Entscheidungsstichwort (Thema)
Brillen-Ersatzbeschaffung ohne kassenärztliche Verordnung
Leitsatz (amtlich)
Das Bestimmen der Sehschärfe für eine Brillenbeschaffung - Refraktionieren - ist eine handwerklich-technische Leistung und erfordert nicht ärztliches Fachwissen. Sie ist demnach im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung nicht ausschließlich den Kassenärzten vorbehalten.
Das Aufsuchen eines Kassenarztes zur Früherkennung von Krankheiten darf auch nicht mittelbar erzwungen werden.
Demnach rechtfertigt die Möglichkeit, daß bei Gelegenheit der Sehschärfenbestimmung für eine Brillen-Ersatzbeschaffung eine bisher nicht erkannte Augenerkrankung entdeckt wird, nicht den Zwang zur kassenärztlichen Verordnung der Brille.
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Leistungsansprüche der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung - damit auch solche auf Gewährung von Brillen (vgl RVO § 182 Abs 1 Nr 1) - sind in RVO § 182 geregelt. Hier legt das Gesetz den Leistungsumfang fest, besagt jedoch nichts darüber, in welcher Art und Weise die Leistung zu erbringen ist.
2. Die Grundsatzregelung der kassenärztlichen Versorgung, wonach Ärzte und KK zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung der Versicherten und ihrer Angehörigen zusammenwirken (RVO § 368 Abs 1), sowie die Vorschrift des RVO § 368 Abs 2, wonach die kassenärztliche Versorgung die ärztliche Behandlung umfaßt und zu ihr an die Verordnung von Heil- und Hilfsmitteln gehört, lassen ebenfalls nicht eindeutig erkennen, wie die Leistung der KK bei der Ersatzbeschaffung von Brillen konkret zu erbringen ist.
3. Das Maß der Mitwirkung von Kassenärzten an den in RVO § 368 Abs 2 genannten Maßnahmen der Krankenpflege richtet sich, soweit es - wie bei der Brillen-Beschaffung - nicht positiv durch gesetzliche Regeln bestimmt ist, danach, inwieweit der Natur der Sache nach eine ärztliche Betreuung erforderlich ist.
4. Um die Brille als technische Vorrichtung benutzen zu können, muß sie den individuellen physischen Verhältnissen des Benutzers angepaßt sein. Das Anpassen des Gestells ist eine ausschließlich handwerkliche Tätigkeit. Auch die Ermittlung, durch welche Gläser eine vorhandene Fehlsichtigkeit optimal ausgeglichen wird (Refraktion), kann in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerwG und des BGH ein Optikermeister auf Grund seiner Berufsausbildung sachgerecht verrichten.
5. Das Refraktionieren bedarf keiner speziellen wissenschaftlichen Kenntnisse auf dem Gebiet der Medizin, wie es die ärztliche Kunst charakterisiert. Die Ermittlung richtiger Brillengläser ist keine Tätigkeit, die ihrem Wesen nach ärztliche Sachkunde erfordert und deshalb im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung dem Kassenarzt vorbehalten ist.
6. Jedenfalls bei der Ersatzbeschaffung einer Brille kann nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch die Möglichkeit, aus Anlaß der Sehschärfenbestimmung eine bisher unerkannte Augenkrankheit festzustellen, nicht die Notwendigkeit rechtfertigen, eine Verpflichtung des Versicherten anzunehmen, wegen Ersatzbeschaffung einer Brille einen Kassenarzt aufzusuchen.
7. Abgabe einer Ersatzbrille aufgrund einer Sehschärfenbestimmung durch einen Optiker.
Nicht strittig war zwischen den Beteiligten, daß die Erstversorgung mit einer Brille einer kassenärztlichen Verordnung bedarf.
Die Aufzählung der Maßnahmen in RVO § 368 Abs 2, die zur "kassenärztlichen Versorgung" gehören, begründet keinen Ausschließlichkeitsanspruch für die Kassenärzte. Deren Mitwirkung an der kassenärztlichen Versorgung richtet sich vielmehr, sofern sie nicht wie bei der Krankenhauspflege oder der Früherkennung von Krankheiten unter Umständen ganz entfällt, nach dem Maße, wie ärztliches Fachwissen hierbei erforderlich ist. Inwieweit ärztliche Sachkunde beim Verordnen im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung benötigt wird, besteht allerdings ein Kassenarztmonopol.
In Übereinstimmung mit dem BVerwG und dem BGH hält der Senat die Bestimmung der Sehschärfe zur Versorgung mit Brillen zum Ausgleich der Fehlsichtigkeit für eine Leistung, die der Optikermeister aufgrund seiner Ausbildung sachgerecht erbringen kann; sie erfordert nicht ärztliches Fachwissen. Die bloße Möglichkeit, daß anläßlich einer Brillenverordnung eine - bisher unerkannte - Augenkrankheit entdeckt wird, vermag noch nicht eine Verpflichtung der KK zu begründen, ihre Versicherten anläßlich einer Brillen-Ersatzbeschaffung einer von ihnen nicht gewollten Augenuntersuchung zu unterwerfen. Dem berechtigten Interesse der Versicherten wird hinreichend dadurch Genüge getan, daß ihnen die Brillen-Ersatzbeschaffung mit ärztlicher Untersuchung neben der Beschaffung direkt beim Optiker nach freier Wahl zur Verfügung steht.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1967-12-21, § 368 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1965-12-20, Abs. 1 Fassung: 1955-08-17
Tenor
Auf die Revisionen der Beklagten und des Beigeladenen zu 2) wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. Oktober 1971 aufgehoben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24. Januar 1969 zurückgewiesen.
Die Klägerin und der Beigeladene zu 1) haben je zur Hälfte dem Beigeladenen zu 2) die außergerichtlichen Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Betriebskrankenkasse Versicherte und deren mitversicherte Angehörige mit Ersatzbrillen auch ohne kassenärztliche Verordnung - allein auf Grund einer Sehschärfenbestimmung durch einen Augenoptikermeister - versorgen darf.
Die Klägerin erhielt durch Hinweise ihr angehörender Ärzte davon Kenntnis, daß die Beklagte für die Beschaffung von Ersatzbrillen Kostenzusicherungen erteile, auch wenn keine ärztliche Verordnung dafür vorliege. Sie wandte sich deshalb mit einem Schreiben vom 23. Januar 1968 an die Beklagte und forderte diese auf, derartige Kosten nur auf Grund kassenärztlicher Verordnung zu übernehmen. Die Beklagte vertrat demgegenüber in ihrem Schreiben vom 11. Juli 1968 die Auffassung, daß der Anspruch auf eine Ersatzbrille nicht vom Vorliegen einer kassenärztlichen Verordnung abhänge.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte Klage vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhoben mit dem Ziel festzustellen, daß die Beklagte die Kosten für die Ersatzbeschaffung einer Brille nur auf Grund kassenärztlicher Verordnung übernehmen dürfe. Sie ist der Auffassung, daß auch der Ersatz einer Brille vom Arzt verordnet werden müsse, weil nur dieser in der Lage sei, den vorhandenen Zustand und die erforderlichen Maßnahmen zutreffend zu beurteilen, insbesondere bestehende Krankheiten oder Abweichungen vom Normalen zu erkennen. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. Januar 1969): Der bloße Ersatz einer zerstörten und verlorenen Brille bedürfe keiner neuen ärztlichen Verordnung, sofern die Maßwerte aus der Verordnung über die Erstbeschaffung noch vorlägen. Auch wenn bei der Ersatzbeschaffung der Optiker durch Refraktionieren neue Meßwerte ermittele, die sich im Rahmen normaler Veränderungen hielten, könne die Beklagte die Kosten dafür ohne Vorlage einer ärztlichen Verordnung übernehmen.
Mit der gegen dieses Urteil eingelegten Berufung hat die Klägerin ihr Prozeßziel eingeschränkt. Sie hat eine kassenärztliche Verordnung in den Fällen nicht mehr für erforderlich gehalten, in denen nur das Brillengestell oder binnen 6 Monaten nach einer noch ermittelbaren ärztlichen Verordnung nur die Gläser mit unveränderter Stärke ersetzt werden. In diesem Umfang hat sie keine Feststellung mehr begehrt. Sie und der Beigeladene zu 1) haben, gestützt auf ein Rechtsgutachten, die Auffassung vertreten, daß die ihr obliegende Sicherstellung der ärztlichen Versorgung durch Gesetz nach Inhalt und Umfang festgelegt sei und auch die Versorgung mit Heilmitteln umfasse. Der Anspruch des Versicherten könne daher nur auf dem Wege über eine Verordnung durch den Kassenarzt verwirklicht werden. Die Beklagte hat ihre bisherige Auffassung aufrechterhalten und durch drei überreichte Rechtsgutachten gestützt. Sie und der Beigeladene zu 2) sind der Ansicht, der aus § 182 der Reichsversicherungsordnung (RVO) folgende Leistungsanspruch des Versicherten trage die von der Klägerin geforderte Einschränkung nicht. Weder das Gebot der Wirtschaftlichkeit noch der Schutz des Versicherten könnten dazu führen; vielmehr würde damit ein partieller Kurierzwang geschaffen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat das angefochtene Urteil geändert und entsprechend der begehrten Feststellung entschieden (Urteil vom 27. Oktober 1971): Der Versicherte könne eine Versorgung mit Arznei und Heilmitteln nur im Rahmen des Notwendigen beanspruchen. Da die Feststellung und Attestierung dieser Notwendigkeit den Kassenärzten vorbehalten sei, gebe es ohne deren Mitwirkung keine Leistungspflicht und Leistungsbewilligung der Krankenkassen. Das Erfordernis der Mitwirkung werde nicht schon dadurch erfüllt, daß bei der erstmaligen Brillenversorgung die Verordnung eines Kassenarztes vorliege. Eine solche Verordnung wirke nicht für unbegrenzte Zeit, weil sonst die mit ihr festgestellte Notwendigkeit der Gewährung eben des Mittels ihren Sinn verlieren würde. Gleichwohl werde man der Verordnung eine gewisse zeitliche Bestandskraft in der Regel nicht absprechen können. Bei Veränderungen des Sehvermögens sei sie allerdings nicht gegeben, aber auch bei Ersatz einer Brille nach Verlust oder Beschädigung könne von einer noch andauernden Bestandskraft der ersten Verordnung dann nicht mehr ausgegangen werden, wenn inzwischen mehr als 6 Monate verflossen seien.
Gegen dieses Urteil wenden sich die Beklagte und der Beigeladene zu 2) mit der zugelassenen Revision und rügen eine Verletzung der §§ 182, 368 ff RVO. Aus § 368 Abs. 2 RVO folge nicht, daß die Krankenkasse nur bei Mitwirkung eines Kassenarztes Arznei und Heilmittel leisten dürfe. Die Vorschrift grenze lediglich ab, was im Fall einer kassenärztlichen Behandlung noch als eine dem Kassenarzt obliegende Aufgabe anzusehen sei, ohne ihm indes in diesem Umfang ein Monopol verschaffen zu wollen. Für die Gewährung eines Heilmittels komme es lediglich darauf an, ob es objektiv erforderlich und wirtschaftlich vertretbar sei. Das angefochtene Urteil stütze sich auch zu Unrecht auf § 368 e Satz 2 RVO, wonach die Kasse Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich seien und die der Kassenarzt deshalb zu verordnen abgelehnt habe, nicht nachträglich bewilligen dürfe. Diese Vorschrift beabsichtige, das Vertrauensverhältnis zwischen Kassenarzt und Patienten zu stärken. Ein schutzwürdiges Vertrauensverhältnis bestehe aber nicht, wenn der Arzt für die Beschaffung der Ersatzbrille nicht konsultiert worden sei. Die unnötige Einschaltung des Augenarztes verstoße außerdem gegen den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit, zumal die Optiker die Tätigkeit des Refraktionierens zulässigerweise ausübten, wie das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschieden habe. Auch der Bundesgerichtshof (BGH) habe in seinem Urteil vom 4. Februar 1972 (Urteilssammlung für die gesetzliche Krankenversicherung - USK - 7214) entschieden, daß die Sehschärfenbestimmung keine Ausübung der Heilkunde i. S. des § 1 Abs. 2 des Heilpraktikergesetzes sei und daher durch Augenoptiker vorgenommen werden könne.
Die Beklagte und der Beigeladene zu 2) beantragen,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. Oktober 1971 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24. Januar 1969 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin und der Beigeladene zu 1) beantragen,
die Revisionen der Beklagten und des Beigeladenen zu 2) zurückzuweisen.
Sie stützen sich auf das angefochtene Urteil und vertreten die Auffassung, daß zwischen der Verordnung von Arznei und der Verordnung einer Brille kein sachlicher Unterschied bestehe. In beiden Fällen bedürfe es ärztlichen Tätigwerdens. Da die Ursache der Fehlsichtigkeit als Krankheit mannigfaltigster Art sein könnte, sei eine ärztliche Kontrolle vonnöten. Die 6-Monats-Frist grenze den Zeitraum ab, von dem ab sich medizinisch der Augenzustand möglicherweise ändern könne. Aus dem kassenärztlichen System folge das Recht der Kassenärzte auf Mitwirkung bei der Versorgung eines Versicherten. Ein unzulässiger Kurierzwang entstehe dadurch nicht.
II
Die Revisionen der Beklagten und des Beigeladenen zu 2) sind begründet. Die Beklagte ist berechtigt, die Kosten für die Ersatzbeschaffung von Brillen auch ohne kassenärztliche Verordnung zu übernehmen.
Der Senat hat vorab geprüft, ob er im vorliegenden Verfahren mit je einem ehrenamtlichen Richter aus dem Kreis der Krankenkassen und dem der Kassenärzte richtig besetzt ist (vgl. BSG 11, 1; 11, 102). Nach §§ 12 Abs. 3, 33 Satz 2, 40 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) wirken in den Kammern und Senaten für Angelegenheiten des Kassenarztrechts je ein ehrenamtlicher Richter aus den beiden genannten Kreisen mit (§ 12 Abs. 3 Satz 1 SGG), außer, wenn es sich um "Angelegenheiten der Kassenärzte" handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 2 SGG), an denen nur Kassenärzte als ehrenamtliche Beisitzer teilnehmen. Da es im vorliegenden Rechtsstreit darum geht, ob die Krankenkassen verpflichtet sind, ihren Mitgliedern bestimmte Leistungen nur nach kassenärztlicher Mitwirkung zu gewähren, bezieht er sich auf eine Angelegenheit, die über den Selbstverwaltungsbereich der Kassenärzte hinausreicht. Er betrifft die Rechtsbeziehungen zwischen den Krankenkassen und ihren Mitgliedern und darüber hinaus auch den Kassenärzten und deren Vereinigungen. Über diesen Streitgegenstand ist unter Mitwirkung eines ehrenamtlichen Richters aus beiden Kreisen zu entscheiden.
Damit ist auch die Frage des Rechtsweges geklärt. Die Rechtsbeziehungen zwischen den Krankenkassen und ihren Mitgliedern, auf Grund deren die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden, sind ihrer Natur nach öffentlich-rechtlich und gehören zum Bereich der Sozialversicherung. Das gleiche gilt für die Beziehungen zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen, die zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung der Versicherten und ihrer Angehörigen zusammenzuwirken haben (§ 368 Abs. 1 RVO). Für Streitigkeiten aus diesen Rechtsbeziehungen hat das Gesetz den Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit vorgesehen (§ 51 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist zulässig, weil die Klägerin ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat, ob die beklagte Krankenkasse rechtlich verpflichtet ist, ihre Kostenbeteiligung an der Ersatzbeschaffung von Brillen von der Vorlage einer kassenärztlichen Verordnung abhängig zu machen. Da die Klägerin kraft Gesetzes verpflichtet ist, die Rechte der Kassenärzte gegenüber den Krankenkassen wahrzunehmen (§ 368 n Abs. 1 Satz 2 RVO), ist sie legitimiert, deren berechtigte Interessen im Prozeß geltend zu machen. Unabhängig von dem für die Berechnung der Gesamtvergütung gewählten System (vgl. § 368 f Abs. 1 bis 3 RVO) ist es für die Kassenärzte, insbesondere die Augenfachärzte, von nicht unerheblicher wirtschaftlicher Bedeutung, ob sie zu allen Brillen-Ersatzbeschaffungen heranzuziehen sind oder ob das nicht zwingend erforderlich ist. Schon damit ist ihr berechtigtes Interesse an der Feststellung begründet (vgl. BSG 8, 1; Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl. 1973, § 55, Anm. 7 c; Rohwer-Kahlmann, Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl. 1972, § 55, Anm. 2; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl. 1973, S. 240 h III; für das insoweit übereinstimmende verwaltungsgerichtliche Verfahren: BVerwG 2, 229, 231; Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 1971, § 43, Anm. 11; Schunck De Clerck, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl. 1967, § 43, Anm. 3 a). Darüber hinaus ist auch ein berechtigtes Interesse der Klägerin selbst an der Feststellung zu bejahen, und zwar auf Grund der ihr durch § 368 n Abs. 1 Satz 1 RVO auferlegten Verpflichtung. Um die ärztliche Versorgung für die Krankenkassen sicherstellen zu können, ist es für die Beklagte unerläßlich zu wissen, in welchem Umfang die ihr angehörenden Kassenärzte an der Gewährung von Versicherungsleistungen teilzunehmen haben. Die baldige Feststellung ist geboten, weil die Beklagte ihr bisheriges Verhalten - Ersatzbeschaffung von Brillen ohne kassenärztliche Verordnung - fortsetzen will.
Die Leistungsansprüche der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung, auf deren Erfüllungsmodus durch die Feststellung eingewirkt werden soll, sind in § 182 RVO geregelt. Nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO umfaßt der Anspruch auf Krankenpflege die ärztliche Behandlung und die Versorgung mit Arznei sowie mit Brillen, Bruchbändern und anderen kleineren Heilmitteln (vgl. zu der nur aus dem geschichtlichen Zusammenhang zu erklärenden Zuordnung der Brillen zu den "Heilmitteln" BSG 33, 263, 265; in der Regel ist die Brille "Hilfsmittel"). Damit legt das Gesetz zwar die Leistungen fest, die die Krankenkasse erbringen muß. Die Vorschrift besagt jedoch nichts darüber, in welcher Art und Weise das zu geschehen hat, ebensowenig wie der die Krankenpflege beherrschende Grundsatz, daß sie ausreichend und zweckmäßig sein muß, das Maß des Notwendigen jedoch nicht überschreiten darf (§ 182 Abs. 2 RVO). Ein Gebot, die Leistungen ausschließlich auf dem Weg über Kassenärzte zu erbringen, läßt sich weder unmittelbar noch mittelbar aus § 182 RVO herleiten, zumal die kassenärztliche Behandlung selbst nur eine der in Betracht kommenden Leistungen ist (vgl. BSG 23, 176, 180).
Die Grundsatzregelung der kassenärztlichen Versorgung, wonach Ärzte und Krankenkassen zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung der Versicherten und ihrer Angehörigen zusammenwirken (§ 368 Abs. 1 RVO), läßt ebenfalls nicht erkennen, wie die Leistung der Krankenkasse bei der Brillen-Ersatzbeschaffung konkret zu erbringen ist. Hierzu gibt auch die Verdeutlichung in § 368 Abs. 2 RVO nur bedingten Aufschluß, wonach die kassenärztliche Versorgung die ärztliche Behandlung umfaßt (Satz 1) und zu ihr u. a. die Verordnung von Heil- und Hilfsmitteln gehört (Satz 2 idF des § 83 Nr. 41 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte vom 10. August 1972 - BGBl I 1433 -, das erstmalig ausdrücklich die Verordnung von Hilfsmitteln im Katalog der Maßnahmen der kassenärztlichen Versorgung mit anführt). Damit stellt das Gesetz nur klar, daß der Kassenarzt im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung bleibt, wenn er derartige Tätigkeiten verrichtet (vgl. Peters aaO, § 368, Anm. 10 a). Dem entspricht auch § 2 Abs. 1 Satz 2 des Bundesmantelvertrages (Ärzte) idF vom 1. Oktober 1959 - BMV (Ä) -; denn diese Vorschrift stimmt inhaltlich mit § 368 Abs. 2 Satz 2 RVO überein und umschreibt, auf was sich die Gesamtvergütung (§ 368 f Abs. 1 Satz 1 RVO) bezieht.
Ein Ausschließlichkeitsanspruch für die Kassenärzte in dem Sinne, daß die in § 368 Abs. 2 Satz 2 RVO mittelbar angesprochenen Leistungen der Krankenkassen nur unter ihrer Mitwirkung erbracht werden dürften, ist damit nicht begründet (vgl. Heinemann-Liebold, Kassenarztrecht, 4. Aufl. 1971, § 368 RVO, Anm. 11). Das steht insbesondere außer Streit für die Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten. Nach den auf Grund der Ermächtigung des § 181 Abs. 2 Satz 2 RVO vom Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen erlassenen Richtlinien vom 28. April 1971 (Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 111 vom 23. Juni 1971, S. 2, 16) sollen die Vorsorgeuntersuchungen alle diejenigen Ärzte durchführen, welche die vorgesehenen Leistungen auf Grund ihrer Kenntnisse und Erfahrungen erbringen können, nach der ärztlichen Berufsordnung dazu berechtigt sind und über die erforderlichen Einrichtungen verfügen (Kinder-Richtlinien, Teil A, Abs. 5; Krebs-Früherkennungs-Richtlinien, Teil A, Abs. 4). Dementsprechend ist auch der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung in seinem Erlaß vom 25. Mai 1971 (IV a 3 - 577/71) zu den Richtlinien davon ausgegangen, daß sie dazu beitragen, über die an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte hinaus auch eine erforderliche Beteiligung von Ärzten, Krankenhäusern und sonstigen ärztlich geleiteten Einrichtungen zu sichern (vgl. Töns, Krankheitsfrüherkennung 1971, S. 33). Dieser Auffassung ist schließlich auch durch § 10 a des BMV (Ä), insbesondere durch die Bestimmungen der Abs. 2 und 3, Rechnung getragen worden. Ebenso unterliegt es keinem Zweifel, daß die Krankenkassen berechtigt sind, im gegebenen Fall ihren Mitgliedern Krankenhauspflege - die ärztliche (nicht: kassenärztliche) Behandlung einschließt - zu gewähren, ohne zuvor eine kassenärztliche Verordnung einholen zu müssen.
Das Maß der Mitwirkung von Kassenärzten an den in § 368 Abs. 2 RVO genannten Maßnahmen der ambulanten kassenärztlichen Versorgung richtet sich, soweit es nicht positiv durch gesetzliche Regeln bestimmt ist, danach, inwieweit der Natur der Sache nach ärztliche Betreuung erforderlich ist. Diese Mitwirkung ist von unterschiedlicher Intensität: Die Versorgung kann ganz in der Hand des Kassenarztes liegen (ärztliche Behandlung); sie kann aber auch - beim "Verordnen" - nur ein auslösendes, weiterer Ausführung bedürfendes Handeln des Kassenarztes erfordern, dies wiederum unterschiedlichen Grades, sei es völlig bestimmend (z. B. Arznei), sei es anweisend kontrollierend (z. B. orthopädische Fußstützen, vgl. BSG 23, 176, 179), sei es schließlich allgemein richtungweisend (z. B. Bäder, Massagen), wobei die Ausführung anderen Angehörigen der Heilberufe eigenverantwortlich überlassen ist. Soweit jedenfalls ärztliche Sachkunde beim Verordnen benötigt wird, bleibt die kassenärztliche Versorgung grundsätzlich den Kassenärzten vorbehalten. Demgemäß obliegt auch, wie der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 31. Juli 1963 (BSG 19, 270, 274) dargelegt hat, das Verordnen von Arznei ausschließlich den Kassenärzten.
Damit wird das Maß der kassenärztlichen Mitwirkung bei der Versorgung mit Brillen deutlich. Diese Leistung ist komplexer Natur. Um die Brille als technische Vorrichtung benutzen zu können, muß sie den individuellen physischen Verhältnissen des Benutzers angepaßt werden. Das gilt einmal für das Gestell, das zur Kopfform, Augenstellung usw. des Trägers passen muß, und zum anderen für die Gläser, die auf seine Sehfähigkeit abgestellt sein müssen. Das Anpassen des Gestells ist eine ausschließlich handwerkliche Tätigkeit, die dem Optiker seiner Ausbildung nach obliegt.
Auch die Ermittlung, durch welche Gläser eine vorhandene Fehlsichtigkeit optimal ausgeglichen wird, kann der Optikermeister auf Grund seiner Berufsausbildung sachgerecht verrichten. Der Senat stimmt mit dem BVerwG und dem BGH überein (BVerwG 23, 140 ff; BGH, Urteil vom 4. Februar 1972, aaO), daß der Optiker dabei keine Tätigkeit der Heilkunde ausübt, sondern eine handwerklich-technische Leistung erbringt. Das Refraktionieren - d. h. die Feststellung der optischen Augeneinstellung - kann entweder durch Ausprobieren von Brillengläsern verschiedener Arten und Stärken oder durch Verwendung optischer Instrumente durchgeführt werden. Beide Methoden sind jedoch physikalische Meßverfahren zur Bestimmung des Grades der Fehlsichtigkeit des Auges. Dazu bedarf es nicht spezieller wissenschaftlicher Kenntnisse auf dem Gebiet der Medizin, wie sie die ärztliche Kunst charakterisiert. Die Ermittlung der richtigen Gläser ist demnach keine Tätigkeit, die ihrem Wesen nach ärztliche Sachkunde erfordert und deshalb im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung dem Kassenarzt vorbehalten wäre.
Die Notwendigkeit kassenärztlicher Mitwirkung bei der Beschaffung von Ersatzbrillen kann entgegen der Meinung der Klägerin auch nicht damit begründet werden, daß eine aus Anlaß der Sehschärfenbestimmung mögliche - jedoch vom Versicherten nicht ausdrücklich gewünschte - ärztliche Untersuchung bisher unerkannte Augenkrankheiten ans Licht bringen könnte. Dabei wäre zu beachten, daß die bloße, mehr oder weniger weit entfernte Möglichkeit der Krankheitsgefährdung schon nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine solche Mitwirkung jedenfalls nicht auszulösen vermöchte; sie könnte überhaupt nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn eine allgemeine Gefährdung erheblichen Umfangs zu erwarten wäre. Den möglichen Bedenken trägt die Beklagte jedoch bereits dadurch Rechnung, daß sie die Erstversorgung mit einer Brille nur auf Grund kassenärztlicher Verordnung übernimmt. Dabei erfolgt eine Untersuchung, und diese ist zweifellos ein geeignetes Mittel, bestehende oder drohende ernste Augenerkrankungen zu erkennen und sie unter ärztliche Kontrolle zu bringen. Wird dabei keine Augenkrankheit festgestellt, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß bei der Sehschärfenbestimmung für eine Ersatzbrille eine solche Krankheit entdeckt wird, relativ gering. Im übrigen ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß das Vorhandensein einer Sehschwäche und eine Erkrankung des Auges nicht in notwendigem Zusammenhang stehen. Augenkrankheiten treten gleicherweise bei Normalsichtigen wie bei Fehlsichtigen auf.
Wie immer aber auch der Grad der Wahrscheinlichkeit einzuschätzen ist, daß anläßlich der Sehschärfenbestimmung für eine Ersatzbrille ernstere Augenerkrankungen entdeckt werden könnten, kann diese Möglichkeit doch keinesfalls die Notwendigkeit kassenärztlicher Mitwirkung bei der Brillen-Ersatzbeschaffung rechtfertigen. Die Verpflichtung des Versicherten, wegen der Ersatzbeschaffung einer Brille einen Kassenarzt aufzusuchen - die Mitwirkung eines Augenfacharztes fordert die Klägerin selbst nicht -, liefe darauf hinaus, auf indirektem Wege eine Früherkennungsmaßnahme zu erzwingen.
Das widerspräche aber in mehrfacher Hinsicht der Grundstruktur der gesetzlichen Krankenversicherung. Nach § 1545 Abs. 1 Nr. 2 RVO werden Leistungen aus der Krankenversicherung auf Antrag gewährt. Aus dem Antragsprinzip folgt, daß es dem Versicherten überlassen bleibt, nicht nur zu bestimmen, in welchem Fall er überhaupt eine Leistung der Krankenkasse in Anspruch nehmen will, sondern daß er auch die Modalitäten der Leistung auswählen kann, soweit es nach Gesetz und Satzung zulässig und nach den Grundsätzen wirtschaftlicher Verwaltung vertretbar ist. Dieses Freiwilligkeitsprinzip gilt in besonderem Maße für Früherkennungsmaßnahmen. Sie fallen nach der derzeitigen Rechtslage (vgl. §§ 181, 181 a RVO) nur in beschränktem Umfang als Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung an. Das Feld der Augenerkrankungen gehört nicht dazu. Selbst wo jedoch Früherkennungsmaßnahmen vorgesehen sind, hat es der Gesetzgeber beim Angebot bewenden lassen und von jedem direkten oder indirekten Zwang abgesehen.
Überdies wäre die Brillen-Ersatzbeschaffung als Anknüpfungspunkt für eine Früherkennungsmaßnahme ungeeignet, weil sie allen Versicherten - Fehlsichtigen wie Normalsichtigen - gleichermaßen zur Verfügung stehen müßte. Den Interessen der Klägerin an der Erkennung von Augenerkrankungen wird bereits dadurch Rechnung getragen, daß die Beklagte von ihren Mitgliedern dann eine kassenärztliche Verschreibung verlangt, wenn es um die erstmalige Gewährung einer Brille geht. Im übrigen muß es den Mitgliedern der Krankenkasse überlassen bleiben, ob sie bei der Ersatzbeschaffung einen Kassenarzt aufsuchen - eine solche Entscheidung hinzunehmen, ist die Beklagte verpflichtet - oder ob sie die Brille direkt beim Optiker beschaffen wollen.
Den Revisionen der Beklagten und des Beigeladenen zu 2) war daher der Erfolg nicht zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1647047 |
BSGE, 146 |