Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Der Kläger erlitt am 16. September 1977 einen Arbeitsunfall. Die Beteiligten streiten darüber, ob er ab 14. Februar 1978 Anspruch auf Zahlung einer Verletztenteilrente hat, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits aus unfallunabhängiger Ursache völlig erwerbsunfähig war.
Der Kläger arbeitete bis zu seinem Unfall als Maurer. Er war bis zum 14. Februar 1978 wegen der Folgen des Unfalles arbeitsunfähig. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) hatte sich bis dahin auf 20 v.H. gebessert. Gleichzeitig war in der Zeit zwischen dem Unfallereignis und dem 14. Februar 1978 völlige Erwerbsunfähigkeit durch unfallfremde Leiden eingetreten. Der Träger der Rentenversicherung gewährte ab 1. November 1978 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Die Beklagte lehnte die Zahlung einer Verletztenrente ab, weil die Unfallfolgen ausgeheilt seien (Bescheid vom 25. April 1980). Diesen Bescheid hat das Sozialgericht (SG) geändert. Es hat Gesundheitsstörungen als Folge des Unfalles festgestellt und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 14. Februar 1978 Verletztenrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente zu zahlen (Urteil vom 9. Juni 1981). Unerheblich sei, so heißt es in den Urteilsgründen, daß der Kläger zur Zeit des Rentenbeginns völlig erwerbsunfähig gewesen sei. Es sei auf den Zeitpunkt des Unfalles abzustellen. Zu dieser Zeit sei seine Erwerbsfähigkeit noch nicht erkennbar eingeschränkt gewesen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 17. Februar 1982). Aus dem im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsprinzip folge, daß der Unfallzeitpunkt für die Beantwortung der Frage maßgebend sei, ob Verletztenrente bei bestehender unfallunabhängiger völliger Erwerbsunfähigkeit gezahlt werden müsse. Trete vorher, also in der Zeit vom Unfall bis zum Beginn völliger Erwerbsunfähigkeit eine durch Unfallfolgen hervorgerufene MdE ein, so sei diese MdE bei der Leistungsgewährung zu berücksichtigen. Auf den Beginn der Rente komme es dagegen nicht an. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Nach ihrer Überzeugung kommt die Zahlung einer Verletztenrente dann nicht in Betracht, wenn zu ihrem Beginn unfallunabhängige völlige Erwerbsunfähigkeit vorhanden ist. Der Rentenanspruch sei vom Wegfall der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit abhängig (§ 580 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Wenn in diesem Zeitpunkt völlige Erwerbsunfähigkeit aus unfallfremden Gründen vorliege, könne eine rentenberechtigende MdE als Unfallfolge nicht mehr angenommen werden. Die gegenteilige Auffassung des LSG verkenne auch den Grundsatz "Rehabilitation vor Rente".
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. Februar 1982 und das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 9. Juni 1981 zu ändern und die auf Zahlung einer Verletztenrente gerichtete Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Nach seiner Meinung kann ein unfallunabhängiger Nachschaden auf die vorher eingetretene durch Unfallfolgen hervorgerufene MdE keinen Einfluß mehr haben. Demzufolge könne ein solcher Nachschaden nicht zur Ablehnung der Verletztenrente führen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Gegenstand des Streites unter den Beteiligten sind nach der Beschränkung des Rechtsmittels der Beklagten auf die Zahlung von Verletztenrente nicht mehr die in dem erstinstanzlichen Urteil festgestellten Folgen des Unfalls am 16. September 1977.
Als Verletztenrente wird nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO gewährt, solange infolge des Arbeitsunfalls die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert ist, der Teil der Vollrente, der dem Grad der Minderung seiner Erwerbsfähigkeit entspricht (Teilrente). Bei der MdE ist die bei dem Verletzten vor dem Unfall bestehende Erwerbsfähigkeit zugrunde zu legen. Die vor dem Unfall vorhanden gewesene - individuelle - Erwerbsfähigkeit ist dabei auch dann mit 100 v.H. einzusetzen und die Einbuße an der Erwerbsfähigkeit durch den Unfall in einem bestimmten Prozentsatz davon auszudrücken, wenn die Erwerbsfähigkeit vor Eintritt des Unfalles bereits durch andere Gesundheitsstörungen gemindert war (vgl. u.a. RVA AN 1897, 461; BSGE 5, 232, 234; 43, 208, 209; BSG SozR 2200 § 622 Nr. 21; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-9. Aufl., Seite 568b; Gitter in SGB-Sozialversicherungs-Gesamtkomm., § 581 Anm. 4; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 581 Anm. 5 Buchst a und b). War der Verletzte jedoch schon zur Zeit des Arbeitsunfalls dauernd völlig erwerbsunfähig (s dazu BSGE 17, 160; BSG SozR Nrn. 13, 15 zu § 581 RVO; Brackmann aaO Seite 568e), so war nach § 561 RVO i.d.F. bis zum Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 (BGBl I 241) nur Krankenbehandlung zu gewähren. Das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz hat eine entsprechende Vorschrift nicht übernommen. Dennoch gehen Rechtsprechung und Schrifttum, nunmehr gestützt auf § 581 Abs. 1 RVO, weiterhin davon aus, daß bei einem Verletzten, der bereits vor dem Arbeitsunfall dauernd völlig erwerbsunfähig war, die MdE nicht infolge des Arbeitsunfalls, sondern bereits allein durch das unfallunabhängige Leiden eingetreten ist (s. BSGE 30, 224; 35, 232; 43, 208, 209; BSG SozR Nrn. 13, 15, 17 zu § 581 RVO; BSG, Urteile vom 24. Juni 1971 - 5 RKU 7/69 - und vom 23. Mai 1973 - 8/7 RU 56/72 -; Lauterbach aaO; Gitter aaO § 581 Anm. 3; s. auch die Nachweise bei Brackmann aaO Seite 568d). Diese Rechtsprechung beruht vor allem auf der Erwägung, daß durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit keine MdE mehr hervorgerufen werden kann, wenn bereits vorher eine zu mindernde Erwerbsfähigkeit infolge anderer unfallunabhängiger Gesundheitsstörungen nicht mehr vorhanden war (s. u.a. BSGE 30, 224; 35, 232, 233; 43, 208, 209). Der 5. Senat des BSG hat einen Anspruch auf Verletztenrente auch dann verneint, wenn die durch die Unfallfolgen verursachte Körperschädigung erst in allmählicher Entwicklung in einem späteren Zeitpunkt eine rentenberechtigende MdE herbeigeführt hätte, in der Zwischenzeit aber ein unfallunabhängiges Ereignis eine dauernde, völlige Erwerbsunfähigkeit herbeigeführt hat (BSGE 30, 224, 225; 35, 232). Er hat es demnach als entscheidend angesehen, ob in dem Zeitpunkt, in dem "an sich eine rentenberechtigende MdE" des Verletzten eingetreten wäre, völlige Erwerbsunfähigkeit vorgelegen hat. Demgegenüber hat der 8. Senat des BSG in seinem Urteil vom 24. Februar 1977 (BSGE 43, 208, 210) ausgeführt, bleibe für die Bemessung der schädigungsbedingten MdE der zur Zeit des schädigenden Ereignisses bestehende Zustand (die damalige Erwerbsfähigkeit) des Verletzten "ein für alle Mal", also unabhängig von späteren unfallunabhängigen erwerbsmindernden Umständen, der maßgebende Vergleichspunkt, so müsse das auch gelten, wenn sich die Unfallfolgen in ihrer Bedeutung für das Ausmaß der Erwerbsfähigkeit später änderten, d.h. besserten oder verschlechterten. Der 8. Senat des BSG hat deshalb die Neufeststellung einer höheren MdE wegen der Verschlimmerung von Folgen des Arbeitsunfalls auch dann für begründet erachtet, wenn der Verletzte vor dem Eintritt der unfallbedingten Verschlimmerung bereits aus unfallunabhängigen Gesundheitsstörungen völlig erwerbsunfähig war. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob insoweit eine Rentengewährung nur ausscheidet, wenn, wovon grundsätzlich auch das LSG ausgeht, der Verletzte "vor dem Unfall" (so BSGE 43, 208, 209; "zur Unfallzeit" so BSG SozR aaO Nr. 13 Blatt Aa 18 - Rückseite; "zur Zeit des Unfalls" so § 561RVO a.F., BSG SozR Nr. 1 zu § 561 RVO a.F.; Boller, ZfS 1969, 33, 39; vgl. auch Benz SGb 1981, 302, 303; s. auch BSGE 41, 70, 73) voll erwerbsunfähig war oder auch dann, wenn die völlige Erwerbsunfähigkeit zwar nicht schon im Unfallzeitpunkt bestanden hat, jedoch noch vor dem Zeitpunkt eingetreten ist, in welchem aufgrund der gesundheitlichen Folgen des Arbeitsunfalls "an sich eine rentenberechtigende MdE" des Verletzten eingetreten wäre ja (s. BSGE 35, 232; s. auch BSG SozR Nrn. 15, 17 zu § 581 RVO; Engelmann, Medizinische Sachverständige 1977, 81, 82; Geyrhalter, BG 1980, 160). Weder der Rechtsprechung des BSG noch der Literatur sind jedenfalls Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß ein Anspruch auf Verletztenrente auch dann nicht bestehen soll, wenn nach Eintritt einer unfallbedingten MdE in rentenberechtigendem Grade der Verletzte aufgrund unfallunabhängiger Gesundheitsstörungen völlig erwerbsunfähig wird. Die unfallbedingte MdE des Klägers hat jedoch nach den von der Revision nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG seit dem Arbeitsunfall mindestens 20 v.H. betragen. Sowohl im Zeitpunkt des Arbeitsunfalles als auch in dem - damit zusammenfallenden - Zeitpunkt des Entstehens einer MdE im rentenberechtigenden Grade war der Kläger nicht voll erwerbsunfähig, hat bei ihm somit noch eine Erwerbsfähigkeit bestanden, die durch die Folgen des Arbeitsunfalls gemindert werden konnte und gemindert wurde. Tritt danach in dem durch den Arbeitsunfall herbeigeführten Zustand keine Veränderung ein, so hat eine sonstige später eingetretene Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit für die Unfallfolgen und die mit ihnen verbundene MdE rechtlich keine Bedeutung. Die unfallbedingte MdE bleibt, solange die Unfallfolgen sich nicht ändern, die maßgebende Leistungsgrundlage ohne Rücksicht darauf, ob und in welchem Umfang die Erwerbsfähigkeit des Verletzten durch unfallunabhängige Umstände, insbesondere weitere Gesundheitsschäden, zusätzlich gemindert oder gar völlig beseitigt wird (BSGE 43, 208, 209). Ebenso wie ein sogenannter Nachschaden keine höhere unfallbedingte MdE begründet (s. BSGE 27, 142, 145; 43, 208, 209; ebenso zur KOV BSGE 41, 70; 48, 187, 189), rechtfertigt er keine niedrigere Bewertung der vorher bestandenen unfallbedingten MdE. Dies wird in Rechtsprechung und Schrifttum zum Recht der gesetzlichen Unfallversicherung selbst für die Fälle nicht angezweifelt, in denen die später eingetretene unfallunabhängige MdE 100% beträgt. Aus denselben rechtlichen Erwägungen ist es nicht gerechtfertigt, die MdE nur deshalb anders zu bewerten, weil der sogenannte Nachschaden nicht nur eine MdE von 100%, sondern darüber hinaus völlige Erwerbsunfähigkeit zur Folge hat.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist es aus den dargelegten Gründen rechtlich unerheblich, wenn die unfallunabhängige völlige Erwerbsunfähigkeit zwar nach dem Eintritt der unfallbedingten MdE im rentenberechtigenden Grade aber noch vor Beginn der Rentengewährung hinzugetreten ist. Auch für die der Rechtsprechung des BSG, wie aufgezeigt, zugrundeliegende Erwägung, daß bei Vorliegen einer unfallunabhängigen völligen Erwerbsunfähigkeit eine Erwerbsfähigkeit nicht durch Unfallfolgen gemindert werden kann, ist der Zeitpunkt, in dem bei Vorliegen einer unfallbedingten MdE Anspruch auf Rente entsteht, insoweit rechtlich ohne Bedeutung. Entscheidend ist hier allein die Entstehung des jedenfalls durch die MdE im rentenberechtigenden Grade verwirklichten Schadens (BSGE 43, 208, 210) vor Eintritt der völligen Erwerbsunfähigkeit. Andernfalls wäre zwar einem Verletzten, bei dem die Folgen seines Arbeitsunfalles eine MdE um 20 v.H. bedingen und dessen Rente gem. § 580 Abs. 4 RVO mit dem Tage nach dem Arbeitsunfall beginnt, weil er nicht arbeitsunfähig i.S. der Krankenversicherung ist, die Rente selbst dann zu gewähren, wenn er wenige Wochen nach dem Arbeitsunfall wegen unfallunabhängiger Gesundheitsstörungen völlig erwerbsunfähig wird. Dagegen wäre dem wesentlich schwerer Verletzten, der neben einer unfallbedingten MdE im rentenberechtigenden Grade wegen der Folgen des Arbeitsunfalles längere Zeit arbeitsunfähig i.S. der Krankenversicherung ist und der sich wegen der bleibenden Folgen des Arbeitsunfalles noch einer länger andauernden Rehabilitationsmaßnahme unterziehen muß, die Rente nicht zu gewähren, wenn er noch vor Rentenbeginn (s. § 580 Abs. 4 RVO) während des Rehabilitationsverfahrens aus unfallunabhängigen Gesundheitsstörungen völlig erwerbsunfähig wird. Auch vom Ergebnis ist der Auffassung der Revision demnach nicht zu folgen.
Der Grundsatz, Rehabilitation geht vor Rente, rechtfertigt ebenfalls entgegen der Ansicht der Revision keine andere Entscheidung. Dieser Grundsatz besagt insbesondere, daß alle Maßnahmen, die zu einer möglichst vollständigen Rehabilitation führen können, der Rentengewährung vorgehen. Können vorgesehene Rehabilitationsmaßnahmen z.B. aus gesundheitlichen Gründen, die nicht auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sind, nicht begonnen oder müssen sie abgebrochen werden, so rechtfertigt dies allein weder die bestehende unfallbedingte MdE geringer zu bewerten, noch die Gewährung der Verletztenrente abzulehnen. Weder rechtssystematische Gründe noch Sinn und Zweck der Rechtsprechung des BSG, daß bei Vorliegen völliger Erwerbsunfähigkeit keine Erwerbsfähigkeit mehr durch Unfallfolgen gemindert werden kann, begründen eine abweichende rechtliche Beurteilung für den Fall, daß der Rehabilitand durch die nicht unfallbedingten Gesundheitsstörungen nicht nur seine Rehabilitationsmaßnahme nicht antreten kann oder sie abbrechen muß, sondern völlig erwerbsunfähig geworden ist.
Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 518362 |
BSGE, 13 |
Breith. 1983, 873 |