Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Verletzung des rechtlichen Gehörs. medizinische Tatsachen. Darlegung
Orientierungssatz
1. Verletzung des rechtlichen Gehörs, wenn das LSG die dem ärztlichen Befundbericht beigefügten Anlagen, die Gegenstand des Verfahrens waren, der Klägerin nicht zur Kenntnis- und Stellungnahme übersandt und ihr damit keine Gelegenheit gegeben hat, sich zu diesen Unterlagen, die Gegenstand des Verfahrens waren, zu äußern.
2. Hat der Beteiligte von dem Vorgang keine Kenntnis erlangt und kann er sich diese auch nicht verschaffen, weil die vorenthaltenen Unterlagen nach Abschluß des Verfahrens nicht mehr in den Akten enthalten sind, so vermag er keine Ausführungen über eine mögliche Entscheidungserheblichkeit des infolge der Verletzung rechtlichen Gehörs unterbliebenen Vortrags zu machen (vgl BSG vom 25.11.1992 - 2 RU 27/92 = HV-INFO 1993, 407).
Normenkette
SGG §§ 62, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin begehrt eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Die 1951 geborene Klägerin war von 1974 bis 1989 als Sekretärin sowie von 1989 bis zu ihrer Arbeitsunfähigkeit im Jahre 1994 als medizinische Dokumentationsassistentin an der Medizinischen Hochschule in H. tätig. Seit April 1996 bezieht sie Leistungen von der Bundesanstalt für Arbeit. Ihren Antrag auf Bewilligung einer Rente wegen EU bzw BU lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 17. Juli 1996 und bestätigendem Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 1996 ab, weil die Klägerin ihren bisherigen Beruf ausüben könne und auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig leistungsfähig sei.
Das SG Hannover hat die Klage durch Urteil vom 11. Dezember 1997 abgewiesen. Mit der Berufung hat die Klägerin sowohl die Einstufung als ungelernte Arbeitskraft als auch eine unzureichende Aufklärung des medizinischen Sachverhalts durch das SG beanstandet. Das LSG hat - weitere - Befundberichte beigezogen, ua von Dr. W. und von dem praktischen Arzt K. (Bl 126 f der LSG-Akten). Die den Befundberichten beigefügten Unterlagen hat es den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin nicht zur Kenntnisnahme übersandt. Das LSG forderte ferner auch Unterlagen von Dr. von R. als Praxisnachfolger eines die Klägerin früher behandelnden Arztes an und leitete diese an den Sachverständigen Dr. Ku. nicht jedoch an die Klägerin - weiter. Durch Urteil vom 18. August 1999 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen und die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Der Klägerin stehe kein Recht auf eine Rente wegen BU oder EU zu. Sie sei bereits nicht berufsunfähig. Sie könne zwar den bisherigen Beruf einer medizinischen Dokumentationsassistentin (angelernte Tätigkeit im oberen Bereich) nach ihrem medizinischen Restleistungsvermögen nicht mehr ausüben. Nach dem Gutachten von Dr. Ku. sei sie jedoch in der Lage, vollschichtig sowohl die Tätigkeit einer Materialverwalterin als auch einer Registratorin auszuüben. Zur Einholung eines weiteren psychologischen Sachverständigengutachtens - wie es die Klägerin beantragt habe - sehe sich der Senat nicht gedrängt. Insoweit hätten sowohl der erstinstanzlich gehörte Sachverständige, der Arzt für Sozialmedizin Dr. A. als auch der zweitinstanzliche Sachverständige, der Internist Dr. Ku., übereinstimmend eine infolge der langjährigen Erkrankungen der Klägerin bestehende reaktive psychogene Komponente zugrunde gelegt, die nur noch Tätigkeiten der Klägerin ohne höhere Verantwortung bzw mit mittleren geistigen Anforderungen zuließen und Bildschirmarbeit nur noch zwei bis drei Stunden über den Tag verteilt erlaube. Anhaltspunkte für eine eigenständige psychische Erkrankung der Klägerin mit weitergehenden Leistungseinschränkungen hätten weder Dr. A. noch Dr. Ku. erkennen können.
Gegen die Nichtzulassung der Revision hat die Klägerin Beschwerde eingelegt, eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§§ 103, 106, 107, 116, 118 iVm § 62 SGG) gerügt und ua vorgetragen: Das LSG habe es unterlassen, die den Befundberichten der Ärzte Dr. W. und K. beigefügten Anlagen mit zu übersenden. Es sei heute nicht mehr feststellbar, welchen Inhalt diese Anlagen, die zwischenzeitlich wieder an die Ärzte zurückgesandt worden seien, gehabt hätten. Dr. von R. habe auf Anforderung des Gerichts ebenfalls Unterlagen eingereicht, die das LSG zwar dem Sachverständigen, nicht jedoch ihr zur Verfügung gestellt habe. Es sei nicht ausgeschlossen, daß sie in Kenntnis ua dieser Unterlagen zum medizinischen Sachverhalt noch Stellung genommen und ihre Ausführungen dann die Entscheidungsfindung des LSG beeinflußt hätten.
Die Klägerin hat die vom BSG durch Beschluß vom 21. Juni 2000 wegen eines Verfahrensfehlers zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung von Verfahrensfehlern und nimmt insoweit Bezug auf ihre Beschwerdebegründung. Im übrigen ist sie ua der Ansicht: Der Rechtsstreit sei unabhängig von den verfahrensrechtlichen Fragen bereits entscheidungsreif, da sie berufsunfähig sei. Es sei nicht ersichtlich, daß sie bei dem festgestellten Leistungsvermögen noch eine hinreichend qualifizierte Teilzeitarbeitsstelle finden könne, so daß der Arbeitsmarkt für sie verschlossen sei.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. August 1999 sowie des Sozialgerichts Hannover vom 11. Dezember 1997 und die Feststellung, sie habe kein Recht auf Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit, im Bescheid der Beklagten vom 17. Juli 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 1996 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, ab 1. Mai 1996 zu zahlen.
Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Schriftsätzlich hat sie im wesentlichen auf die ihrer Ansicht nach zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist iS einer Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 SGG).
Das angefochtene Urteil kann auf einem von der Klägerin geltend gemachten Verfahrensmangel, der Verletzung rechtlichen Gehörs (§§ 106, 107, 128 Abs 2, § 62 SGG), beruhen. Das LSG hat die dem Befundbericht des praktischen Arztes K. beigefügten Anlagen der Klägerin nicht zur Kenntnis- und Stellungnahme übersandt und ihr damit keine Gelegenheit gegeben, sich zu diesen Unterlagen, die Gegenstand des Verfahrens waren, zu äußern.
Die Verfahrensrüge der Klägerin ist in formeller Hinsicht ordnungsgemäß erhoben. Die Klägerin hat - insoweit zulässig - unter Bezugnahme ua auf Buchst a ihrer Beschwerdebegründung substantiiert und schlüssig die Nichtgewährung rechtlichen Gehörs dargetan. Wegen dieses Verfahrensmangels ist die Revision zugelassen worden. Hierauf hat sich die Klägerin bezogen und damit zum Ausdruck gebracht, daß sie dieses Vorbringen zur Begründung der Revision aufrechterhält. Eine derartige Bezugnahme ist bei Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensfehlers wirksam. Würde man die Bezugnahme nicht gestatten, so würde dies letztlich zu einer formelhaften Wiederholung früheren Vorbringens zwingen (vgl hierzu BSG SozR 1500 § 164 Nrn 18, 27).
Das in Bezug genommene Beschwerdevorbringen genügt auch den Anforderungen an die schlüssige Darlegung des gerügten Verfahrensmangels. Der Anspruch auf rechtliches Gehör besteht im wesentlichen darin, den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu den Beweisergebnissen und Tatsachen, die der gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden sollen, vorher zu äußern. Dieses Recht hat das LSG nach dem Vorbringen der Klägerin verletzt, indem es die als Anlagen dem Befundbericht des praktischen Arztes K. beigefügten Unterlagen, die Gegenstand des Verfahrens und damit auch des im Auftrag des LSG von Dr. Ku. erstatteten Gutachtens waren, der Klägerin nicht zur Kenntnisnahme übersandt hat. Die Klägerin hat in diesem Zusammenhang zwar nicht dargelegt, was sie bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs, also bei Kenntnis dieser Unterlagen noch vorgetragen hätte und inwiefern die angefochtene Entscheidung hierauf beruhen kann. Ein solches Vorbringen gehört zwar grundsätzlich zur ordnungsgemäßen Bezeichnung eines derartigen Verfahrensfehlers (vgl hierzu BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Voraussetzung ist jedoch, daß der Verfahrensbeteiligte zu einem derartigen Vortrag überhaupt in der Lage ist. Hat der Beteiligte von dem Vorgang keine Kenntnis erlangt und kann er sich diese auch nicht verschaffen, weil - wie hier - die vorenthaltenen Unterlagen nach Abschluß des Verfahrens nicht mehr in den Akten enthalten sind, so vermag er keine Ausführungen über eine mögliche Entscheidungserheblichkeit des infolge der Verletzung rechtlichen Gehörs unterbliebenen Vortrags zu machen (vgl hierzu entsprechend BSG, Beschluß vom 25. November 1992 - 2 RU 27/92 -; BVerwG, Beschluß vom 24. Januar 1996 - 1 B 149/95; BFH, Beschuß vom 7. November 1990 - II B 2/90).
Die Verfahrensrüge der Klägerin ist auch begründet. Das LSG hat - wie dem Vorbringen der Klägerin und den Akten des LSG zu entnehmen ist - das rechtliche Gehör verletzt, indem es die og Unterlagen, die Gegenstand des Verfahrens und des Gutachtens von Dr. Ku. und damit Gegenstand der Entscheidungsfindung des LSG waren, der Klägerin nicht zur Kenntnis gegeben hat. Auf diesem Verfahrensmangel kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Klägerin in Kenntnis dieser Unterlagen weitere Tatsachen vorgetragen hätte, die das LSG ggf zu einer für sie günstigeren Entscheidung (oder einer weiteren Beweisaufnahme) veranlaßt hätten.
Das Vorliegen bereits dieses Verfahrensmangels führt zur Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an das LSG. Damit wird das Verfahren vor dem LSG erneut eröffnet und das Gericht verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt unter Berücksichtigung der og Gesichtspunkte neu festzustellen. Dahinstehen kann daher, ob die ferner geltend gemachten Verfahrensfehler vorliegen und ob sie ordnungsgemäß gerügt worden sind. § 170 Abs 1 Satz 2 SGG, wonach die Revision zurückzuweisen ist, wenn die Entscheidung sich aus anderen Gründen als richtig darstellt, greift nicht ein, weil das Revisionsgericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht feststellen darf und es somit an einer für eine Sachentscheidung hinreichenden Grundlage fehlt.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen