Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld. alleinstehendes Kind. behindertes Kind. Bezugsdauer. Altersgrenze. 27. Lebensjahr. wesentliche Änderung. Entziehung. Auslegung. verfassungskonforme Auslegung. Regelungslücke. Gleichheitssatz. Schutz der Familie
Leitsatz (amtlich)
Ein alleinstehendes behindertes Kind hat nach Vollendung des 27. Lebensjahrs keinen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst mehr. Die Ungleichbehandlung gegenüber behinderten Kindern, die in den Haushalt der Eltern oder anderer Personen aufgenommen sind, ist nicht verfassungswidrig.
Normenkette
BKGG § 1 Abs. 2 S. 3; BKGG 1996 § 1 Abs. 2 S. 3; BKGG § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 3; BKGG 1996 § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 3; SGB 10 § 48 Abs. 1 S. 1, § 44 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der behinderte Kläger auch nach Vollendung seines 27. Lebensjahres einen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst hat.
Die beklagte Bundesagentur für Arbeit bewilligte dem am 6.10.1976 geborenen Kläger auf seinen Antrag vom 28.5.2001 ab 1.5.2001 nach § 1 Abs 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG damaliger Fassung) Kindergeld für sich selbst. Diese Bewilligung hob sie durch bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 23.10.2003 mit Wirkung ab 1.11.2003 auf, weil der Kläger am 6.10.2003 sein 27. Lebensjahr vollendet habe. Damit könne nach § 1 Abs 2 Satz 3 BKGG ab November 2003 für ihn als alleinstehendes Kind, das wegen einer Behinderung außerstande sei, sich selbst zu unterhalten, kein Kindergeld mehr gewährt werden.
Am 26.1.2004 beantragte der Kläger "die Weiterzahlung des Kindergeldes ab dem Monat 11/03". Diesen Antrag wertete die Beklagte als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X und lehnte ihn ab, weil bei Erlass des Verwaltungsakts vom 23.10.2003 das Recht nicht unrichtig angewandt worden sei (Bescheidvom 2.2.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.2.2004).
Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) Altenburg hat den Bescheid der Beklagten vom 23.10.2003 abgeändert, den Bescheid vom 2.2.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.2.2004 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, "den Anspruch des schwerbehinderten Klägers auf Kindergeld an sich selbst nach dem BKGG über Oktober 2003 (Vollendung des 27. Lebensjahres) dem Grunde nach anzuerkennen und über die Gewährung des Kindergeldes ab dem 1. November 2003 zu entscheiden". Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom21.3.2005) . Es hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Der Anspruch des Klägers auf Kindergeld an sich selbst über die Vollendung des 27. Lebensjahres hinaus ergebe sich zwar nicht aus dem Wortlaut, jedoch aus einer verfassungskonformen Auslegung des § 1 Abs 2 (Satz 3) iVm § 2 Abs 2 (Satz 1) Nr 3 BKGG. Grundsätzlich würden nach dem Kindergeldrecht Zahlungen nur an solche Personen erfolgen, die mit dem Unterhalt von Kindern belastet seien. Ab 1.1.1986 habe der Gesetzgeber auch alleinstehenden Kindern eine Anspruchsberechtigung eingeräumt und zwar bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres. Bei (in den Haushalt der Eltern aufgenommenen) Kindern, die körperlich, geistig und seelisch behindert und dadurch außer Stande seien, sich selbst zu unterhalten, falle der Anspruch auf Kindergeld jedoch nicht mit Vollendung des 27. Lebensjahres weg. Wäre der Kläger bei seinem Vater, dessen Familie oder der mütterlichen Familie aufgenommen worden, würde ein Anspruch auf Kindergeld ohne zeitliche Begrenzung bestehen. Der Gesetzgeber habe die vorliegende Fallkonstellation der alleinstehenden schwerbehinderten Kinder übersehen. Diese würden ohne sachliche Rechtfertigung doppelt benachteiligt. Es sei deshalb eine verfassungskonforme ausweitende Auslegung des § 1 Abs 2 Satz 3 BKGG geboten.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Thüringer Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 24.5.2007). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Der Kläger habe nach § 44 Abs 1 SGB X keinen Anspruch auf Rücknahme des Aufhebungsbescheids vom 23.10.2003, denn dieser sei nicht rechtswidrig gewesen. Das Unterbleiben einer Anhörung vor Erlass des Bescheides sei im Rahmen des § 44 Abs 1 SGB X unbeachtlich. Mit Vollendung des 27. Lebensjahres sei eine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X eingetreten, denn ab diesem Zeitpunkt habe der Kläger nach § 1 Abs 2 Satz 3 BKGG keinen Anspruch auf Kindergeld für sich selbst mehr gehabt. Eine Regelungslücke, wie sie das SG angenommen habe, liege offensichtlich nicht vor. Entgegen dem eindeutigen Wortlaut könne auch keine verfassungskonforme ausweitende Auslegung erfolgen. Die Regelung des § 1 Abs 2 Satz 3 BKGG verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG. Die Anspruchsberechtigung für Kinder, die Vollwaisen seien oder den Aufenthaltsort ihrer Eltern nicht kennen würden, sei mit Wirkung vom 1.1.1986 eingeführt worden. Bis dahin habe der Anspruch auf Kindergeld dem Zweck des Familienlastenausgleichs entsprechend ausschließlich den Eltern zugestanden. Da man die Situation alleinstehender Kinder als "sozial ungerecht" empfunden habe, sei für diesen Personenkreis eine neue Leistung eingeführt worden. Der Gesetzgeber sei im Rahmen seiner weiten Gestaltungsfreiheit nicht verpflichtet gewesen, beide Arten von Kindergeld auch hinsichtlich der Bezugsdauer identisch auszugestalten. Er habe angesichts der Unterschiede zwischen dem den Eltern zustehenden Kindergeld und dem Kindergeld für alleinstehende Kinder den Anspruch für letztere mit Vollendung des 27. Lebensjahres begrenzen dürfen.
Mit der Revision rügt der Kläger, das LSG habe § 1 Abs 2 Satz 3 BKGG rechtsfehlerhaft angewendet. Diese Vorschrift sei insoweit verfassungswidrig, als ein alleinstehendes schwerbehindertes Kind nach Vollendung des 27. Lebensjahres keinen Anspruch auf Kindergeld an sich selbst mehr haben solle. Das SG habe zutreffend festgestellt, dass durch die Einführung eines Kindergeldes für das Kind selbst ein sozialer Notstand elternloser Kinder behoben werden sollte. Dabei habe der Gesetzgeber den Leistungsanspruch bis zum 27. Lebensjahr begrenzen wollen. Er habe jedoch übersehen, dass für schwerbehinderte Kinder, die in häuslicher Betreuung lebten, eine zeitliche Begrenzung nicht vorgesehen sei. Kinder, die außerhalb eines elternmäßigen Betreuungsverhältnisses allein leben müssten und das 27. Lebensjahr vollendet hätten, würden deshalb ohne erkennbaren vernünftigen Grund doppelt benachteiligt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Thüringer LSG vom 24.5.2007 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Altenburg vom 21.3.2005 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor: Das LSG habe § 1 Abs 2 Satz 3 BKGG nicht rechtsfehlerhaft angewendet. Der Wortlaut dieser Rechtsnorm sei eindeutig. § 1 Abs 2 Satz 3 BKGG sei, wie das LSG zutreffend ausgeführt habe, verfassungsrechtlich unbedenklich.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG) .
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet; denn das LSG hat zu Recht das Urteil des SG aufgehoben und die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme des bestandskräftig gewordenen Aufhebungsbescheides vom 23.10.2003 und deshalb - entgegen der Auffassung des SG - ab 1.11.2003 auch keinen Anspruch auf Zahlung von Kindergeld an sich selbst mehr.
Zutreffend sind die Beklagte und die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass als Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers allein § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X (iVm § 18 BKGG) in Betracht kommt. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit ua dann zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Vorschrift ist nicht nur dann anzuwenden, wenn es um die unmittelbare Nichterbringung von Sozialleistungen geht, sondern auch dann zumindest entsprechend heranzuziehen, wenn - wie hier - darüber gestritten wird, ob Sozialleistungen dadurch zu Unrecht vorenthalten wurden, dass eine bewilligte und erbrachte Sozialleistung durch Aufhebungsbescheid (rechtswidrig) mit Wirkung für die Zukunft entzogen worden ist (vgl hierzu BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 19 S 34 f; BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 21 S 40; BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 24 S 55; BSG SozR 3-4100 § 101 Nr 10 S 39 f).
Das LSG hat es zu Recht für unbeachtlich gehalten, dass die Beklagte den Kläger vor Erlass des Bescheides vom 23.10.2003 entgegen § 24 Abs 1 SGB X nicht angehört hat. Denn die unterbliebene Anhörung ist im Rahmen eines Rücknahmeanspruchs nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X nicht zu prüfen. Nach dieser Vorschrift kommt es allein darauf an, ob die vorenthaltenen Sozialleistungen materiell zu Unrecht nicht erbracht worden sind (so schon BSG SozR 1300 § 44 Nr 38 S 108;vgl auch BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 21 S 45).
Das LSG hat das Urteil des SG zu Recht aufgehoben, weil im vorliegenden Fall die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X nicht gegeben sind. Die Entscheidung der Beklagten im Bescheid vom 23.10.2003, die Bewilligung von Kindergeld für den Kläger selbst wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse (Vollendung des 27. Lebensjahres) mit Wirkung für die Zukunft (ab 1.11.2003) aufzuheben, ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Die Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung - wie hier die Bewilligung des Kindergeldes - mit Wirkung für die Zukunft setzt nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X voraus, dass eine wesentliche, dh rechtserhebliche, Änderung in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen im Vergleich zu denjenigen eingetreten ist, die bei seinem Erlass maßgebend waren. Es sind also die Verhältnisse bei Bewilligung des Kindergeldes ab Mai 2001 mit denjenigen bei Erlass des Entziehungsbescheids vom 23.10.2003 zu vergleichen (hierzu zB BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 47 S 102 f; BSGE79 , 223= SozR 3-1300 § 48 Nr 57).
Die Bewilligung von Kindergeld ab Mai 2001 für den Kläger selbst setzte nach § 1 Abs 2 Satz 1 BKGG idF des Art 2 Jahressteuergesetz 1996 vom 11.10.1995 (BGBl I 1250) voraus, dass dieser einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte (Nr 1), Vollwaise war oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kannte (Nr 2) und nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen war (Nr 3). Da der am 6.10.1976 geborene Kläger zum Zeitpunkt der Bewilligung bereits das 21. Lebensjahr vollendet hatte, musste er außerdem noch alternativ die Voraussetzungen des § 1 Abs 2 Satz 2 BKGG iVm § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 2 oder Nr 3 BKGG idF des Art 2 Gesetz zur Familienförderung vom 22.12.1999 (BGBl I 2552) erfüllen. Er musste sich also entweder noch in der Berufsausbildung (Nr 2 Buchst a) oder in Übergangzeiten (Nr 2 Buchst b) befunden haben oder wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande gewesen sein, sich selbst zu unterhalten (Nr 3).
Das LSG hat zu den für die Bewilligung des Kindergeldes maßgebenden tatsächlichen Verhältnissen zwar nur festgestellt, dass die Mutter des Klägers am 15.12.1989 verstorben ist, er seinen Vater nicht kennt und seit dem 22.5.2003 schwerbehindert (Feststellung eines Grades der Behinderung - GdB - von 50) ist. Es hat insoweit nicht festgestellt, ob sich der Kläger seit dem Mai 2001 in Berufsausbildung oder in Übergangzeiten befunden hat oder ob er wegen einer Behinderung außerstande war, sich selbst zu unterhalten. Diese fehlenden Feststellungen führen jedoch nicht zur Aufhebung und Zurückverweisung nach § 170 Abs 2 Satz 2 SGG. Denn selbst wenn dem Kläger von der Beklagten ab Mai 2001 oder ab einem späteren Zeitpunkt rechtswidrig Kindergeld für sich selbst bewilligt worden wäre, ist mit Ablauf des 5.10.2003 (Vollendung des 27. Lebensjahres) eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten, die rechtserheblich und damit wesentlich ist (vgl dazu BSG SozR 3-3300 § 37 Nr 2 S 4 f) .
Anspruch auf Kindergeld für sich selbst hatten in der streitigen Zeit nach § 1 Abs 2 Satz 3 iVm § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG idF des Gesetzes zur Familienförderung vom 22.12.1999 (BGBl I 2252) bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres nur Kinder, die wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande waren, sich selbst zu unterhalten. Jedenfalls mit Vollendung des 27. Lebensjahres (Ablauf des 5.10.2003) waren die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld für sich selbst beim Kläger weggefallen. Ihm stand deshalb nach § 5 Halbsatz 2 BKGG ab dem Folgemonat ein Anspruch auf Kindergeld für sich selbst nicht mehr zu. Die Beklagte ist mithin berechtigt gewesen, wegen einer wesentlichen Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X die Bewilligung des Kindergeldes für den Kläger selbst mit Wirkung für die Zukunft (ab 1.11.2003) aufzuheben.
Zu Recht hat sich das LSG nicht der Auffassung des SG angeschlossen, § 1 Abs 2 Satz 3 iVm § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG sei verfassungskonform erweiternd auszulegen. Mit seiner Entscheidung hat das SG die Grenzen zulässiger Auslegung überschritten. Um die Bedeutung einer Gesetzesvorschrift zu ermitteln, kommen zunächst die herkömmlichen Auslegungsmethoden zum Einsatz. Danach ist auf den Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung) , ihren Zusammenhang (systematische Auslegung), ihren Zweck (teleologische Auslegung) sowie die Gesetzesmaterialien und die Entstehungsgeschichte (historische Auslegung) abzustellen (vglBVerfGE 11, 126, 130; 82, 6, 11; 93, 37, 81; 105, 135, 157; dazu auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl 1995, S 141 ff, 163 ff ) . Dabei sind die konkret einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen. Ist von mehreren Auslegungen nur eine mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar, muss diese gewählt werden (verfassungskonforme Auslegung; vgl etwa BVerfGE 88, 145, 166 f; 93, 37, 81; dazu auch Larenz/Canaris, aaO, S 159 ff). Die Grenzen jeder Auslegung ergeben sich daraus, dass einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht durch Auslegung eine entgegen gesetzte Bedeutung verliehen werden darf (vgl BVerfGE 54, 277, 299 f;59, 330, 334; 93, 37, 81; dazu auch Larenz/Canaris, aaO, S 143).
Aus dem Wortlaut des § 1 Abs 2 Satz 3 iVm § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG ergibt sich bei Menschen, die wegen einer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, eindeutig und unmissverständlich eine zeitliche Begrenzung der Bezugsdauer des Kindergeldes für sich selbst bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres. Der Wortlaut lässt deshalb eine - verfassungskonforme - Auslegung im Sinne der Entscheidung des SG nicht zu, dieser Personengruppe Kindergeld für sich selbst auch über das 27. Lebensjahr hinaus zu gewähren.
Das LSG hat auch zutreffend eine Regelungslücke (im Sinne einer Unvollständigkeit des Gesetzes) verneint, die nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen durch eine analoge Anwendung einer anderen Rechtsnorm zu schließen wäre (vgl BVerfGE 82, 6, 11 ff; 82, 286, 304 f; BFHE 210, 137, 138 f; BAGE 112, 100, 107; aus der Rechtsprechung des erkennenden Senats: BSG SozR 3-5868 § 2 Nr 2 S 14; BSG SozR 4-5868 § 85 Nr 1 RdNr 10; BSG SozR 4-5864 § 3 Nr 1; BSG, Urteil vom 30.8.2007 - B 10 LW 4/06 R, SozR 4-5868 § 30 Nr 1; dazu auch Larenz/Canaris, aaO, S 191 ff).§ 1 Abs 2BKGG ist gemessen an seinem Zweck nicht ergänzungsbedürftig.
Das LSG hat zutreffend ausgeführt, dass es sich beim "Kindergeld für sich selbst" um eine 1986 eingeführte Sonderregelung handelt, mit der die Konzeption im bisherigen Kindergeldrecht durchbrochen wurde, wonach ausschließlich Eltern oder elternähnliche Personen, die ein Kind in ihren Haushalt aufgenommen haben, Anspruch auf Kindergeld hatten ( hierzu BSG SozR 5870 § 2 Nr 8 S 32) . Da die Situation alleinstehender Kinder "als sozial ungerecht empfunden" wurde, sollte eine frühere Initiative (vgl BT-Drucks 10/2563 S 3 f) aufgegriffen und für diese Personengruppe als neue Leistung ein eigenständiges Kindergeld eingeführt werden ( vgl BT-Drucks 10/3369 S 11). Dabei war ua vorgesehen, bei alleinstehenden Kindern, die wegen einer Behinderung außerstande waren, sich selbst zu unterhalten, die Bezugsdauer dieses Kindergelds auf die Zeit bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres zu beschränken (vgl BT-Drucks 10/3369 S 13 zu Nr 3a ≪§ 14 BKGG≫).
Wie das LSG ist auch der erkennende Senat nicht davon überzeugt, dass die unterschiedliche Regelung der Bezugsdauer von Kindergeld für behinderte Kinder, die außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, je nachdem ob sie von den Eltern oder elternähnlichen Personen in deren Haushalt aufgenommen wurden oder alleinstehend sind, gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG verstößt. Die betreffenden Personengruppen werden zwar ungleich behandelt. Eltern oder elternähnlichen Personen stand nämlich nach § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG in der bis zum Inkrafttreten des Steueränderungsgesetzes 2007 vom 19.7.2006 (BGBl I 1652) am1.1.2007geltenden Fassung zeitlich unbegrenzt Kindergeld zu, wenn die Behinderung des Kindes vor Vollendung des 27. Lebensjahres ( ab 1.1.2007: 25. Lebensjahres) eingetreten war (so schon vor der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung: BSGE 44, 106 = SozR 5780 § 2 Nr 5; BSGE 57, 108 = SozR 5870 § 2 Nr 35; zum gleichlautenden § 32 Abs 4 Satz 1 Nr 3 EStG: BFHE 196, 161, 163 f; BFHE 198, 567, 569 f; BFHE 210, 137, 138). Hingegen hatten alleinstehende behinderte Kinder nach § 1 Abs 2 Satz 3 iVm § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG in der bis zum 31.12.2006 geltenden Fassung einen Anspruch auf Kindergeld nur zeitlich begrenzt bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres (ab 1.1.2007: 25. Lebensjahres) . Es gibt jedoch hinreichend gewichtige Gründe, die diese Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten (soauch Irmen in Hambüchen, BEEG-EStG-BKGG Komm, Stand Januar 2006, § 1 BKGG RdNr 55 ff; aA Seewald,Kindergeldrecht, § 1 BKGG RdNr 130).
Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengeren Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Für die Anforderungen an Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen kommt es wesentlich darauf an, in welchem Maß sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken kann. Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, lassen sich nicht abstrakt und allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers geht dann besonders weit, wenn er Lebenssachverhalte verschieden behandelt und die Betroffenen sich durch eigenes Verhalten auf die unterschiedliche Regelung einstellen können. Dagegen sind dem Gesetzgeber umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheiten auswirkt und je weniger der Einzelne nachteilige Folgen durch eigenes Verhalten vermeiden kann. Die aus Art 3 Abs 1 GG folgenden Grenzen sind insbesondere dann überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl BVerfGE 100, 195, 205; 105, 73, 110 f; 107, 27, 45 f; 110, 274, 291; 110, 412, 431; 112, 164, 174; 112, 268, 279; 116, 164, 180; 117, 272, 300 f).
Im Bereich des Sozialrechts, wozu auch das Kindergeld nach dem BKGG gehört (§ 6, § 25 Abs 1, § 68 Nr 9 SGB I), hat der Gesetzgeber grundsätzlich einen weiten Gestaltungsspielraum, insbesondere was die Abgrenzung des begünstigten Personenkreises (hierzu BVerfGE 106, 166, 175 ff; 111, 160, 169 ff = SozR 4-5870 § 1 Nr 1 RdNr 43 ff; 112, 164, 175 f) und die Bezugsdauer der einzelnen Sozialleistung anbelangt. Ein Freiraum steht dem Gesetzgeber auch bei der Entscheidung darüber zu, auf welche Weise er den ihm aufgetragenen Schutz der Familie (Art 6 Abs 1 GG) verwirklichen will. Dabei hat er neben der Familienförderung auch andere Gemeinschaftsbelange zu berücksichtigen und vor allem auf die Funktionsfähigkeit des Ganzen zu achten. Demgemäß lässt sich der Wertentscheidung des Art 6 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip zwar die allgemeine Pflicht des Staates zu einem Familienlastenausgleich entnehmen, nicht aber die Entscheidung darüber, in welchem Umfang und in welcher Weise ein solcher Ausgleich vorzunehmen ist (vgl BVerfGE 106, 166, 177 f; 110, 412, 436; 111, 160, 171 f = SozR 4-5870 § 1 Nr 1 RdNr 53) .
Das Kindergeld ist seit seiner Einführung dazu bestimmt, die wirtschaftliche Belastung, die Eltern durch die Sorge für ihre Kinder entsteht, teilweise auszugleichen (so bereits BVerfGE 11, 105,115; BSGE 35, 113, 114 = SozR Nr 18 zu § 2 BKGG; BSGE 44, 106, 112 = SozR 5870 § 2 Nr 5 S 16; BSG SozR 5870 § 2 Nr 7 S 28; BSG SozR 5870 § 2 Nr 8 S 32 f; BSG SozR 5870 § 3 Nr 6 S 15; BSGE 69, 191, 195 = SozR 3-5870 § 2 Nr 16 S 45; vgl dazu auch BVerfGE 108, 52, 70 f; 111, 160, 172 = SozR 4-5870 § 1 Nr 1 RdNr 54; BVerfGE 112, 164, 176). Demgemäß bestimmt § 6 SGB I: Wer Kindern Unterhalt zu leisten hat oder leistet, hat ein Recht auf Minderung der dadurch entstehenden Belastungen. Den Zweck, kindesbedingte wirtschaftliche Belastungen abzumildern, hat das (steuerrechtliche und sozialrechtliche) Kindergeld auch nach der Neuregelung durch das Jahressteuergesetz 1996 beibehalten. Insbesondere für Eltern oder elternähnliche Personen, die keine Einkommensteuer zu zahlen haben, hat das (sozialrechtliche) Kindergeld nach wie vor die Funktion einer Sozialleistung, die kindesbedingte wirtschaftliche Belastungen teilweise ausgleichen soll.
Entsprechend dieser Zweckbestimmung hat der Gesetzgeber in Erfüllung und Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Schutzauftrages des Art 6 Abs 1 GG (vgl BVerfGE 112, 164, 176 = SozR 4-7410 § 32 Nr 1) Eltern und elternähnlichen Personen, die Kinder, die wegen ihrer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, in ihren Haushalt aufgenommen haben, in § 1 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 und Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG (bzw in § 62 Abs 1 iVm § 63 Abs 1 Satz 1 und § 32 Abs 1 und Abs 4 Satz 1 Nr 3 Einkommensteuergesetz ≪EStG≫) einen zeitlich unbegrenzten Anspruch auf Kindergeld eingeräumt, vorausgesetzt, die Behinderung ist vor Vollendung des 27. Lebensjahres (ab 1.1.2007: 25. Lebensjahres) eingetreten. Haushaltsaufnahme bedeutet in diesem Zusammenhang die Aufnahme in eine Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und Erziehungsverhältnis, das grundsätzlich neben dem örtlich gebundenen Zusammenleben auch Zuwendungen materieller (Versorgung, Unterhaltsgewährung) und immaterieller Art (Fürsorge und Betreuung) voraussetzt (dazu schon BSGE 20, 91, 93 = SozR Nr 10 zu § 2 BKGG; BSGE 25, 109, 111; 29, 292, 293 = SozR Nr 19 zu § 1262 RVO; BSGE 33, 105, 106 f = SozR Nr 45 zu § 1267 RVO; BSG SozR 2200 § 1262 Nr 14 S 40; BSG SozR 5870 § 3 Nr 6 S 15; vgl auch BFHE 195, 564, 566) . Danach gehört ein Kind jedenfalls dann zum Haushalt einer Person, wenn es dort auf Dauer wohnt, versorgt und betreut wird, sodass es sich in deren Obhut befindet.
Mit der Einführung eines Kindergeldes für ein alleinstehendes Kind selbst (§ 1 Abs 2 BKGG) ab 1.1.1986 verfolgte der Gesetzgeber demgegenüber einen anderen Zweck als den teilweisen Ausgleich kindesbedingter wirtschaftlicher Belastungen. Er wollte aus sozialen Erwägungen für alleinstehende Kinder eine neue eigenständige (Sozial-)Leistung einführen, weil diese keine kindergeldberechtigten Bezugspersonen (im vorgenannten Sinne) haben (vgl BT-Drucks 10/2563 S 3 f; BT-Drucks 10/3369 S 11; BT-Drucks 13/1558 S 16; dazu auch BSG SozR 3-5870 § 1 Nr 1 S 2; zur fehlenden Anspruchsberechtigung von alleinstehenden Vollwaisen vor dem 1.1.1986: BSG SozR 5870 § 2 Nr 8). Es handelt sich demnach um eine allein im BKGG enthaltene Sonderregelung, die abweichend vom dem Grundsatz, dass (sozialrechtliches und steuerrechtliches) Kindergeld nur Eltern oder elternähnlichen Personen gewährt wird, die Kinder in ihren Haushalt aufgenommen haben, eine Zahlung an das Kind selbst vorsieht.
Da ein alleinstehendes behindertes Kind, das außerstande ist, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, in aller Regel ohnehin auf Leistungen der öffentlichen Hand angewiesen ist, stand dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung dieser Sonderregelung - wie bei jeder gewährenden Staatstätigkeit - ein weiter Gestaltungsspielraum zu; dabei hatte er lediglich das Sozialstaatsprinzip, nicht jedoch mangels Familie die Wertentscheidung des Art 6 Abs 1 GG zu beachten (zum Familienbegriff iS des Art 6 Abs 1 GG als Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern: BVerfGE 80, 81, 90) . Er konnte deshalb bei alleinstehenden behinderten Kindern, die außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, abweichend von der Regelung für behinderte Kinder, die in der Obhut von Eltern oder elternähnlichen Personen sind, eine zeitliche Begrenzung der Bezugsdauer vorsehen. Dass der Gesetzgeber hierbei zunächst an die Vollendung des 27. Lebensjahres angeknüpft hat, ist nicht sachwidrig, denn nur bis zu dieser Altersgrenze wird unter bestimmten weiteren Voraussetzungen typisierend davon ausgegangen, dass wegen eines Erwerbshinderungsgrundes (vgl BSG SozR 4-2600 § 48 Nr 2 RdNr 11) bei Kindern eine Unterhalts- und Betreuungssituation vorliegt, also eine spezielle Bedarfslage und Schutzbedürftigkeit von Kindern besteht (zur Berücksichtigung dieser Differenzierungskriterien: BVerfGE 110, 412, 436) .
Auch andere steuerliche Vergünstigungen und Sozialleistungen für behinderte Kinder, die außerstande sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, enden mit dem Eintritt dieser Altersgrenze bzw setzen voraus, dass die Behinderung bis zur Vollendung dieser Altersgrenze eingetreten ist (Erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten iS des § 4 f Satz 1 EStG; Sonderausgabenabzug für Betreuungsaufwendungen iS des § 10 Abs 1 Nr 8 Satz 1 EStG; Waisenrente iS des § 48 Abs 4 Satz 1 Nr 2 Buchst d SGB VI, iS des § 67 Abs 3 Satz 1 Nr 2 Buchst d SGB VII und iS des § 45 Abs 3 Satz 1 Buchst d BVG). So wurde beispielsweise auch bei Waisenrenten die Altersbegrenzung bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres als verfassungsgemäß angesehen, ua deshalb, weil die nicht-typische Gruppe der behinderten Waisen, die das 27. Lebensjahr vollendet haben und sich selbst nicht unterhalten können, andere Leistungen und Hilfsmaßnahmen in Anspruch nehmen kann (vgl BVerfGE 40, 121, 131 ff, 136 f = SozR 2400 § 44 Nr 1 S 1 ff, 4 f; BSG SozR 3-2600 § 48 Nr 7 S 43).
Diese Erwägungen gelten gleichermaßen auch für die Altersbegrenzung beim Kindergeld für alleinstehende behinderte Kinder nach § 1 Abs 2 Satz 3 iVm § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG. Der Gesetzgeber war demnach aus Gründen der Gleichbehandlung nicht gehalten, für alleinstehende und für in den Haushalt der Eltern oder elternähnlicher Personen aufgenommene behinderte Menschen, die sich selbst nicht unterhalten können, die gleiche Bezugsdauer des Anspruchs auf Kindergeld festzulegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2158005 |
FamRZ 2009, 1139 |
SGb 2009, 413 |
SGb 2010, 217 |
br 2009, 185 |