten. Es hat nicht darauf hingewirkt, dass die Beteiligten durch sachdienliche Anträge den Streitgegenstand präzisieren (§ 106 SGG); deshalb hat die Klägerin in der Berufungsinstanz nur den Antrag gestellt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Das LSG hätte aber auf einen bezifferten Klageantrag hinwirken müssen. Bei einem Antrag auf Kostenfreistellung handelt es sich ebenso wie bei einem Antrag auf Kostenerstattung um eine Leistungsklage, die der Höhe nach beziffert werden muss. Im Falle geleisteter Aufwendungen ist die Höhe der Aufwendungen zu substantiieren und bei Bestreiten zu belegen; bei einem Befreiungsanspruch gilt nichts anderes. Ohne Bezifferung der Forderung sind die Urteile nicht vollstreckbar. Selbst wenn erwartet werden kann, dass eine öffentlich-rechtliche Körperschaft wie die Beklagte im allgemeinen einem Urteilsspruch auch ohne Vollstreckung nachkommen wird, ist es nicht zulässig, die Gerichte letztlich nur zur Entscheidung einer Rechtsfrage anzurufen und darauf zu vertrauen, dass anschließend der Streitstoff von den Beteiligten ausgeräumt wird.
Dies gilt umso mehr, als es sich bei häuslicher Krankenpflege um Leistungen handelt, die in tatsächlicher Hinsicht im Verlaufe der Zeit erheblichen Änderungen unterliegen können. Die Leistungen werden deshalb auch nicht wie eine Rente im Regelfall auf Dauer bewilligt, sondern nur von Quartal zu Quartal, damit die Notwendigkeit einer Weitergewährung in kurzen Abständen vom verordnenden Arzt und von der bewilligenden Krankenkasse überprüft werden kann. Die Bescheide der Kasse über die jeweilige Weiterbewilligung für ein Quartal werden auch nicht ohne weiteres kraft Gesetzes (§§ 86, 96 SGG) in ein laufendes Widerspruchsverfahren oder Klageverfahren einbezogen (BSG SozR 3-2500 § 37 Nr 5). Im Klageverfahren sind sie vielmehr nur im Wege der Klageerweiterung mit Zustimmung des Gegners oder bei Zulassung durch das Gericht wegen Sachdienlichkeit in das Verfahren einzubeziehen (§ 99 SGG). Dies ist vom Gericht in ausreichender Weise deutlich zu machen, sodass klar wird, über welche Zeiträume entschieden wird, welche Rechtsnormen in welcher Fassung angewandt werden und in welchem Umfang der Klage stattgegeben wird, damit die Beschwer der Beteiligten und der Umfang der Rechtskraft einer Entscheidung festgestellt werden kann.
Das LSG hat die Berufung der Beklagten ohne nähere Begründung als zulässig angesehen. Da es an einer ausdrücklichen Zulassung der Berufung durch das SG fehlt, war die Berufung nur statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 500 Euro überschritten hat (§ 144 Abs 1 Nr 1 SGG). Bei Kosten von 5,85 DM pro Tag für die verordneten Bewegungsübungen wird diese Summe allerdings in etwa zwei Quartalen erreicht, sodass zum Zeitpunkt des Eingangs der Berufung im September 2002 der notwendige Wert des Beschwerdegegenstandes bei sachgerechter Auslegung des Klagebegehrens erreicht gewesen sein dürfte. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG hätte die sachgerechte Antragstellung der Klägerin dahin gehen müssen, sie unter Aufhebung der konkret zu benennenden Bescheide von der bis dahin aufgelaufenen Gesamtforderung des Pflegedienstes in bezifferter Höhe freizustellen.
Der Senat sieht davon ab, im Revisionsverfahren auf eine derartige sachdienliche Antragstellung hinzuwirken, weil nicht auszuschließen ist, dass damit eine im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung (§ 168 SGG) verbunden wäre. Im Übrigen muss die Sache auch aus anderen Gründen an die Vorinstanz zurückverwiesen werden.
Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen nicht aus, die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Freistellungsanspruchs zu bejahen. Das LSG hat in diesem Rahmen zwar ausgeführt, dass die Beteiligten über Kosten streiten, die der Klägerin für einmal täglich erbrachte Bewegungsübungen seit dem 20. Februar 1999 in Rechnung gestellt worden sind. In den Entscheidungsgründen heißt es, “offensichtlich” habe die Caritas mit der Klägerin Stundung vereinbart. Beide Aussagen lassen sich nicht nachvollziehen. Das LSG hat zwar im Verlaufe des Berufungsverfahrens die Rechnungen des Caritas-Pflegedienstes angefordert; diese Rechnungen sind aber jeweils an die Beklagte adressiert. Dass gleich lautende Rechnungen auch an die Klägerin ergangen sind, lässt sich dem Akteninhalt nicht entnehmen. Für eine Stundungsabrede fehlt es an jeglichem Anhaltspunkt. Von einer “Offensichtlichkeit” kann erst recht keine Rede sein.
Das LSG hat es aber nicht nur versäumt festzustellen, dass der Klägerin tatsächlich die erbrachten, von der Beklagten nicht bezahlten Pflegeleistungen in Rechnung gestellt worden sind, sondern auch keine Ausführungen dazu gemacht, ob der Pflegedienst einen Anspruch gegen die Klägerin hat, von dem diese freizustellen wäre. Die bloße Inanspruchnahme der Klägerin durch den Pflegedienst würde allein nicht ausreichen; sie müsste rechtlich verpflichtet sein, die unbeglichenen Rechnungen zu bezahlen. Eine solche Verpflichtung folgt nicht schon aus der Tatsache, dass die beklagte Kasse sich weigert, diese Leistungen zu bezahlen. Die Klägerin ist als Versicherte insoweit nicht gleichsam Ausfallbürge für die Verpflichtung der Beklagten. Ein Befreiungsanspruch gemäß § 13 Abs 3 SGB V kann als Vorstufe eines Erstattungsanspruchs nur dann gegeben sein, wenn sich die Klägerin wegen der Leistungsverweigerung der Beklagten verpflichtet hat, die Leistungen im Rahmen eines privatrechtlichen Pflegevertrages in Anspruch zu nehmen und zu begleichen (vgl dazu Urteil des Senats vom 23. Januar 2003 – BSGE 90, 220 = SozR 4-2500 § 33 Nr 1 RdNr 27 ff), wobei damit durchaus eine Stundungsabrede des Inhalts verbunden sein kann, dass die Zahlung erst fällig wird, wenn endgültig feststeht, dass die Krankenkasse nicht eintritt. Vertragliche Abmachungen irgendwelcher Art lassen sich indessen den Feststellungen des LSG nicht entnehmen.
Aus der tatsächlichen Inanspruchnahme der Leistungen durch die Klägerin allein ergibt sich ebenfalls kein Anspruch des Pflegedienstes auf Bezahlung. Ein Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung nach § 812 Bürgerliches Gesetzbuch könnte sich allein gegen die Beklagte richten, weil die Leistung in vermeintlicher Erfüllung der Sachleistungsverpflichtung der Beklagten an die Beklagte gerichtet gewesen wäre; bei Bestehen der hier streitigen Sachleistungsverpflichtung wäre nur die Beklagte zu Unrecht bereichert, weil sie insoweit durch die Leistung des Pflegedienstes von dieser Verpflichtung befreit worden wäre (vgl dazu Urteil des Senats vom 13. Mai 2004 – B 3 KR 2/03 R – SozR 4-2500 § 132a Nr 1).
Auf die fehlenden Feststellungen kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits an, weil die Klage jedenfalls an weiteren Voraussetzungen eines Befreiungsanspruchs nicht scheitert. Das LSG hat insoweit zutreffend erkannt, dass die Beklagte sich zu Unrecht geweigert hat, die verordneten Bewegungsübungen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege zu bewilligen. Nach § 37 Abs 2 SGB V erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Der Eintritt von Pflegebedürftigkeit iS des Sozialgesetzbuchs – Elftes Buch (SGB XI) schließt diesen Anspruch nicht aus; ausgeschlossen sind dann vielmehr nur Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung, die sonst bei Vorliegen einer entsprechenden Satzungsbestimmung als Leistung der Krankenkasse zulässig wären (§ 37 Abs 2 Sätze 2 bis 4 SGB V). Nach den Feststellungen des LSG können die streitigen Bewegungsübungen nicht durch eine im Haushalt der Klägerin lebende Person erbracht werden, sodass der Anspruch auch nicht durch § 37 Abs 3 SGB V ausgeschlossen wird.
Die streitigen Bewegungsübungen sind entgegen der Auffassung der Beklagten als Maßnahme der Behandlungspflege und nicht als solche der Grundpflege einzuordnen. Was unter Behandlungspflege zu verstehen ist, wird im Gesetz nicht näher definiert. Das Bundessozialgericht (BSG) hat die Behandlungspflege dahingehend umschrieben, dass es sich um Hilfeleistungen handelt, die durch bestimmte Erkrankungen erforderlich werden (krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen) und typischerweise nicht von einem Arzt, sondern von Vertretern medizinischer Hilfsberufe oder auch von Laien erbracht werden (BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 10; BSGE 82, 27, 33 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2). Der Zielrichtung nach müssen die Maßnahmen der Behandlung einer Erkrankung dienen; dazu reicht es aber bereits aus, wenn eine Verschlimmerung verhütet wird oder Beschwerden gelindert werden (§ 27 Abs 1 SGB V). Hingegen gehören Maßnahmen, die dem Eintritt einer Erkrankung vorbeugen sollen, grundsätzlich nicht zum Leistungsauftrag der Krankenversicherung. Solche prophylaktischen Leistungen sieht das Gesetz nur ausnahmsweise als Leistungen der Krankenversicherung vor (vgl §§ 25, 26 SGB V). Primäre Aufgabe der Pflegekassen ist es wiederum, Pflegebedürftigen die Hilfen zu leisten, auf die sie wegen der Schwere der Pflegebedürftigkeit angewiesen sind; die Hilfen sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen wieder zu gewinnen oder zu erhalten (§ 1 Abs 4, § 2 Abs 1 Satz 2 SGB XI). Bei dauerhaft bettlägerigen Versicherten gehört dazu, die Folgen der Bettlägerigkeit und der damit verbundenen Immobilität soweit wie möglich zu verhindern, insbesondere der Gefahr von Druckgeschwüren, Muskelschwund, Knochenschwund und einer so genannten Bettlungenentzündung vorzubeugen. Dies geschieht ua durch regelmäßige aktive Bewegung der Pflegebedürftigen, und wenn dies nicht möglich ist, durch passives Bewegen beim Umlagern oder bei den körperlichen Pflegemaßnahmen, etwa beim Verlassen des Bettes oder bei der Körperreinigung. Derartige passive Mobilisation ist integrierender Bestandteil der Hilfen bei den gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens iS des § 14 SGB XI, die von den Pflegekassen gemäß § 36 Abs 2 SGB XI als Sachleistung erbracht werden müssen und demzufolge nicht in die Leistungspflicht der Krankenkassen fallen.
Die der Versicherten verordneten und erbrachten Leistungen der Mobilisierung gingen nach den Feststellungen des LSG aber über diesen Rahmen hinaus. Das LSG hat aus den Stellungnahmen der behandelnden Ärzte und Krankengymnasten entnommen, dass die Klägerin wegen ihrer schweren Leiden zusätzlich zur Krankengymnastik und der begleitenden Mobilisation im Rahmen der Grundpflege weitere Bewegungsübungen benötigte, um die angemessene Therapie im Rahmen ihrer Rechte aus § 27 Abs 1 SGB V zu erhalten. Es hat allerdings nicht im Einzelnen ausgeführt, welche konkreten Ziele mit den Bewegungsübungen erreicht werden sollten. Nach Darstellung der Klägerin bestanden die Bewegungsübungen darin, entsprechend dem Pflegestandard des Pflegedienstes die großen Körpergelenke, Handgelenke, Finger, Beine, Füße und Zehen “durchzubewegen” und alle Übungen drei- bis fünfmal zu wiederholen. Nach den durchweg gleich lautenden ärztlichen Verordnungen der häuslichen Krankenpflege wurden unter “Diagnose” Dekubitusprophylaxe, Bettlägerigkeit, Demenz, Mobilisationsübungen, Omarthrose, Osteoporose, Polyarthrose, multiple Wundheilungsstörungen und Kontrakturen aufgeführt. Es handelt sich dabei um eine ungeordnete Mischung aus Diagnosen, Zustandsbeschreibungen und erforderlichen pflegerischen Maßnahmen. Das LSG hat sich damit nicht im Einzelnen auseinander gesetzt, sich aber auch nicht gehindert gesehen, zu der Bewertung zu kommen, dass die Bewegungsübungen nicht nur Folgen der Bettlägerigkeit entgegenwirken sollten, sondern die Auswirkungen der vorliegenden Erkrankungen, insbesondere der Polyarthrose, bekämpfen sollten, die zusätzlich zu der mit der Bettlägerigkeit verbundenen Gefahr in einer zunehmenden Versteifung der Gelenke bestehen. Da die Revision gegen diese Einschätzung des LSG keine Revisionsrügen in Form der Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) oder des Überschreitens der Grenzen richterlicher Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) vorgebracht hat, ist sie der rechtlichen Würdigung durch das Revisionsgericht zu Grunde zu legen. Damit dienten die Bewegungsübungen entgegen der Auffassung der Beklagten nicht der bloßen Verhinderung einer Verschlechterung des altersbedingten Schwächezustands, sondern der Behandlung von Krankheitsfolgen.
Die Beklagte beruft sich zu Unrecht darauf, dass die HKP-Richtlinien die Bewegungsübungen nicht vorsähen und solche Therapien nur als krankengymnastische Leistungen in Betracht kämen, die als Heilmittel zum Zwecke der Besserung einer akuten Erkrankung verordnet werden könnten. Die HKP-Richtlinien vom 16. Februar 2000 (BAnz Nr 91 S 8878) regeln zwar unter I Nr 3, dass die in der vertragsärztlichen Versorgung verordnungsfähigen Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege dem der Richtlinie angefügten Listenverzeichnis zu entnehmen seien. Dort nicht aufgeführte Maßnahmen seien nicht als häusliche Krankenpflege verordnungsfähig und dürften von der Krankenkasse nicht genehmigt werden. In der Anlage findet sich nur unter den Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung bei der Leistungsbeschreibung der Körperpflege die Hilfe zur Verbesserung der Mobilität “(im Rahmen der aktivierenden Pflege zB: Aufstehen aus liegender oder sitzender Position in Form von Aufrichten bis zum Stand, Gehen und Stehen, Treppen steigen, Transfer/Umsetzen, Hinsetzen und Hinlegen, Betten eines immobilen Patienten, Lagern, allgemeine Bewegungsübungen)”. Demgegenüber sind bei den Leistungen der Behandlungspflege Bewegungsübungen überhaupt nicht aufgeführt. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass Bewegungsübungen außerhalb von krankengymnastischen Leistungen als Leistungen der Krankenversicherung ausgeschlossen sind. Die HKP-Richtlinien stellen keinen abschließenden Leistungskatalog über die zu erbringenden Leistungen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege dar. Soweit dies aus den einleitenden Formulierungen geschlossen werden könnte, würde eine solche Auslegung von der gesetzlichen Ermächtigung nicht gedeckt. Nach § 92 Abs 1 Satz 1 SGB V beschließen die Bundesausschüsse die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten. Sie sollen insbesondere Richtlinien beschließen über ua die Verordnung von Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, Krankenhausbehandlung, häuslicher Krankenpflege und Soziotherapie (Satz 2 Nr 6 der Vorschrift). Damit ist im Unterschied zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (§ 135 SGB V) und Heilmitteln (§ 138 SGB V) keine Ermächtigung des Bundesausschusses eingeräumt, den Umfang der von den Krankenkassen zu erbringenden Leistungen der häuslichen Krankenpflege abschließend festzulegen. Nach Abs 7 Satz 1 der Vorschrift ist in den Richtlinien “insbesondere” zu regeln (1.) die Verordnung der häuslichen Krankenpflege und deren ärztliche Zielsetzung sowie (2.) die Zusammenarbeit des verordnenden Vertragsarztes mit den Leistungserbringern. Der Auftrag an den Bundesausschuss beschränkt sich – wie es dem Wesen von Richtlinien entspricht – auf die Konkretisierung und Interpretation des Wirtschaftlichkeitsgebots für die Regelfälle der häuslichen Krankenpflege, schließt aber ein Abweichen davon im Einzelfall nicht aus. Für eine Ausgrenzung notwendiger Leistungen aus dem Versorgungsauftrag der Krankenkassen, ihre Zuweisung zum Aufgabenbereich der Pflegekassen oder in die Eigenverantwortung der Versicherten (dh Selbstbeteiligung; dazu Peters in Kasseler Komm § 2 SGB V RdNr 3) – wie es die Beklagte sieht – hat der Bundesausschuss keine Ermächtigung (zum Umfang der Ermächtigung des Bundesausschusses bei Maßnahmen der künstlichen Befruchtung vgl BSGE 88, 62, 67 ff = SozR 3-2500 § 27a Nr 3; bei Maßnahmen der medizinischen Fußpflege vgl BSGE 85, 132, 140 ff = SozR 3-2500 § 27 Nr 12). Demzufolge bleiben Maßnahmen der Behandlungspflege, die im Einzelfall erforderlich und wirtschaftlich sind, auch außerhalb der HKP-Richtlinien in der Leistungsverpflichtung der Krankenkasse, und zwar unabhängig davon, ob es sich um die Behandlung einer akuten oder chronischen Erkrankung handelt. Zur wirksamen Bekämpfung der Folgen bestimmter Erkrankungen für den Bewegungsapparat des Menschen mögen zwar in erster Linie Physiotherapeuten qualifiziert sein; dennoch kann es im Einzelfall zweckmäßig sein, daneben oder an deren Stelle Bewegungstherapien auch durch Pflegedienste durchführen zu lassen. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Notwendigkeit von Bewegungsübungen, die über die übliche Mobilisierung im Rahmen der Grundpflege hinausgehen, ist von der Beklagten nicht bestritten worden; sie ergibt sich auch daraus, dass zusätzlich Leistungen der Krankengymnastik verordnet und von der Beklagten übernommen worden sind. Die Auffassung der Beklagten, die vom Pflegedienst erbrachten Bewegungsübungen dürften nur von entsprechend ausgebildeten Krankengymnasten geleistet und abgerechnet werden, widerspricht dem Wirtschaftlichkeitsgebot. Es bedarf keiner näheren Darlegung, dass die tägliche Durchführung von Bewegungsübungen in der Wohnung der Klägerin durch Krankengymnasten wesentlich kostenaufwendiger wäre als die Leistung des Pflegedienstes. Anhaltspunkte dafür, dass die nach Pflegestandard erfolgenden Bewegungsübungen nicht fachgerecht durch ausgebildete Alten- oder Krankenpfleger ausgeführt werden können, sind nicht ersichtlich und werden auch von der Beklagten nicht aufgezeigt.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1378417 |
BSGE 2005, 205 |
DStR 2005, 1865 |
NWB 2006, 1867 |
NZS 2006, 32 |
SGb 2005, 515 |
BtMan 2005, 220 |