Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufskrankheit. Anerkennung. grauer Star. UV-Strahlung. Wärmestrahlung
Leitsatz (amtlich)
Eine durch UV-Strahlung verursachte Linsentrübung kann eine Berufskrankheit iS der Anl 1 Nr 2401 zur BKVO (Grauer Star durch Wärmestrahlung) sein.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
RVO § 551 Abs. 1 S. 1; BKVO Anl. 1 Nr. 2410
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Dezember 1995 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt als Rechtsnachfolgerin ihres Ehemannes (Versicherter) die Anerkennung der Linsenlosigkeit beider Augen ihrer ihres Ehemannes als Folgen einer Berufskrankheit (BK).
Er war nach seiner Ausbildung zum Lithographen bei verschiedenen Firmen in diesem Beruf tätig. Dabei arbeitete er zunächst bis zum Jahre 1961 überwiegend bei Neonlicht sowie mit Kohlebogenlampen. Ab Mai 1961 bis Juli 1985 war er als Lithograph und Repromann in einer graphischen Anstalt beschäftigt. Auch dort arbeitete er zunächst unter Einsatz von Kohlebogenlampen. Ab dem Jahre 1967 wurde sein Arbeitsplatz mit Xenongasröhren ausgerüstet. Während seiner gesamten Tätigkeit hat der Versicherte keine Schutzbrille getragen.
Im Jahre 1981 ließ die Sehfähigkeit des Versicherten nach. Wegen eines grauen Stars (Katarakt) wurde Anfang des Jahres 1982 die Linse des linken Auges und im Jahre 1985 die des rechten Auges operativ entfernt. Die behandelnden Ärzte vermuteten einen präsenilen grauen Star. Der Versicherte führte seine Augenerkrankung auf Strahleneinwirkung bei seiner Berufstätigkeit zurück.
Im Anschluß an die Anzeige über das Vorliegen einer BK im August 1986 vertrat der Dipl.-Physiker G. … nach einer Literaturauswertung die Auffassung, bei Repro- bzw Lithographen könne durch Wärmestrahlung, kurzwellige Infrarotstrahlung oder UV-Strahlung keine Katarakt verursacht werden.
Im Gutachten vom 18. April 1988 kam der Augenarzt Dr. P. … zu dem Ergebnis, der Infrarot-Anteil von Kohlebogenlampen sei zu gering, um einen grauen Star durch Wärmestrahlung zu verursachen. Auch UV-A-Licht komme als Ursache nicht in Betracht. Allerdings seien in der Literatur Fälle von Kataraktentstehung im Zusammenhang mit UV-B-Bestrahlung bekannt. Dr. C. … als Staatlicher Gewerbearzt empfahl daraufhin die Linsenlosigkeit nach § 551 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuerkennen.
Die Augenärzte Prof. Dr. D. … und Dr. R. … führten in ihrem Gutachten vom 25. April 1989 den Linsenverlust auf die „zu unterstellende” Einwirkung von UV-B-Strahlung während der dreißigjährigen Berufstätigkeit des Versicherten ohne Schutzbrille zurück. Obwohl es sich um einen Einzelfall handele, müsse angenommen werden, daß die frühzeitige Katarakterkrankung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf berufliche Einflüsse zurückzuführen sei. Dazu führte der Dipl.-Chemiker und Arzt für Arbeitsmedizin Dr. M. … in seiner Stellungnahme vom 17. Oktober 1989 aus, der Linsenverlust sei weder auf Wärmestrahlen noch ionisierende Strahlen iS der Nrn 2401 und 2402 der Anl 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) zurückzuführen, so daß eine Anerkennung nach § 551 Abs 2 RVO zu diskutieren sei. Zwar sei heute erwiesen, daß eine genügend hohe UV-Belastung zu einer Starerkrankung führen könne, so daß neue Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über diesen Zusammenhang gegeben seien. Allerdings sei nicht feststellbar, daß die Berufsgruppe der Reprophotographen bzw Lithographen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung durch UV-Licht erhöht kataraktgefährdet sei. Diese Berufsgruppe sei auch so groß, daß entsprechende Feststellungen nicht (allein) an der Zahl der Betroffenen scheitere. Epidemiologische Untersuchungen über den „ultraviolett Star” fehlten. Eine Überprüfung der Beklagten habe ergeben, daß von 1958 bis 1986 in ihrem Zuständigkeitsbereich keine BK nach den Nrn 2401 und 2402 gemeldet worden sei.
Die Beklagte veranlaßte daraufhin zur beruflichen Belastung des Versicherten – vor allem durch ultraviolette Strahlung – sowie dem allgemeinen Zusammenhang zwischen Katarakten und Strahlenbelastung weitere Ermittlungen (Stellungnahmen des Dipl.-Physikers G. … vom 3. April 1990 und des Dr. S. … vom 30. Juli 1990, 30. April 1991, 8. Mai 1991 sowie 13. Dezember 1991). Mit seiner Äußerung vom 18. Juli 1991 beurteilte Dr. M. … zusammenfassend die Ergebnisse der Ermittlungen. In seiner abschließenden Stellungnahme vom 18. Januar 1992 vertrat er die Auffassung, nach wie vor sei eine erhöhte Gefährdung der Gruppe der Reprophotographen durch Katarakte nicht zu belegen. Jedoch empfehle er eine Herabsetzung der Beweisanforderungen und die Anerkennung einer „modifizierten” BK nach der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO nämlich die Berücksichtigung von UV-Strahlung statt Wärmestrahlung im Rahmen dieser BK.
Die Beklagte lehnte es daraufhin gegenüber der Ehefrau des im März 1991 verstorbenen Versicherten als dessen Rechtsnachfolgerin ab, eine BK nach der Nr 2401 oder 2402 der Anl 1 zur BKVO oder nach § 551 Abs 2 RVO anzuerkennen. Der Versicherte sei weder einer Wärmestrahlung noch ionisierender Strahlung, sondern UV-Strahlung ausgesetzt gewesen. Eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO scheitere, weil für die Berufsgruppe der Reprophotographen bzw Lithographen kein erhöhtes Risiko feststellbar sei, durch UV-Strahlung an einer Katarakt zu erkranken (Bescheid vom 10. Juli 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 11. September 1992).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage nach Einholung eines Gutachtens des Augenarztes Prof. Dr. B. … -B. … vom 1. Februar 1993 sowie einer gutachterlichen Stellungnahme des Dr. M. … vom 23. Oktober 1993 nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) abgewiesen, weil eine BK der Nrn 2401 oder 2402 der Anl 1 zur BKVO nicht feststellbar sei und auch neue Erkenntnisse iS des § 551 Abs 2 RVO nicht vorlägen (Gerichtsbescheid vom 28. Dezember 1993).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, die Linsenlosigkeit des linken und rechten Auges des Versicherten als Folge einer BK iS der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO anzuerkennen (Urteil vom 14. Dezember 1995): Die Linsenlosigkeit beider Augen des Versicherten sei als Folge einer Katarakt nachgewiesen und mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf eine berufsbedingte Wärmestrahlung iS der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO zurückzuführen. Während seiner Erwerbstätigkeit sei er langjährig einer „Wärmestrahlung” in Form von ultravioletter Strahlung ausgesetzt gewesen. Zu Unrecht werde im aktuellen Merkblatt zur BK Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO ausschließlich infrarote Strahlung der Wärmestrahlung zugeordnet. Dies entspreche zwar der allgemeinen bzw umgangssprachlichen Definition, die ausschließlich auf die Wahrnehmungsfähigkeit der menschlichen Haut für Temperaturunterschiede abstelle. Dies entspreche jedoch nicht dem Zweck der BK der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO, was vor allem ihre historische Entwicklung zeige. Danach sei der Begriff Wärmestrahlung in bezug auf die Strahlungsquelle zu bestimmen. Wärmestrahlung enthalte – jedenfalls bei hohen Strahlertemperaturen – auch ultraviolette Anteile. Ziel des Verordnungsgebers sei die Anerkennung des grauen Stars als BK bei Arbeitnehmern gewesen, die einer typischerweise bei Schmelzvorgängen entstehenden Strahlungsenergie ausgesetzt gewesen seien. Mit Einführung der bis heute unveränderten Bezeichnung der BK durch die 6. BKVO vom 28. April 1961 solle die Anerkennung einer Katarakt als Berufskrankheitsfolge bei einer Schädigung durch vergleichbare Einwirkungen im Bereich des gesamten Arbeitsmarktes möglich sein. Wärmestrahlung würde dort in der Regel nicht im Sinne einer einzigen Strahlungsart auftreten; vielmehr würden komplexe Strahlungsquellen Strahlen unterschiedlicher Wellenlängen aussenden. Es gebe keine Grundlage zur Beschränkung der BK allein auf Infrarot-Strahlen. Der im Merkblatt wiedergegebene Kenntnisstand reduziere sich auf die Feststellung, daß grauer Star durch hellrot-, gelb- oder weißglühendes Material in Zusammenhang mit Schmelzvorgängen bei hohen Temperaturen auftreten könne. In diesem Bereich würden aber auch ultraviolette Strahlen auftreten. Daher sei Wärmestrahlung iS der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO dahingehend zu definieren, daß der Begriff sämtliche Strahlungsarten umfasse, die typischerweise von einem unter hohen Temperaturen glühenden Material ausgingen. Dies zeige auch die Wahl des Begriffs „Wärmestrahlung” durch den Verordnungsgeber. Daher gehörten zu der Bestrahlung auch UV-B-Strahlen. Sie seien geeignet, Katarakte zu erzeugen, wovon sowohl Gewerbemedizinaldirektor Dr. C. … als auch Dr. M. … und Dr. S. … übereinstimmend ausgingen. Gegen die Richtigkeit ihrer Beurteilung stünden insoweit keine Bedenken, zumal der Zusammenhang zwischen Katarakten und dem Einfluß ultravioletter Strahlung inzwischen gesichert erscheine. Der Versicherte sei während seiner Berufstätigkeit langjährig – insbesondere bis 1968 – ultravioletter Strahlung ausgesetzt gewesen. Auch eine Schädigung der Augen durch UV-A-Strahlung nach 1968 bis 1979 können nicht ausgeschlossen werden. Endogene Ursachen für die Erkrankung seien bei dem zur Zeit der ersten Linsenentfernung noch nicht 50 Jahre alten Versicherten nicht feststellbar gewesen. Berücksichtige man zusätzlich, daß die Linsenveränderungen bereits in einem für Katarakte sehr frühen Alter begonnen hätten, so bestünden keine Bedenken gegen die Annahme der Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zwischen der berufsbedingten Beeinträchtigung durch ultraviolette Strahlung und den später aufgetretenen Katarakten.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision wendet sich die Beklagte dagegen, daß auch ein grauer Star durch UV-Strahlung als BK anzuerkennen sei. Das LSG habe verkannt, daß eine photochemische Energie versicherungsrechtlich nicht mit einer Wärmeenergie gleichzusetzen sei. Zudem habe das LSG nicht hinreichend schlüssig begründet, warum im Merkblatt zur BK Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO zu Unrecht ausschließlich infrarote Strahlen der Wärmestrahlung zugeordnet würden. Es sei nicht nachvollziehbar, warum neben der Kurzwellenbestrahlung, Ultraschall, Mikro- und Radiowellen sowie Laserstrahlung die ultraviolette Strahlung in das seit Jahrzehnten bestehende Merkblatt bis heute keinen Eingang gefunden habe. Ferner sei zwar die qualitative, nicht aber die quantitative Belastung mit ultravioletter Strahlung, der der Versicherte ausgesetzt gewesen sei, nachgewiesen. Auch ließen die Entscheidungsgründe nicht schlüssig erkennen, warum das LSG die Stellungnahme des Dr. S. … vom 13. Dezember 1991, der darin den Zusammenhang für möglich gehalten habe, hinsichtlich des Wahrscheinlichkeitsbegriffs für überzeugend ansehe und warum der Versicherte einer Wärmestrahlung ausgesetzt gewesen sei, die den Gefahrenquellen ua beim Umgang mit glühendem Glas in Glashütten, mit glühenden Schmelzmassen in Eisenhütten, Metallschmelzereien in Betrieben der Weißblechherstellung oder in Karbitfabriken vergleichbar sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Dezember 1995 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 28. Dezember 1993 zurückzuweisen;
hilfsweise,
das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist unbegründet.
Entgegen der Ansicht der Beklagten hat die Klägerin als Rechtsnachfolgerin ihres Ehemannes den geltend gemachten Feststellungsanspruch (§ 55 Abs 1 SGG); denn die Linsenlosigkeit beider Augen, die beim Versicherten vorlag, war Folge einer BK.
Der Feststellungsanspruch richtet sich auch nach Inkrafttreten des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) am 1. Januar 1997 nach den bis dahin geltenden Vorschriften der RVO; denn nach § 212 SGB VII gilt das neue Recht grundsätzlich erst für Versicherungsfälle, die nach dem 31. Dezember 1996 eingetreten sind. Einer der Ausnahmetatbestände nach §§ 213 ff SGB VII ist nicht gegeben.
Nach § 551 Abs 1 Satz 1 RVO gilt als Arbeitsunfall eine BK. BKen sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO benannten Tätigkeiten erleidet. Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten BKen gehört nach der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO „ein grauer Star durch Wärmestrahlung”. Der Versicherte erkrankte nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die das Revisionsgericht mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen und Anschlußrügen gebunden ist (§ 163 SGG), an grauem Star im Bereich beider Augen, weshalb zunächst Anfang des Jahres 1982 die Linse des linken und schließlich im September 1985 auch die des rechten Auges operativ entfernt werden mußte.
Die Linsentrübungen waren nach der umfassenden Aufklärung des Sachverhalts durch die Beklagte und im gerichtlichen Verfahren sowie aufgrund der eingehenden Beweiswürdigung des LSG mit Wahrscheinlichkeit auf „Wärmestrahlung” iS der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO zurückzuführen, der der Versicherte bei seiner versicherten Tätigkeit als Lithograph sowie Repromann ausgesetzt war. Linsentrübungen aus anderen Ursachen konnten ausgeschlossen werden. Der allein auffällig erhöhte Harnsäurespiegel des Versicherten kam danach als endogene Ursache nach der Stellungnahme von Prof. Dr. von D. … vom 25. September 1986 als Grundlage einer Katarakt nicht in Betracht. Beweisanzeichen für eine berufsbedingte Schädigung ist das Auftreten des Stars bereits in verhältnismäßig frühem Lebensalter (vgl Elster, Berufskrankheitenrecht, S 140; Mehrtens/Perlebach, Berufskrankheitenverordnung, Stand Juli 1996, M 2401 Anm 3). Nach den Feststellungen des LSG begannen beim Versicherten die Linsenveränderungen bereits in einem für Katarakte sehr frühem Alter von unter 50 Jahren, so daß senile Veränderungen der Linsen iS eines Altersstars ausgeschlossen sind.
Nach den weiteren Feststellungen des LSG war der Versicherte, wie die Untersuchungen des Dr. S. … aufgrund des Berichts vom 8. Mai 1991 ergeben haben, während seiner Berufstätigkeit langjährig – insbesondere bis zum Jahre 1968 – UV-Strahlung ausgesetzt gewesen. Diese UV-Strahlung erfüllt den Begriff der Wärmestrahlung iS der BK der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO. Die Revision beruft sich hinsichtlich des Begriffes Wärmestrahlung auf das aktuelle Merkblatt zur BK der Nr 2401. Nach diesem Merkblatt für die ärztliche Untersuchung bei BKen zur BK Nr 2401 (vgl BArbBl, Fachteil Arbeitsschutz, 1991 S 72 bis 74) wird der graue Star durch Wärmestrahlung allerdings ausschließlich durch die Einwirkung infraroter Strahlen, dh einer außerhalb des sichtbaren Lichtspektrums gelegener Wellenstrahlung, verursacht. Die zu den einzelnen BKen erlassenen Merkblätter geben zwar über den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfahrungen zur Zeit des Erlasses der BK Auskunft, bilden also ein wertvolles Hilfsmittel für die Erkennung und Behandlung der BKen sowie bei der Klärung von Zweifelsfragen. Sie sind aber formal-rechtlich nicht Bestandteil der BKVO und nicht von zwingend rechtlicher Verbindlichkeit. Sie schließen damit ein – wissenschaftlich begründetes – Abweichen nicht aus (vgl Krasney, ASU 29 ≪1994≫ S 525, 526/527; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Januar 1996, § 551 RVO Anm 10b).
Zutreffend hat das LSG ausgeführt, daß bei der Auslegung des Begriffs „Wärmestrahlung” der BK der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO nicht allein auf die Form der Wahrnehmung der Strahlung als Wärme abgestellt werden kann. Vielmehr hat die Auslegung des Begriffs Wärmestrahlung vom Schutzzweck der Norm her zu erfolgen. Absicht des Verordnungsgebers war es, den durch berufliche Beschäftigung verursachten Star bei Arbeitnehmern zu entschädigen. Nach der historischen Entwicklungsgeschichte dieser BK, die der erkennende Senat bereits in seiner Entscheidung vom 23. Februar 1966 – 2 RU 103/62 – (BG 1967, 75) dargestellt hat, war in der Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche BKen vom 12. Mai 1925 (RGBl I 69) unter der Nr 8 „Grauer Star bei Glasmachern” aufgeführt. Nach § 3 dieser Verordnung iVm der Spalte III der Anl 1 erstreckte sich die Versicherung nur auf Glashütten. Die professionellen Linsentrübungen bei Glasmachern in verhältnismäßig frühem Lebensalter waren schon seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts bekannt. Als entscheidende Ursache sah man die Beschäftigung an den Schmelzöfen von Glashütten an, wie die vom Reichsarbeitsministerium herausgegebenen Richtlinien vom 6. August 1925 (RABl S 326/327) zeigen. Erweitert wurde die Entschädigungspflicht für Erkrankungen an grauem Star durch die 2. BKVO vom 11. Februar 1929 (RGBl I 27), indem bei der Nr 19 in der Spalte III als Betriebe auch Eisenhütten und Metallschmelzereien aufgenommen wurden. Die Erkrankung an grauem Star sah man als Folge der Einwirkung der von den glühenden Schmelzmassen und den Wänden der Schmelzöfen ausgehenden Strahlen an (Bauer/Engel/Koelsch/Krohn, Die Ausdehnung der Unfallversicherung auf BKen, Heft 12 der Schriftenreihe „Arbeit und Gesundheit”, 1929, S 239). Doch zweifelte man daran, ob die ursprüngliche Auffassung, daß allein UV-Strahlen die Ursache der Erkrankung seien, zutreffe (Bauer/Engel/Koelsch/Krohn aaO S 240). Man hielt weitere Forschungen zu der Frage für erforderlich, welche Rolle neben der strahlenden Energie die einzelnen Strahlungen des Spektrums spielten. Die weitere Entwicklung bis zur 6. BKVO vom 28. April 1961 (BGBl I 505) zeigt, daß der Verordnungsgeber wegen der Schwierigkeiten, den durch berufliche Beschäftigung verursachten Star vom Altersstar abzugrenzen, den Kreis der in den Versicherungsschutz einbezogenen Unternehmen nur sehr vorsichtig und allmählich erweitert hat (vgl BSG aaO). So ergibt sich vor allem aus dem Merkblatt zu der BK der Nr 36 der 5. BKVO vom 26. Juli 1952 (BGBl I 395), daß der Verordnungsgeber bewußt davon abgesehen hat, den Kreis der in den Versicherungsschutz einbezogenen Unternehmen zu erweitern, und diese Entschließung von dem Ergebnis weiterer Forschungen abhängig machen wollte. Erst nach neuen Forschungen, wonach die auftretenden Veränderungen der Augenlinse durch Wärmeeinwirkung verursacht werden, hielt es der Verordnungsgeber in der 6. BKVO nicht mehr für gerechtfertigt, die Anerkennung der Erkrankung als BK auf einige bestimmte Unternehmen zu beschränken (AmtlBegr BR-Drucks 115/61 S 5 zu Nr 28 der Anl 1 zur 6. BKVO). Daraus ergibt sich, daß der Zusatz „durch Wärmestrahlung” dazu dient, den beruflich bedingten vom sog altersbedingt auftretenden grauen Star abzugrenzen. Zugleich erreichte der Verordnungsgeber damit die Anerkennung des grauen Stars als BK nicht nur bei den Arbeitnehmern, die – wie bisher – in den vom Versicherungsschutz erfaßten Unternehmen der Strahlungsenergie ausgesetzt waren, die typischerweise bei Schmelzvorgängen entstehen, sondern auch bei den Arbeitnehmern, die einer Schädigung durch vergleichbare Einwirkungen im übrigen Bereich des Arbeitsmarkts ausgesetzt waren.
Das LSG hat unter Berufung auf die Stellungnahmen von Dr. S. … vom 30. Juli 1990 und 8. Mai 1991 festgestellt, daß die bei Schmelzvorgängen entstehende termische Strahlung nicht nur ein Strahlenspektrum bietet, sondern Strahlen unterschiedlicher Wellenlänge aussendet und daß auch Wärmestrahlung – abhängig von der Höhe der Strahlungstemperatur – UV-Anteile enthält. Auch bei anderen, den Schmelzvorgängen vergleichbaren Strahlungseinwirkungen, wird danach in der Regel Wärmestrahlung nicht in Form einer einzigen Strahlung, sondern als komplexe Strahlenquelle mit Strahlen unterschiedlicher Wellenlänge ausgesandt. Da somit bei „Wärmestrahlen” in der Regel eine Emission von Strahlen unterschiedlicher Wellenlänge erfolgt, fehlen die Voraussetzungen, den Begriff „durch Wärmestrahlung” auf Infrarot-Strahlung zu beschränken, wie im Merkblatt zur BK der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO geschehen.
Hinzu kommt, daß im Merkblatt der BK der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO einerseits ausgeführt wird, daß der graue Star durch Wärmestrahlung durch die Einwirkung von infraroten Strahlen verursacht werde. Trotzdem wird aber andererseits eingeräumt, daß die Wirkung der Infrarot-Strahlen auf die Augenlinse noch nicht abschließend geklärt sei. Außerdem werden wiederum die Gefahrenquellen, wie glühendes Glas, glühende Schmelzmassen in Eisenhütten usw, geschildert, bei denen angesichts der auftretenden hohen Temperaturen neben Infrarot-Strahlen ua auch UV-Strahlen entstehen zu pflegen. Im übrigen weist das LSG überzeugend darauf hin, daß wenn der Verordnungsgeber Linsentrübungen als BK-Folgen ausschließlich im Zusammenhang mit Infrarotstrahlung hätte anerkennen wollen, es nahegelegen hätte, statt des Begriffs der Wärmestrahlung den der Infrarot-Strahlung in die BK der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO aufzunehmen. Daraus kann gefolgert werden, daß der Verordnungsgeber den Begriff der Wärmestrahlung umfassender verstanden hat. Der Begriff Wärmestrahlung iS der BK der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO ist daher dahingehend auszulegen, daß er sämtliche Strahlungsarten, die typischerweise von einem unter hohen Temperaturen stehenden Material ausgestrahlt werden, mithin auch UV-Strahlen, erfaßt.
Das LSG kommt daher aufgrund der ihm obliegenden freien richterlichen Beweiswürdigung zu Recht zu dem Ergebnis, daß nach der überzeugenden Darstellung von Dr. S. … auch UV-B-Strahlen zur Wärmestrahlung gehören. Sie sind geeignet, Katarakte zu erzeugen, wovon sowohl Dr. C. … als Staatlicher Gewerbearzt sowie Dr. M. … und Dr. S. … übereinstimmend ausgehen. Der Zusammenhang zwischen Katarakten und dem Einfluß ultravioletter Strahlung erscheint wissenschaftlich gesichert (vgl J. Schmidt/C. Schmitt/A. Wegener/O. Hockwin, Experimenteller Beitrag zur linsenschädigenden Wirkung ultravioletter Strahlung, in Fortschritte der Ophthalmologie, 1988, S 689 ff). Im Falle des Versicherten bestehen daher revisionsrechtlich keine Bedenken gegen die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der berufsbedingten Einwirkung von UV-Strahlung bei der Arbeit mit Kohlebogenlampen sowie Xenongasbrennern und den aufgetretenen Linsentrübungen.
Soweit die Revision einwendet, die Entscheidungsgründe des LSG ließen nicht schlüssig erkennen, warum es die Stellungnahme des Dr. S. … vom 13. Dezember 1991 hinsichtlich des Wahrscheinlichkeitsbegriffes für überzeugend hält, so verkennt sie, daß die Beweiswürdigung grundsätzlich im Ermessen des Tatsachengerichts steht. Das Revisionsgericht kann nur prüfen, ob das Tatsachengericht bei seiner Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungsgrundsätze verstoßen und ob es das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat (vgl BSG, Urteil vom 27. Januar 1994 – 2 RU 3/93 –, HVBG-INFO 1994, 943; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Aufl 1997, III, RdNr 162 ff und IX, RdNr 286; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 5. Aufl, § 128 SGG RdNr 4). Gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze konnte das LSG aber nur dann verstoßen haben, wenn die von ihm im Rahmen der Beweiswürdigung in Bezug genommene Stellungnahme des Dr. S. … vom 13. Dezember 1991, in der dieser im Ergebnis seiner Ausführungen den ursächlichen Zusammenhang für wahrscheinlich hält, insoweit selbst widersprüchlich wäre. Gerade dies ist nicht der Fall; die Revision enthält dazu keine überzeugende Darlegungen. Soweit sie anführt, in der Stellungnahme vom 13. Dezember 1991 habe Dr. S. … ausdrücklich auf offene Fragen verwiesen, so berücksichtigt die Beklagte dabei nicht den Zusammenhang, in dem die Ausführung steht. Dr. S. … hat nämlich klargestellt, daß angesichts der Anfangs unklaren Arbeitsbedingungen des Versicherten und seines plötzlichen Todes seine genaue Exposition mit ultravioletter Strahlung nicht mehr zu klären ist. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis Dr. S. … auf offene Fragen und im übrigen auch seine von der Revision angeführte Bemerkung zu sehen, im vorliegenden BK-Fall blieben eine Reihe von Ungewißheiten, die man wohl nicht mehr ausräumen könne. Wie sich aus der Stellungnahme weiter ergibt, haben diese Umstände Dr. S. … veranlaßt, die Kausalbeziehung zwischen der Exposition mit UV-Strahlung und der Erkrankung nicht als gewiß, sondern lediglich – aber unfallversicherungsrechtlich ausreichend – als hinreichend wahrscheinlich zu sehen.
Entgegen der Revision ist die Stellungnahme vom 13. Dezember 1991 auch nicht widersprüchlich, weil Dr. S. … darin den Zusammenhang als „möglich” bezeichnet hat. Denn diese Formulierung Dr. S. … ist nach dem Inhalt der Stellungnahme offensichtlich iS des versicherungsrechtlichen Wahrscheinlichkeitsbegriffs zu verstehen. Dies belegen seine folgenden Ausführungen zum Wahrscheinlichkeitsgrad, wenn er ausführt, es spreche für ihn mehr für einen solchen Zusammenhang als dagegen, dh er halte einen solchen Zusammenhang auch für wahrscheinlich. Ergeben sich sonach entgegen der Revision keine Anhaltspunkte dafür, daß die Stellungnahme vom 13. Dezember 1991 widersprüchlich ist, so konnte sie das LSG im Rahmen seiner Beweiswürdigung ohne Bedenken heranziehen.
Auch hinsichtlich des Umstandes, daß die genaue quantitative Strahlenbelastung des Versicherten bei seiner versicherten Tätigkeit nicht feststeht, wie die Revision anführt, ist gleichwohl nicht ersichtlich, inwieweit das LSG bei der Gesamtwürdigung der ihm bekannten Tatsachen die Grenzen der ihm und nicht dem Revisionsgericht obliegenden freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten hätte. Zur Beweiswürdigung gehört grundsätzlich auch, mit welchen Grundlagen sich das Tatsachengericht bei seiner Entscheidung in der Sache begnügt.
Nach alledem war daher die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1173484 |
AuA 1998, 256 |
NZS 1998, 388 |
SozR 3-5670 Anl.1 Nr.2401, Nr.1 |
SozSi 1998, 399 |