Entscheidungsstichwort (Thema)
Aberkennung einer Entschädigungsrente – Beitrittsgebiet – Anhörung durch das Bundesversicherungsamt – Heilung eines Anhörungsmangels – Aussetzung des Rechtsstreits zur Behebung von Verfahrensfehlern im Revisionsverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Vor Erlaß eines Verwaltungsaktes über die Aberkennung einer Entschädigungsrente muß das Bundesversicherungsamt den Adressaten unabhängig davon selbst anhören (§ 24 Abs 1 SGB 10), daß im vorbereitenden Verfahren vor der insoweit eingesetzten Kommission eine Anhörung gemäß § 21 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 10 durchgeführt worden ist.
2. Auch nach dem 31.12.2000 kann ein wegen unterbliebener Anhörung fehlerhafter und aufhebbarer Verwaltungsakt nach Abschluß des Verwaltungsverfahrens schlechthin nicht mehr geheilt werden.
Stand: 15. Oktober 2001
Normenkette
SGB X §§ 20, 21 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, § 24 Abs. 1, §§ 31, 41 Abs. 2 Fassung 2000-12-21, § 42; EntschRG § 2 Abs. 1, § 5 Abs. 1, 3 S. 1, § 6 Abs. 3 S. 3; VersRuhG § 5 Abs. 1; FEhrPensAnO; SGG § 114 Abs. 2 S. 2 Fassung 2000-12-21, § 163; EuroEG 4 Art. 10 Nr. 5, Art. 21
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
2. Bundesversicherungsanstalt für Angestellte |
1. Kommission der Bundesrepublik Deutschland zum Versorgungsruhens- und Entschädigungsrentengesetz |
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 29. November 2000 in vollem Umfang und das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 19. April 1999 insoweit aufgehoben, als es die Klage abgewiesen hatte.
Der Bescheid der Beklagten vom 26. Februar 1997 wird aufgehoben.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. Darüber hinaus sind Kosten zwischen den Beteiligten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist zuletzt noch streitig, ob die Beklagte berechtigt war, dem Kläger sein Recht auf Entschädigungsrente mit Wirkung ab März 1997 endgültig abzuerkennen.
Der am 28. August 1921 geborene Kläger war von Oktober 1944 bis Mai 1945 im Zwangsarbeitslager O. (Außenkommando des Konzentrationslagers D. –) inhaftiert. In der DDR bezog er eine sog Ehrenpension auf der Grundlage der „Anordnung über Ehrenpensionen für Kämpfer gegen den Faschismus sowie für deren Hinterbliebene” (Eh-PensAO) der DDR vom 20. September 1976 (Vertrauliche Dienstsache – VD 26/1976). Diese wurde im Juli 1990 auf DM aufgewertet und bis zum 30. April 1992 von der Beigeladenen zu 2) zu Lasten der Beklagten weitergezahlt. In Ersetzung dieses Rechts erkannte die Beigeladene zu 2) dem Kläger ab dem 1. Mai 1992 ein Recht auf Entschädigungsrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet (EntschRG) vom 22. April 1992 (BGBl I S 906) in Höhe von 1.400,00 DM monatlich zu.
In der Zeit von 1954 bis zum 31. August 1981 war der Kläger hauptamtlich beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) tätig, und zwar in der Zeit von 1954 bis 1957 als operativer Mitarbeiter, von 1960 bis 1961 als stellvertretender Leiter der Kreisdienststelle G. und vom 1. Januar 1961 bis zum 31. August 1981 als Leiter der Kreisdienststelle, zuletzt im Range eines Oberstleutnants.
Mit Beschluß vom 21. März 1996 schlug die Beigeladene zu 1) der Beklagten nach Anhörung des Klägers vor, ihm die laufende Entschädigungsrente vorläufig abzuerkennen. Der Kläger habe in seiner 20-jährigen Tätigkeit als Leiter einer Kreisdienststelle des MfS Verantwortung für die Ausführung diverser Richtlinien und Dienstanweisungen dieses Ministeriums getragen und somit gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Die Beklagte folgte dem und erkannte daraufhin mit Bescheid vom 15. Mai 1996 das gegen die Beigeladene zu 2) gerichtete Recht des Klägers auf Entschädigungsrente zunächst „mit sofortiger Wirkung vorläufig ab”, weil der Kläger die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit verletzt habe.
Der Kläger hat hiergegen am 13. Juni 1996 Klage zum SG Leipzig erhoben. Während des laufenden Klageverfahrens hat die Beigeladene zu 1) mit Beschluß vom 16. Dezember 1996 die endgültige Aberkennung der Entschädigungsrente vorgeschlagen. Der Kläger wurde hierzu nicht erneut angehört. In den Gründen dieses Beschlusses weist die Kommission darauf hin, daß ihr nunmehr neue Erkenntnisse über die persönliche Verstrickung des Betroffenen in Unrechtsmaßnahmen des MfS vorlägen: Wie aus der Abschlußbeurteilung der Bezirksverwaltung des MfS vom 23. Juni 1981 über den Betroffenen hervorgehe, habe er nach Einschätzung des MfS bereits in den Jahren von 1954 bis 1957 als operativer Mitarbeiter in der Kreisdienststelle W. „gute Erfolge” in der sog operativen Arbeit erzielt. Zudem sei dem Betroffenen vom MfS bescheinigt worden, als Leiter der Kreisdienststelle G. die an ihn gerichteten Befehle und Weisungen des MfS „wirkungsvoll in operative Ergebnisse im Kampf gegen die Feinde des Sozialismus” umgesetzt zu haben. Die Beklagte schloß sich auch insofern an und erkannte – ebenfalls ohne Anhörung des Klägers – mit weiterem Bescheid vom 26. Februar 1997 dessen Anspruch auf Entschädigungsrente mit sofortiger Wirkung endgültig ab.
Das SG hat mit Urteil vom 19. April 1999 den Bescheid vom 15. Mai 1996 aufgehoben und die Klage im übrigen abgewiesen. Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen diese Entscheidung zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Gegenstand des Berufungsverfahrens sei der Bescheid vom 26. Februar 1997 über die endgültige Aberkennung des gegen die Beigeladene zu 2) gerichteten Rechts des Klägers auf Entschädigungsrente. Das Urteil des SG sei insofern zutreffend. Der angegriffene Verwaltungsakt habe in § 5 Abs 1 EntschRG eine ausreichende Grundlage. Die Entscheidung der Beklagten, der Aberkennungsgrund liege vor, sei nicht zu beanstanden; der Kläger habe gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen, indem er in seiner Funktion als Leiter einer Kreisdienststelle des MfS die einschlägigen Richtlinien und Dienstanweisungen umgesetzt habe. Dabei habe es sich um Post- und Telefonüberwachung sowie sonstige Bespitzelung, Hausdurchsuchungen, häufige Vorladungen zu Behörden, Verlust des Arbeitsplatzes oder Umsetzung auf einen schlechteren Arbeitsplatz, Sanktionen gegen Familienmitglieder, Verschlechterung der medizinischen Versorgung, Ächtung durch SED und staatliche Organisationen, Kriminalisierungen und Inhaftierungen (zB wegen des Vorwurfs der Vorbereitung von Republikflucht oder wegen Behinderung von staatlichen Organen) gehandelt. Mit diesen Maßnahmen sei im wesentlichen nicht die Abwehr von Geheimdienst- und Spionagetätigkeiten bezweckt gewesen, vielmehr hätte es sich um eine gezielte Überwachung, insbesondere von Ausreise- und Fluchtwilligen sowie mutmaßlichen Regimegegnern und Kritikern gehandelt. Darüber hinaus habe der Kläger – wie sich aus den Unterlagen der Gauck-Behörde ergebe – „eigenhändig” in unveräußerliche Grundrechte und Menschenrechte rechtsstaatswidrig eingegriffen. So habe er ua die Postüberwachung einer Verdächtigen und von deren Familie beantragt, geheime Informatoren angeworben und gezielt im Umfeld einzelner Personen eingesetzt, sowie zur Verurteilung eines Bürgers wegen Boykotthetze zu einem Jahr Zuchthaus beigetragen; insofern werde auf die Entscheidungsgründe des SG verwiesen. Die vollständige Aberkennung des Rechts auf Entschädigungsrente rechtfertige sich aus der Schwere der dem Kläger konkret vorzuwerfenden Eingriffe in die Menschenrechte der Bürger der ehemaligen DDR und der langen Zeitspanne, in der der Kläger in verantwortlicher Position beim MfS tätig gewesen sei.
Der Kläger wendet sich hiergegen mit seiner vom LSG zugelassenen Revision:
Die vollständige Aberkennung der ursprünglich zuerkannten Entschädigungsrente sei unverhältnismäßig. Der DDR seien als Staat nicht diejenigen Strafrechtsnormen als Normativunrecht vorzuwerfen, die gegen Spionagehandlungen im Auftrag anderer Geheimdienste gerichtet gewesen seien; es sei demgemäß selbstwidersprüchlich, dem Kläger die Beteiligung an der Aufklärung derartiger Handlungen und die Durchführung von Einzelmaßnahmen iS von § 5 Abs 1 EntschRG anzulasten. Ähnlich verhalte es sich mit der Mitwirkung des Klägers an der Anordnung von Postüberwachungsmaßnahmen sowie mit dessen allgemeiner Tätigkeit für das MfS einschließlich der Anwerbung und des Einsatzes von verdeckten Ermittlern. Auch insofern gehe es nicht um den Vorwurf der Beteiligung an Normativunrecht, sondern um den Vorwurf der Beteiligung an einem von der DDR als Staat zu vertretenden Verwaltungsunrecht in Gestalt eines allgemeinen Systemunrechts. Eine das Maß des Üblichen nicht übersteigende Beteiligung an derartigem Systemunrecht könne nur als „Systemförderung” und (noch) nicht als individuell zurechenbare Verletzung von Grundsätzen der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit gewertet werden. Ebenfalls entgegen der Auffassung des LSG seien nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen keineswegs geeignet gewesen, die Einsicht in die Vorwerfbarkeit von Maßnahmen in die Rechtsstaatswidrigkeit oder die Unvereinbarkeit eines dienstlichen Verhaltens mit Grundsätzen der Menschlichkeit zu verbessern. Ob der berufliche Werdegang oder die Allgemeinbildung eines Betroffenen den eine bessere Erkenntnis hindernden Umständen der Kriegs- und Nachkriegszeit erfolgreich entgegenwirken konnten, bedürfe einer Entscheidung im Einzelfall.
Er beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 29. November 2000 und das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 19. April 1999, soweit dieses die endgültige Entziehung des Rechts auf Entschädigungsrente betrifft, sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. Februar 1997 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Kläger mache nunmehr nur noch die Unverhältnismäßigkeit der vollständigen Entziehung der Entschädigungsrente geltend. Das BSG habe insofern bereits klargestellt, daß es für die Rechtsfolge des Totalentzuges nicht auf die Hierarchieebene ankomme, auf der der Täter Macht ausgeübt habe. Entscheidend für die Bestimmung der Rechtsfolge (Aberkennung oder Kürzung) seien vielmehr Schwere und Intensität sowie Art, Umfang und Dauer der Unrechtshandlungen des Betroffenen selbst. Die subjektive Vorwerfbarkeit einer Unkenntnis des Unrechtsgehalts werde bereits im Rahmen des subjektiven Tatbestandes bei der Prüfung der zumutbaren Gewissensanspannung berücksichtigt; eine nochmalige Würdigung auf der Rechtsfolgenseite sei demgegenüber nicht geboten. Entscheidend sei daher immer eine Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Abwägungskriterien.
Die Beigeladene zu 1) beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Aus den bisher von der Rechtsprechung entwickelten Maßstäben ergebe sich, daß die Rente des Klägers zu Recht vollständig entzogen worden sei. Weder habe er nur allgemein das politische System gefördert, noch habe es ihm bei gehöriger Gewissensanspannung an der Fähigkeit gefehlt, den Unrechtsgehalt seines Tuns erkennen zu können.
Die Beigeladene zu 2) stellt keinen Antrag.
II
Die zulässige Revision des Klägers erweist sich auch in vollem Umfang als begründet.
Zu Unrecht hat das Berufungsgericht die Berufung des Klägers zurück- und das SG seine Klage abgewiesen. Der Verwaltungsakt der Beklagten vom 26. Februar 1997 greift rechtswidrig in sein subjektives Recht auf Entschädigungsrente ein, das ihm gemäß § 6 EntschRG ab dem 1. Mai 1992 gegen die Beigeladene zu 2) als Entschädigungsträger zustand (vgl hierzu Urteile des Senats in SozR 3-8850 § 3 Nr 1 und § 5 Nr 1). Die Beklagte hat es – wie sie der Sache nach auf Anfrage des Senats auch selbst eingeräumt hat – entgegen § 24 Abs 1 SGB X unterlassen, den Kläger vor seinem Erlaß ordnungsgemäß anzuhören; die unterlassene Verfahrenshandlung ist auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr mit heilender Wirkung nachgeholt worden. Dies ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (vgl Urteil des Senats in SozR 3-1300 § 24 Nr 4 mwN). Die von der Beklagten getroffene Regelung ist schon deshalb aufzuheben (§ 42 Satz 2 SGB X). Das LSG hat den Senat gemäß § 163 SGG bindende abweichende tatsächliche Feststellungen nicht getroffen; seine rechtliche Schlußfolgerung, „dem Kläger sei vor Erlaß des Bescheides vom 26. Februar 1997 Gelegenheit zur Stellungnahme zu den tragenden Gesichtspunkten für eine Aberkennung gegeben” worden, ist unter diesen Umständen schlechthin unverständlich.
Der Kläger war als künftiger Adressat des Aberkennungs-Verwaltungsaktes im Bescheid der Beklagten vom 26. Februar 1997 Beteiligter des auf dessen Erlaß gerichteten Verwaltungsverfahrens (§ 12 Abs 1 Nr 2 SGB X). Die Beklagte hätte den Kläger vor Erlaß dieses Verwaltungsaktes (§ 31 SGB X), mit dem ihm ein bis dahin gegen die Beigeladene zu 2) zuerkanntes Recht entzogen wurde, gemäß § 24 Abs 1 SGB X anhören müssen, ihm also Gelegenheit geben müssen, sich speziell ihr gegenüber gerade zu den ihrer Auffassung nach für die in Aussicht genommene Regelung maßgeblichen Haupttatsachen zu äußern. Hiervon hätte sie auch dann nicht absehen dürfen, wenn dem Kläger – anders als hier – von der Beigeladenen zu 1) vor Bekanntgabe von deren Vorschlag im Rahmen einer Anhörung zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 21 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X) bereits ausreichend Gelegenheit eingeräumt worden wäre, dieser gegenüber zu den von ihr insofern für maßgeblich erachteten Tatsachen Stellung zu nehmen und die damals mitgeteilten Tatsachen mit denen identisch gewesen wären, auf die sich später auch der Aberkennungs-Verwaltungsakt der Beklagten stützte. Eine derartige Auffassung verkennt gleichermaßen die unterschiedliche Funktion der jeweiligen Anhörung wie die Ausgestaltung des Verfahrens nach dem EntschRG.
Der Senat hat bereits entschieden, daß der Vorschlag der Kommission die entschädigungsrechtlichen Rechte der Betroffenen nicht unmittelbar verändert und daher kein Verwaltungsakt iS von § 31 SGB X ist; es handelt sich vielmehr um einen verwaltungsinternen Mitwirkungsakt in dem Verwaltungsverfahren, dessen Träger das beklagte BVA als alleinige nach außen „federführende” Behörde ist (SozR 3-8850 § 3 Nr 1). Soweit daher die Kommission im Rahmen der ihr übertragenen Aufklärung des Sachverhalts für diesen begrenzten Zweck (§ 5 Abs 3 Satz 1 Halbsatz 1 EntschRG, § 5 Abs 1 VersRG, § 20 SGB X; vgl zu den Aufgaben der Kommission im übrigen Urteil des Senats in SozR 3-8850 § 3 Nr 1 S 7) ebenfalls Betroffene anhört, handelt es sich nicht um eine von § 24 Abs 1 SGB X vorgeschriebene Anhörung, sondern vielmehr um das Ergebnis einer (entsprechenden) Anwendung von § 21 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X (§§ 5 Abs 3 Satz 1 Halbsatz 1 EntschRG, 5 Abs 1 VersRG). Schon deshalb kann die von der Beigeladenen zu 1) durchgeführte Anhörung nicht etwa gleichzeitig die von der Beklagten in (entsprechender) Anwendung von § 24 Abs 1 SGB X (§ 6 Abs 3 Satz 1 EntschRG) und erstmals gerade im Blick auf deren abschließenden Aberkennungs-Verwaltungsakt durch schriftlichen Bescheid (§ 5 Abs 1 und 2, § 6 Abs 3 Satz 2 EntschRG) durchzuführende Anhörung ersetzen (vgl Urteil des Senats in SozR 3-8850 § 5 Nr 3 S 50). Hier kommt überdies noch hinzu, daß die von der Kommission durchgeführte „Anhörung” schon ihrerseits unvollständig war; obwohl nämlich der Beschluß vom 16. Dezember 1996 ausdrücklich auch damit begründet wird, daß „nunmehr neue Erkenntnisse über die persönliche Verstrickung des Betroffenen in Unrechtsmaßnahmen des MfS” vorlägen, hat die Kommission hierzu eine weitere Anhörung nicht durchgeführt.
Die Beklagte muß in jedem Einzelfall vor Erlaß eines beabsichtigten Aberkennungs-Verwaltungsaktes und gerade im Blick auf die diesbezüglich relevanten tatsächlichen Umstände selbst (erstmals) eine Anhörung nach § 24 Abs 1 SGB X durchführen und ist in Fällen der vorliegenden Art von dieser Pflicht auch nicht ausnahmsweise dispensiert. Der Bundesgesetzgeber hat mit § 6 Abs 3 Satz 3 EntschRG spezialgesetzlich ausdrücklich und abschließend bestimmt, daß es im sachlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes einer Anhörung – iS von § 24 Abs 1 SGB X – (nur) dann nicht bedarf, wenn eine Entschädigungsrente nach § 2 Abs 1, 2 und 5 EntschRG „festgesetzt”, dh das im April 1992 bestehende Recht auf eine Ehrenpension oder Hinterbliebenenpension nach der Eh-PensAO (durch die hierfür zuständige Beigeladene zu 2) durch ein Recht auf Entschädigungsrente nach dem EntschRG ersetzt wird (vgl Urteil des Senats in SozR 3-8850 § 3 Nr 1 S 9). Demgegenüber fehlt es an einer derartigen Anordnung für die Fälle des § 5 Abs 1 EntschRG (Ablehnung, Kürzung oder – wie hier – Aberkennung einer Entschädigungsrente); insofern verbleibt es demgemäß bei der sich aus § 24 Abs 1 SGB X ergebenden Verpflichtung. Erst recht hätte es daher einer eindeutigen gesetzlichen Grundlage bedurft, hätte der Parlamentsgesetzgeber eine Ausnahme von der Anhörungspflicht für den Sonderfall vorsehen wollen, daß zu den für eine in Aussicht genommene Aberkennung relevanten Tatsachen außerhalb dieses Kontexts und gerade nicht durch die für den Erlaß der abschließenden Entscheidung zuständige Behörde im Rahmen der Sachaufklärung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden war. Etwas anderes gilt auch nicht etwa deshalb, weil die Beklagte gemäß § 5 Abs 3 Satz 1 Halbsatz 1 EntschRG, § 2 Abs 2 Satz 2 VersRG grundsätzlich – und mit Ausnahme besonders begründeter Einzelfälle – gehalten ist, dem Vorschlag der Kommission zu folgen; gerade hinsichtlich dieser Fallgruppe kann nämlich schon wegen ihrer rechtlich und tatsächlich prägenden Bedeutung für das EntschRG nicht angenommen werden, der Gesetzgeber habe sie bei der Fassung von § 6 Abs 3 Satz 3 EntschRG nur übersehen. Die Erwägung, daß in der Regel faktisch eine Gefährdung schutzwürdiger Interessen des Adressaten deshalb ausscheiden wird, weil die von der Kommission angeführten tatsächlichen Umstände auch diejenigen sind, auf die die später Beklagte ihre Entscheidung stützt, hat damit gegenüber der Leitentscheidung des Gesetzes für eine unbedingte und in ihren Anforderungen gegenüber § 24 Abs 1 SGB X nicht reduzierte Anhörungspflicht gerade durch die Beklagte selbst und vor Erlaß ihres abschließenden Bescheides zurückzutreten.
Der Senat hat daher in seiner Entscheidung vom 24. März 1998, B 4 RA 78/96 R (SozR 3-8850 § 5 Nr 3 S 50), den Bescheid der Beklagten über die (vorläufige) Aberkennung einer Entschädigungsrente eigenständig und tragend auch deshalb aufgehoben, weil die damalige Klägerin vor Erlaß dieses Verwaltungsaktes nicht von der Beklagten, sondern – zudem in sich fehlerhaft – „allein von der beigeladenen Kommission” angehört worden war. Vom Bestehen einer eigenständigen Anhörungspflicht (iS von § 24 Abs 1 SGB X) war die Beklagte selbst ausweislich des dieser Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalts damals jedenfalls für den Fall ausgegangen, daß sich ihre abschließende Entscheidung auf zusätzliche tatsächliche Gesichtspunkte stützt, die die Kommission zur Begründung ihres Vorschlages noch nicht herangezogen hatte. Schließlich findet auf den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt keiner der Tatbestände des § 24 Abs 2 SGB X Anwendung.
Wegen dieses Verfahrensfehlers kommt – unabhängig vom bisher fehlenden Antrag der Beklagten – auch weder eine Aussetzung des Rechtsstreits in der Revisionsinstanz noch eine Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG in Betracht. § 114 Abs 2 Satz 2 SGG, der durch Art 21 des Gesetzes zur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht sowie zur Änderung anderer Vorschriften vom 21. Dezember 2000 (≪4. Euro-Einführungsgesetz≫, BGBl I S 1983) eingefügt und am 1. Januar 2001 in Kraft getreten ist, findet seinem sachlichen Geltungsbereich nach keine Anwendung. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht auf Antrag das Verfahren zur Heilung ua von Verfahrensfehlern aussetzen, soweit dies im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich ist. Der Senat hat mit Urteil vom 12. Juni 2001 (B 4 RA 37/00 R) bereits entschieden, daß im Blick auf das Zusammenwirken von § 114 Abs 2 Satz 2 SGG mit dem ebenfalls durch das 4. Euro-Einführungsgesetz (Art 10 Nr 5) geänderten § 41 Abs 2 SGB X und die Bindung des Revisionsgerichts an die vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen (§ 163 SGG) Gericht in diesem Sinne allein das Tatsachengericht ist.
§ 114 Abs 2 Satz 2 SGG erfaßt in Fällen der vorliegenden Art das laufende (Gerichts-)Verfahren auch zeitlich nicht (vgl Urteil des Senats vom 12. Juni 2001, B 4 RA 37/00 R mwN). Auch im vorliegenden Fall hatte der Kläger bei Inkrafttreten der Vorschrift am 1. Januar 2001 einen Aufhebungsanspruch bereits allein wegen des Verfahrensfehlers der fehlenden Anhörung (§§ 41 Abs 2 aF, 42 Satz 2 SGB X), in den andernfalls belastend eingegriffen würde. Die das Verwaltungsverfahren beendende Entscheidung war nämlich bereits am 26. Februar 1997 ergangen und gemäß § 96 Abs 1 SGG unmittelbar Gegenstand des damals gegen den Bescheid vom 15. Mai 1996 seit dem 13. Juni 1996 anhängigen Klageverfahrens geworden.
Abgesehen hiervon käme eine „Heilung” des Anhörungsmangels nach Abschluß des Verwaltungsverfahrens ohnehin nicht mehr in Betracht. Unabhängig vom nunmehr in zeitlicher Hinsicht erweiterten Wortlaut von § 41 Abs 2 SGB X kann nämlich die Anhörung ihrer unveränderten gesetzlichen Funktion auch weiterhin nur bis längstens zu diesem Zeitpunkt genügen und ist im Blick auf den Abwehrgehalt der Grundrechte eine Beschränkung des Anspruchs auf Aufhebung (auch verfahrensrechtlich) rechtswidriger Staatsakte nur dann hinnehmbar, wenn die nachgeholte Verfahrenshandlung die Position des Betroffenen in vollem Umfang wiederherzustellen vermag:
Der Bürger hat – hier im Blick auf Art 2 Abs 1 GG – Eingriffe in Rechte nur hinzunehmen, wenn diese formell und materiell der verfassungsmäßigen Ordnung einschließlich der Verfahrensgesetze entsprechen (vgl etwa Hufen, Heilung und Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern, JuS 1999, 313 ff, 315). Begeht die Behörde einen Verfahrensfehler, wandelt sich der subjektive Anspruch auf Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns in einen Sanktionsanspruch auf Aufhebung des fehlerhaften Aktes (hier) durch das Gericht, der seinerseits durch die Vorschriften über die – hier im Gegensatz zum VwVfG durch § 42 Satz 2 SGB X ausdrücklich gerade ausgeschlossene (vgl BSG – Großer Senat – SozR 3-1300 § 24 Nr 6 S 17 f) – Unbeachtlichkeit bzw Heilung eingeschränkt wird. Allerdings ist die Begrenzung des Aufhebungsanspruchs aufgrund einer nachträglichen Herbeiführung der Rechtmäßigkeit (vgl etwa Kopp/Ramsauer, Komm zum VwVfG, § 45 VwVfG RdNr 12) des betroffenen Verwaltungsaktes durch Nachholung der unterlassenen Verfahrenshandlung („Heilung”, vgl § 41 Abs 3 Satz 2 SGB X) nur hinnehmbar, wenn diese den einzelnen so stellt, wie er ohne den Fehler gestanden haben würde („Grundsatz der realen Fehlerheilung”, vgl Hufen aaO S 315; ebenso etwa Hatje, Die Heilung formell rechtswidriger Verwaltungsakte im Prozeß als Mittel der Verfahrensbeschleunigung, DÖV 1997, 477, 483 mwN). Gerade dies ist bei Anhörungsfehlern jedoch von vornherein unmöglich.
§ 24 Abs 1 SGB X gibt der Verwaltung auf, ua dem künftigen Adressaten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, bevor sie einen Verwaltungsakt erläßt, der in seine Rechte eingreift. Ebenso wie zunächst § 34 Abs 1 SGB I will die Vorschrift auf diese Weise zur einfach-gesetzlichen Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips (Art 20 Abs 3 GG) und zur Stärkung des Vertrauens in die Sozialverwaltung sicherstellen, daß dem Betroffenen Gelegenheit gegeben wird, auf deren Verfahren noch während seines Laufs und zum Schutz vor Überraschungsentscheidungen auf deren abschließende Entscheidung vor ihrem Ergehen so Einfluß zu nehmen, daß jedenfalls das letzte Wort der Verwaltung zur Sache (Urteil des Senats in SozR 1300 § 24 Nr 4 S 9) seinem berechtigten Vorbringen ggf noch angepaßt werden kann (BSG in SozR 1300 § 24 Nr 6 S 11); er muß hierzu die Möglichkeit haben, gegenüber der Stelle der vollziehenden Gewalt (Art 1 Abs 3, 20 Abs 2 und 3 GG), die über den Erlaß und den Inhalt des Verwaltungsaktes entscheidet (BSG in SozR 1200 § 34 Nr 9 S 43), jedenfalls in dem Zeitraum, in dem sich die Entscheidung noch in deren Verantwortungsbereich befindet – spätestens im Widerspruchsverfahren – alle die Erwägungen vorzubringen und Tatsachen bekanntzumachen, die nach seiner Sicht gegen den Erlaß des in Aussicht genommenen Verwaltungsaktes sprechen (vgl exemplarisch BSG in SozR 1200 § 34 Nr 2 S 9, 11, Nr 4 S 20, Nr 6 S 29, Nr 7 S 33; SozR 1300 § 24 Nr 2 S 4, Nr 7 S 15).
Dieser Gesetzeszweck ist durch eine Nachholung im anschließenden Klageverfahren nicht mehr zu verwirklichen (vgl exemplarisch BSG in SozR 1200 § 34 Nr 2 S 11, Nr 3 S 16, Nr 4 S 21, Nr 6 S 28, Nr 9 S 44, Nr 10 S 47 f, Nr 12 S 55, Nr 14 S 62; s auch Hufen aaO S 316; Hatje aaO S 484; Sodan, Unbeachtlichkeit und Heilung von Verfahrens- und Formfehlern, DVBl 1999, 729, 737; Berkemann, Verwaltungsprozeßrecht auf „neuen Wegen?”, DVBl 1998, 446, 448; BVerwGE 34, 133, 138 sowie 66, 11, 114). Entsprechend dem Grundsatz der realen Fehlerheilung müßte nämlich auch die nachgeholte Anhörung dieselbe rechtliche Qualität haben wie diejenige, die vor Erteilung des Verwaltungsaktes durchzuführen gewesen wäre (Urteil des Senats in SozR 3-1300 § 24 Nr 4 S 8 f). Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut von § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X, dem zufolge (nur) die „erforderliche” – dh die den Anforderungen des § 24 Abs 1 SGB X entsprechende – Anhörung dessen ursprüngliche Verletzung unbeachtlich macht, und ebenso aus § 42 Satz 2 SGB X, der die „wirksam nachgeholte” der „erforderlichen” Anhörung gleichstellt (vgl BSG in SozR 1300 § 24 Nr 6 S 11). Die Kompetenz der Beklagten, den mangels Anhörung fehlerhaften Verwaltungsakt aufzuheben und ihn (zukunftsgerichtet) durch einen neuen zu ersetzen (vgl BSG – Großer Senat –, BSGE 75, 159, 164), bleibt hiervon unberührt.
Schließlich ist auch eine Aufhebung des Berufungsurteils unter Zurückverweisung der Streitsache an das LSG, damit die Beklagte dort einen Antrag nach § 114 Abs 2 SGG nF stellen und den Verfahrensfehler beheben kann, von vornherein ausgeschlossen. Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet; das Revisionsgericht kann nach den vorstehenden Ausführungen abschließend in der Sache selbst entscheiden und auf die isolierte Anfechtungsklage des Klägers den angefochtenen Verwaltungsakt der Beklagten aufheben. Aus § 170 Abs 2 SGG ergibt sich unter diesen Umständen keine Grundlage, den Rechtsstreit dennoch zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen; durch eine darüber hinausgehende Anwendung würde sich der Senat ua im grundrechtsrelevanten Bereich der Art 19 Abs 4, 2 Abs 1 GG zugunsten der Beklagten anstelle des Gesetzgebers selbst ermächtigen, den dem Kläger bereits abschließend zustehenden Aufhebungsanspruch nachträglich wieder (potentiell) zu entwerten bzw in seiner Durchsetzung zumindest zu verzögern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 631030 |
NJ 2001, 671 |
SozR 3-8850 § 5, Nr. 5 |