Leitsatz (amtlich)
1. Ein Jugendlicher, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, befindet sich dann in einer Berufs- oder Schulausbildung, wenn die Ausbildung ihn mehr als zwanzig Stunden pro Woche in Anspruch nimmt.
2. Für den Besuch von Abendschulen gelten im Kindergeldrecht insoweit - anders als nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz - (BVerwG vom 30.10.1975 - V C 15/74 = BVerwGE 49, 279) keine Besonderheiten.
Normenkette
BKGG § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 1; ArbZO § 3; JArbSchG § 8; BAföG
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 03.06.1986; Aktenzeichen L 14 Kg 11/85) |
SG Berlin (Entscheidung vom 19.04.1985; Aktenzeichen S 59 Kg 64/84) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten nur noch darüber, ob die beklagte Bundesanstalt für Arbeit zu Recht die Bewilligung von Kindergeld für die Tochter Regina (R.) des Klägers rückwirkend zum 1. Juli 1983 aufgehoben und das für die Zeit vom Juli 1983 bis Oktober 1983 gezahlte Kindergeld zurückgefordert und für den Monat April 1984 durch Bescheid vom 12. Februar 1985 zu Recht abgelehnt hat.
Der Kläger bezog von der Beklagten - zuletzt aufgrund eines Wiederbewilligungsbescheides vom 12. September 1983 - Kindergeld unter Berücksichtigung seiner am 7. September 1966 geborenen Tochter R. Diese leistete ab November 1982 ein freiwilliges soziales Jahr, das sie zum 30. Juni 1983 ohne Kenntnis der Beklagten vorzeitig beendete, nachdem sie im April 1983 bei der Volkshochschule Berlin-Zehlendorf einen Abendlehrgang zum Erwerb des Realschulabschlusses begonnen hatte. Der Unterricht fand viermal wöchentlich von 18.00 bis 21.15 Uhr statt. Eine erfolgreiche Mitarbeit erforderte mindestens acht Wochenstunden an Vor- und Nacharbeit. R. bestand im April 1984 die Abschlußprüfung.
Durch Bescheid vom 1. März 1984, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 10. April 1984, hob die Beklagte die Kindergeldbewilligung für R. mit Wirkung vom 1. Juli 1983 auf und forderte das bis Oktober 1983 gezahlte Kindergeld zurück, weil die Teilnahme an dem Abendlehrgang die Arbeitskraft des Kindes nicht zumindest überwiegend in Anspruch nehme und deshalb keine Schulausbildung iS des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) sei.
Während des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Berlin (SG) hat die Beklagte mit Bescheid vom 12. Februar 1985 einen Antrag des Klägers auf Gewährung von Kindergeld für R. für die Zeit von April bis September 1984 abgelehnt.
Das SG hat die angefochtenen Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Kindergeld unter Berücksichtigung seiner Tochter R. bis April 1984 zu gewähren; die weitergehende, auf Gewährung von Kindergeld bis September 1984 gerichtete Klage hat es abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die zugelassene Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Der Kläger habe für die noch streitige Zeit von Juli 1983 bis April 1984 Anspruch auf Kindergeld für R. Das Kind habe sich während der Teilnahme am Abendlehrgang in einer Schulausbildung iS von § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG befunden. Eine anspruchsbegründende Schulausbildung liege vor, wenn sie Zeit und Arbeitskraft des Kindes ganz oder überwiegend in Anspruch nehme, so daß für das Kind keine Möglichkeit bestehe, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Zwar werde nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) einem Abendschüler eine Gesamtbelastung durch Schule und daneben mögliche Erwerbstätigkeit von 60 Stunden zugemutet und eine überwiegende Inanspruchnahme durch die Ausbildung verneint, wenn das Kind dadurch nicht mehr als 40 Stunden wöchentlich beansprucht werde. Diese Grenzziehung könne jedoch zumindest für Jugendliche unter 18 Jahren nicht übernommen werden. Jedenfalls für diesen Personenkreis, zu dem die Tochter des Klägers gehöre, sei unter Berücksichtigung der Vorschriften des Jugendarbeitsschutzgesetzes (JArbSchG) die zumutbare Gesamtbelastung auf etwa 50 Stunden zurückzunehmen und eine überwiegende Inanspruchnahme durch die Schulausbildung zu bejahen, wenn der Zeitaufwand hierfür mehr als 30 Stunden pro Woche betrage. Dies sei bei der Tochter des Klägers der Fall gewesen, so daß ihr eine zusätzliche Erwerbstätigkeit von wenigstens 20 Stunden wöchentlich nicht zumutbar gewesen sei. Die Beanspruchung des Kindes durch den Schulbesuch (einschließlich Hausarbeit und Schulweg) sei auf wöchentlich 32 bis 34 Stunden zu beziffern. Zu den 13 Stunden Unterricht (16 Schulstunden) seien mindestens 8 Stunden Wegezeit (zwei Stunden pro Schultag) hinzuzurechnen. Bei Schätzung des Zeitaufwandes für die Hausarbeiten sei davon auszugehen, daß dafür ebensoviel Zeit benötigt werde, wie für die Schulstunden. Die vom Schulträger für Vor- und Nacharbeit angegebene Zeit von mindestens acht Stunden beziehe sich auf die Mindestbelastung auch für den besten Schüler und nicht auf den Durchschnitt. Selbst wenn man eine durchschnittliche Belastung durch die Hausarbeiten in der Mitte zwischen der Mindestschätzung der Schule und dem gleichen Zeitaufwand für Hausarbeit und Schulzeit ansetzen würde, käme man im vorliegenden Fall auf eine schulische Gesamtbelastung von 32 Stunden in der Woche.
Mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG und macht geltend, eine Herabsetzung der von der bisherigen Rechtsprechung des BSG festgelegten Obergrenze von 60 Wochenstunden sei nicht gerechtfertigt. Eine allgemeine Herabsetzung dieser Grenze komme allenfalls unter dem Gesichtspunkt in Betracht, daß in einigen Tarifbereichen inzwischen die 38,5-Stunden-Woche eingeführt worden sei und der Gesetzgeber daraufhin ab Januar 1986 die Grenze der mehr als kurzzeitigen Beschäftigung auf 19 Stunden reduziert habe (§ 102 des Arbeitsförderungsgesetzes -AFG- idF des Siebten Änderungsgesetzes zum AFG (7. AFGÄndG) vom 20. Dezember 1985 -BGBl I, 2484-). Dem stehe jedoch entgegen, daß in der gewerblichen Wirtschaft, im Handwerk und im öffentlichen Dienst überwiegend nach wie vor die 40-Stunden-Woche gelte, so daß auch weiterhin hiervon als der üblichen Arbeitszeit auszugehen sei. Entgegen der Auffassung des LSG könne für Jugendliche unter 18 Jahren keine andere Obergrenze gelten als für Erwachsene. Bei einer Wochenstundenzahl von 30 Unterrichtsstunden, die im Durchschnitt an bayerischen Realschulen in den Klassen 8 bis 10 üblich sei, ergebe sich bei gleichem Zeitaufwand für Vor- und Nacharbeiten eine schulische Inanspruchnahme von 45 Zeitstunden und, bei Hinzurechnung von einer Stunde Wegezeit je Schulweg, eine Gesamtbelastung von 55 Stunden pro Woche. Diese liege weit über der von § 8 JArbSchG postulierten 40-Stunden-Woche und annähernd bei der vom BSG angenommenen Obergrenze. Die Tochter des Klägers sei bei der vom LSG ermittelten Belastung durch den Besuch der Abendschule mit 32 bis 34 Wochenstunden nicht überwiegend in Anspruch genommen worden. Ihr sei selbst dann eine mehr als kurzzeitige Beschäftigung möglich gewesen, wenn man die Grenze der zumutbaren Belastung nicht mit 60, sondern mit 57,5 Wochenstunden ansetze.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 3. Juni 1986 vollständig und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. April 1985, soweit es der Klage stattgegeben hat, aufzuheben und die Klage im vollen Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Vorinstanzen sind zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger für die Zeit von Juli 1983 bis einschließlich April 1984 einen Anspruch auf Kindergeld hat.
Da die Bewilligung des Kindergeldes mit Bescheid vom 12. September 1983 zu einem Zeitpunkt erfolgte, zu dem die Tochter des Klägers bereits den Abendlehrgang zum Erwerb des Realschulabschlusses besuchte, richtet sich die Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung vom 1. März 1984 nur nach § 45 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X). Nach Abs 1 dieser Vorschrift darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), nur unter den Einschränkungen der Abs 2 bis 4 des § 45 SGB X zurückgenommen werden, wenn er rechtswidrig ist. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt. Dem Kläger steht das ihm für seine Tochter R. bewilligte Kindergeld bis einschließlich April 1984 zu. Deshalb war auch der während des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht erlassene und gemäß § 96 SGG mitangefochtene Bescheid vom 12. April 1985 - wie schon in erster Instanz geschehen - insoweit aufzuheben, als er die Gewährung von Kindergeld für den Monat April 1984 ablehnte.
Der Kläger erfüllte in der streitigen Zeit die allgemeinen Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld (§ 1 Abs 1 Nr 1 BKGG). Er hat seinen Wohnsitz im Geltungsbereich des BKGG. Es geht um den Anspruch auf Kindergeld für seine Tochter.
Zwar hatte R. im Juli 1983 bereits das 16. Lebensjahr vollendet. Gleichwohl stand dem Kläger für seine Tochter weiter Kindergeld zu. Denn sie befand sich in dem streitigen Zeitraum in einer Ausbildung und für sie war deshalb Ausbildungskindergeld zu gewähren.
Nach § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG werden Kinder, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, nur berücksichtigt, wenn sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden. Entgegen der Auffassung der Beklagten absolvierte R. mit dem Abendlehrgang zum Erwerb des Realschulabschlusses eine Schulausbildung.
Der Begriff Schulausbildung bzw Berufsausbildung ist im Gesetz nicht definiert. Die Rechtsprechung (BSG SozR 5870 § 2 Nr 32) geht bei der Auslegung des Begriffs "Schulausbildung" vom allgemeinen Sprachgebrauch aus. Danach ist unter diesem Begriff der Besuch allgemeinbildender und weiterführender Schulen zu verstehen. Außerdem wird verlangt, daß die Ausbildung an allgemeinbildenden öffentlichen oder privaten Schulen erfolgt und der Unterricht nach staatlich genehmigten Lehrplänen erteilt wird. Auch Abendschulen, die zB dazu dienen, auf das Abitur oder die mittlere Reife vorzubereiten, vermitteln in diesem Sinne eine Schulausbildung (vgl dazu BSGE 31, 152, 155; 39, 156). Die Rechtsprechung hat jedoch den Begriff Schul- und Berufsausbildung iS von § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG und entsprechender Vorschriften zur "verlängerten" Waisenrente und zum "verlängerten" Kinderzuschuß dahin eingeschränkt, daß eine Schul- und Berufsausbildung nur vorliege, wenn durch sie die Zeit und Arbeitskraft des Kindes ausschließlich oder überwiegend in Anspruch genommen wird (vgl dazu BSGE 21, 185, 186; 31, 152, 153 f; 39, 156, 157). Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an. Auch er hält es wegen der Funktion des Kindergeldes nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes für notwendig, den Begriff Schul- und Berufsausbildung - abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch - einzuschränken. Der Gesetzgeber geht davon aus, daß Kinder nach Vollendung des 16. Lebensjahres in der Regel berufstätig sind und sich selbst unterhalten können. Deshalb hat er den Anspruch auf Kindergeld über die Vollendung des 16. Lebensjahres hinaus nur verlängert, sofern das Kind durch die Schul- oder Berufsausbildung gehindert wird, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das ist aber lediglich der Fall, wenn die Ausbildung wegen der damit verbundenen zeitlichen Inanspruchnahme eine Erwerbstätigkeit ausschließt.
Dagegen teilt der Senat nicht die Rechtsauffassung, die von dem früher für die Arbeiterrentenversicherung zuständig gewesenen 12. und von dem bis zum 31. Dezember 1987 für die Angestelltenversicherung zuständig gewesenen 11. Senat vertreten worden ist (BSGE 39, 156, 157 bzw BSGE 43, 44, 48 f), nach der eine Schulausbildung nur vorliege, wenn der Schüler mehr als 40 Stunden durch sie in Anspruch genommen werde und ihm deshalb nicht zusätzlich eine Halbtagsbeschäftigung zugemutet werden könne. Diese Auffassung haben der 4. und der 5. Senat auch bei der Auslegung des Begriffs "Fachschulausbildung" in § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) und § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b der Reichsversicherungsordnung (RVO) bei der Frage der Anerkennung solcher Zeiten als Ausfallzeiten vertreten (Urteile vom 9. Juni 1988 - 4/11a RA 68/87 - und vom 3. Februar 1988 - 5/5b RJ 50/87 -).
Die mit 60 Stunden angesetzte zumutbare Gesamtbelastung erscheint dem erkennenden Senat zu hoch. Er hat deshalb mit Beschluß vom 10. August 1988 bei dem 1., dem 4. und dem 5. Senat des BSG angefragt, ob sie an der in den angeführten Urteilen vertretenen Rechtsansicht zum Begriff der Schul- und Berufsausbildung festhalten. Der 4. und der 5. Senat haben dies verneint (Beschlüsse vom 15. November 1988 - 4 S 11/88 - und vom 21. Februar 1989 - 5 S 6/88 -). Der 1. Senat hat mitgeteilt, daß er sich aus formalen Gründen an der Beantwortung der Anfrage gehindert sehe (Beschluß vom 6. Oktober 1988 - 1 S 12/88 -). Aufgrund des Ergebnisses der Anfragen kann der erkennende Senat nunmehr den Begriff der Schul- und Berufsausbildung neu definieren, ohne gemäß § 42 SGG verpflichtet zu sein, den Großen Senat anzurufen (BSGE 42, 49, 54).
Für die Abgrenzung des Begriffs Schul- und Berufsausbildung und die zumutbare Gesamtbelastung durch Ausbildung und möglicher Erwerbstätigkeit ist - jedenfalls für die hier streitige Zeit ab Juli 1983, für die die Beklagte die Kindergeldbewilligung aufgehoben und Kindergeld zurückgefordert bzw die Gewährung von Kindergeld abgelehnt hat - von der Arbeitszeitordnung (AZO) vom 13. April 1938 (RGBl I 447), zuletzt geändert durch Gesetz vom 10. März 1975 (BGBl I 685) auszugehen. Nach § 3 AZO darf die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit die Dauer von acht Stunden nicht überschreiten. Nur in Ausnahmefällen und durch Tarifvertrag kann die tägliche Arbeitszeit bis zu 10 Stunden verlängert werden (§ 5 Abs 1 bis 3, § 6, § 7 Abs 1 AZO). Eine weitere Überschreitung ist nur in besonderen Ausnahmefällen zulässig (zB bei von § 3 AZO abweichender Verteilung der Arbeitszeit, wenn dies vom Gewerbeaufsichtsamt zugelassen ist, bei Beschäftigten mit Arbeitsbereitschaft und bei Arbeitszeitverlängerungen aus dringenden Gründen des Gemeinwohls, vgl § 11 AZO). Dies bedeutet: Nach dem Arbeitsschutzrecht liegt die Grenze der Belastbarkeit in der Regel bei 48 Stunden (vgl dazu Denecke/Neumann, AZO, Kommentar, 9. Aufl, § 3 Anm 1 und 4 sowie § 1 Anm 1). Nur in besonderen Fällen darf dem Arbeitnehmer eine Arbeitszeit von 60 Stunden wöchentlich zugemutet werden. Die von der Rechtsprechung bisher angesetzte Obergrenze entspricht somit der nur für Ausnahmefälle zulässigen Höchstgrenze der AZO. Für eine Ausbildung, die sich oft über Jahre erstreckt, erscheint es nicht angemessen, die Belastbarkeit nach der zulässigen Höchstgrenze für Ausnahmefälle, sondern nach der Belastbarkeitsgrenze im Regelfalle, dh auf 48 Stunden insgesamt, festzusetzen.
Wenn die Bestimmungen der AZO hier auch nicht unmittelbar anwendbar sind, so kann bei der Auslegung des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG der Schutzgedanke der AZO nicht außer Betracht bleiben. Der 12. Senat ist in seiner Entscheidung vom 12. Februar 1975 (BSGE 39, 156, 157), der sich die anderen Senate später im Ergebnis oder ausdrücklich angeschlossen haben, von der damals üblichen Arbeitszeit von wöchentlich 40 Stunden ausgegangen und hat angenommen, daß einem Schüler wöchentlich eine Gesamtbelastung von 60 Stunden zugemutet werden könne. Abgesehen davon, daß sich die übliche Arbeitszeit schon jetzt in weiten Bereichen verkürzt hat und auch in Zukunft voraussichtlich weiter verkürzen wird, fehlt in der bisherigen Rechtsprechung jede Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit überhaupt einem Schüler oder Auszubildenden eine über die übliche Arbeitszeit hinausgehende Belastung zugemutet werden kann. Weder hat man die durchschnittliche Belastbarkeit im Wege der Beweisaufnahme ermittelt, noch ist erkennbar geprüft worden, welche rechtlichen Schranken der vom 12. Senat vertretenen Auslegung entgegenstehen. Jedenfalls im Hinblick auf die zitierten Bestimmungen der AZO ist es nicht vertretbar, die Belastbarkeitsgrenze höher anzusetzen als die für den Regelfall nach der AZO vorgesehene zeitliche Grenze für eine Tätigkeit im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses. Denn mit den Regelungen der AZO hat der Gesetzgeber selbst zu erkennen gegeben, welche zeitliche Inanspruchnahme eines Arbeitnehmers er für zumutbar hält. Daß er einem Schüler oder Auszubildenden im Kindergeldrecht eine größere Belastung zumutet, ist nicht anzunehmen. Die Belastung durch die Ausbildung gleich welcher Art ist nicht geringer zu bewerten als die durch eine Erwerbstätigkeit.
Auf die übliche Arbeitszeit kann dagegen nicht abgestellt werden. Sie hat mit der Frage, inwieweit ein Arbeitnehmer oder Auszubildender belastet werden darf, nichts zu tun. Vielmehr handelt es sich insoweit nur um einen Durchschnittswert, der je nach Lage auf dem Arbeitsmarkt und der Entwicklung tarifvertraglicher Vereinbarungen schwankt. So ist das Streben nach Arbeitszeitverkürzung in den letzten Jahren vor allem dadurch bestimmt, daß die knapper gewordene Arbeit auf eine größere Zahl von Arbeitnehmern verteilt werden soll, indem die allgemeine Arbeitszeit herabgesetzt wird.
Die zulässige Belastung ist ferner danach zu differenzieren, ob der Schüler oder Auszubildende das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat oder nicht. Denn § 8 JArbSchG schreibt vor, daß Jugendliche in der Regel nicht mehr als 40 Stunden pro Woche beschäftigt werden dürfen. Der Gesetzgeber hat dabei die besonderen Belastungen im Auge, die mit einem Beschäftigungsverhältnis für Jugendliche und ihrer Umstellung auf die Arbeitswelt verbunden sind. Das Gesetz gilt deshalb nach § 1 Abs 1 Nr 1 und Nr 4 auch nur für beschäftigte Jugendliche, die sich in einem Beschäftigungsverhältnis, in der Berufsausbildung oder einem der Berufsausbildung ähnlichen Ausbildungsverhältnis befinden, nicht aber für Schüler allgemeinbildender Schulen (vgl Molitor/Volmer/Germelmann, JArbSchG Kommentar, 3. Aufl, § 1 Rdz 61). Das steht aber einer entsprechenden Anwendung des § 8 JArbSchG bei der Anwendung des Begriffs Schul- und Berufsausbildung auf Jugendliche, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nicht entgegen, weil es auch hier darum geht, inwieweit neben der Ausbildung eine berufliche Tätigkeit zugemutet werden kann, durch die der Jugendliche seinen eigenen Unterhalt verdienen kann. Die Belastungsgrenze ist also nicht nur im Hinblick auf die Schulausbildung zu ziehen.
Die bisherige Rechtsprechung hat das Vorliegen einer Schul- und Berufsausbildung dann verneint, wenn dem Schüler oder Auszubildenden im Rahmen der Gesamtbelastung die Möglichkeit blieb, eine Halbtagsbeschäftigung auszuüben. Diese ist mit 20 Stunden pro Woche angenommen worden. Dabei hat sich die Rechtsprechung offensichtlich an der früher allgemein üblichen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden orientiert und verlangt, daß bis zum Erreichen der Belastbarkeitsgrenze neben der durch die Ausbildung in Anspruch genommenen Zeit noch 20 Stunden pro Woche für eine Halbtagsbeschäftigung zur Verfügung stehen müssen. Dies war - jedenfalls als die nunmehr aufgegebene Rechtsprechung entwickelt wurde - der übliche Umfang einer Halbtagstätigkeit und entsprach auch der in § 102 Abs 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) gesetzten Grenze für geringfügige Beschäftigungen. Denn bis zur Änderung durch Art 1 Nr 18 7. AFGÄndG, das am 1. Januar 1986 in Kraft getreten ist (Art 13 des 7. AFGÄndG), galt eine Beschäftigung als in der Arbeitslosenversicherung versicherungsfrei, wenn sie 20 Stunden pro Woche nicht erreichte. Seit dem 1. Januar 1986 lag die Grenze bei 19 Stunden pro Woche. Durch Art 1 Nr 27 des 8. AFGÄndG vom 14. Dezember 1987 (BGBl I, 2602) hat der Gesetzgeber mit Wirkung vom 1. Januar 1988 (vgl Art 13 des 8. AFGÄndG) die Grenze nunmehr auf 18 Stunden pro Woche herabgesetzt. Der Senat kann hier offenlassen, ob ab 1. Januar 1986 bzw 1. Januar 1988 jeweils von einer möglichen Beschäftigung von 19 bzw 18 Stunden auszugehen ist. Im vorliegenden Fall galt noch die 20 Stunden-Grenze, weil die streitige Zeit vor Inkrafttreten des 7. AFGÄndG liegt.
Eine 20stündige Beschäftigung pro Woche neben der Ausbildung war R. aber nach den Tatsachenfeststellungen des LSG, an die der Senat gemäß § 163 SGG gebunden ist, nicht zuzumuten. Denn die Unterrichtszeit erforderte insgesamt 13 Stunden. Hinzu kamen pro Woche 8 Stunden für Vor- und Nacharbeit. Allerdings ist das LSG aufgrund der Angaben der Abendschule für die erforderliche Vor- und Nacharbeit von der Mindestbelastung auch für den besten Schüler ausgegangen. Hier hätte indessen zugrunde gelegt werden müssen, was ein durchschnittlicher Schüler bei durchschnittlicher Belastung für den erfolgreichen Abschluß der Ausbildung an Vor- und Nacharbeit pro Woche benötigt. Denn die Berechnung der insoweit notwendigen zusätzlichen Zeit kann nur auf Durchschnittswerte abstellen. Diese Typisierung ist schon im Interesse der Verwaltungsvereinfachung notwendig. Hier Durchschnittswerte zugrunde zu legen, wird aber auch dem Regelfall am ehesten gerecht. Der Senat konnte gleichwohl von den Tatsachenfeststellungen des LSG ausgehen, weil schon die für den besten Schüler erforderliche Zeit der Vor- und Nacharbeit zusammen mit der Unterrichtszeit 20 Stunden pro Woche überschritt und im Rahmen der zumutbaren Gesamtbelastung für einen Jugendlichen, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine Halbtagsbeschäftigung von 20 Stunden pro Woche nicht mehr zuließ.
Ob die für den Hin- und Rückweg von der Wohnung zur Ausbildungsstätte erforderliche Wegezeit gesondert im Rahmen der Ausbildungszeit berücksichtigt werden muß, kann offengelassen werden. Denn schon die Unterrichtszeit einschließlich der für die Vor- und Nacharbeit erforderlichen Zeit reichte hier aus, um entscheiden zu können, daß eine berufliche Tätigkeit der R. nicht zuzumuten war.
Für den Besuch von Abendschulen gelten im Kindergeldrecht keine Ausnahmen. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwGE 49, 279, 280f) hat zwar bei der Anwendung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) angenommen, daß es auf die Gesamtbelastung dann nicht ankomme, wenn der Abendschüler nebenher eine Berufstätigkeit nach den für den Besuch der Abendschule geltenden Vorschriften ausüben muß. Hierzu ist ua ausgeführt worden (BVerwGE 49, 279, 282), der Besuch von Abendgymnasien sei während der ersten 1 1/2 Studienjahre nicht deshalb von einer Förderung ausgeschlossen, weil es den Studierenden wegen der geforderten gleichzeitigen Berufstätigkeit im allgemeinen möglich sei, die Mittel für ihren Lebensunterhalt selbst zu erwerben. Vielmehr werde die Beibehaltung einer Berufstätigkeit neben der Ausbildung verlangt, um den Studierenden Gelegenheit zur Prüfung der Frage zu geben, ob sie der verstärkten Beanspruchung durch Beruf und Ausbildung gewachsen seien. Bei einer Verneinung dieser Frage werde auf diese Weise die Fortführung der bisherigen beruflichen Tätigkeit ohne Unterbrechung gewährleistet. Deswegen, nicht aber um die Erzielung von Einkünften zu ermöglichen, werde während der ersten 1 1/2 Jahre des Hauptkurses an Abendgymnasien auf eine Ausbildung in Vollzeitform verzichtet. Gerade diese Gesichtspunkte treffen aber im Kindergeldrecht nicht zu. Hier ist allein darauf abzustellen, ob dem Kinde neben der Ausbildung zur Sicherung des eigenen Unterhalts eine berufliche Tätigkeit zumutbar ist. Deshalb weicht der erkennende Senat nicht von der Rechtsprechung des BVerwG ab, wenn er den Besuch von Abendschulen wie jede andere Schul- und Berufsausbildung behandelt. Für die Frage der Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit kann es bei gleicher zeitlicher Belastung keinen Unterschied machen, in welcher Tageszeit die Ausbildung liegt, zumal da dem Auszubildenden die zeitliche Gestaltung der Vor- und Nacharbeit freigestellt ist.
Der 4. Senat hat zwar auf die Anfrage des erkennenden Senats die Ansicht zum Ausdruck gebracht, daß bei dem Besuch einer Abendschule andere Maßstäbe zu gelten hätten. Der erkennende Senat schließt sich dem nicht an. Er ist gleichwohl nicht verpflichtet, den Großen Senat nach § 42 SGG anzurufen, denn der 4. Senat hat in der von ihm aufgegebenen Rechtsprechung in dem Besuch einer Abendschule keine Besonderheit gesehen und dafür nicht - wie das BVerwG in BVerwGE 49, 279 - eine Ausnahme gemacht.
Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob der Kindergeldanspruch dann entfällt, wenn das Kind neben seiner Ausbildung eine berufliche Tätigkeit ausübt, obwohl sie ihm eigentlich nicht zugemutet werden kann. Denn die Tochter des Klägers ist während der streitigen Zeit keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen.
Hat das SG nach alledem die Aufhebung der Bewilligung zu Recht aufgehoben, so durfte die Beklagte vom Kläger auch nicht das für die Zeit von Juli bis Oktober 1983 gezahlte Kindergeld zurückfordern (vgl § 50 Abs 1 SGB X).
Das SG hat in seinem Urteilstenor den Bescheid vom 12. Februar 1985 nicht ausdrücklich geändert. Nach dem Inhalt der vorinstanzlichen Entscheidungen kann aber davon ausgegangen werden, daß dieser Bescheid insoweit aufgehoben ist, als er das Kindergeld für den Monat April 1984 betrifft; denn insoweit hat das SG die Beklagte auch zur Leistungsgewährung verurteilt. Einer Klarstellung durch Änderung der erstinstanzlichen Urteilsformel bedurfte es daher nicht.
Die Revision der Beklagten konnte nach alledem keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1665719 |
BSGE, 243 |
BB 1990, 1134 |