Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 20. Dezember 1961 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Landesversicherungsanstalt für das Saarland – Abt. Allgemeine Arbeitsunfallversicherung – lehnte als der damals zuständige Versicherungsträger den Anspruch durch Bescheid vom 29. Januar 1959 ab. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Klage. Inzwischen wurde durch das Gesetz zur Neuordnung der Sozialversicherungsträger im Saarland vom 28. März 1960 für den vom Kläger geltend gemachten Entschädigungsanspruch die Zuständigkeit der Süddeutschen Eisen- und Stahl- Berufsgenossenschaft begründet. Diese ist demzufolge als Beklagte in das Klageverfahren eingetreten.
Das Sozialgericht (SG) für das Saarland hat durch Urteil vom 2. Mai 1961 die Klage abgewiesen. Dieses Urteil ist dem Kläger am 9. Juni 1961 zugestellt worden. Er hat am 13. Juni 1961 dagegen Berufung eingelegt, diese am 20. Juni 1961 zurückgenommen.
Am 7. Juli 1961 hat der Kläger erneut Berufung gegen das Urteil des SG vom 2. Mai 1961 eingelegt. Er hält diese nach § 156 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für zulässig. Zu der wiederholten Anfechtung des erstinstanzlichen Urteils hat sich der Kläger nach seiner Darstellung auf Grund einer ärztlichen Bescheinigung vom 23. Juni 1961 entschlossen, weil nunmehr eine seine Entschädigungsansprüche begründende Berufskrankheit für wahrscheinlich gehalten werde. Das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland hat durch Urteil vom 20. Dezember 1961 die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe durch die Zurücknahme der Berufung nach § 156 Abs. 2 SGG das Recht auf dieses Rechtsmittel verloren. Die noch vor Ablauf der Berufungsfrist erneut eingelegte Berufung sei nicht zulässig. § 156 Abs. 2 SGG sei dahin zu verstehen, daß die Zurücknahme der Berufung den Verlust nicht nur des eingelegten Rechtsmittels, sondern des Rechts auf Berufung überhaupt bewirke.
Daran ändere nichts, daß die Wirkung der Berufungsrücknahme durch die dem § 156 Abs. 2 SGG entsprechende Vorschrift der Zivilprozeßordnung (ZPO) anders geregelt ist. § 515 Abs. 3 ZPO, der den Verlust des Rechtsmittels ausdrücklich auf die eingelegte Berufung beschränke, könne auf dem Gebiete der Sozialgerichtsbarkeit nicht entsprechend angewandt werden, da § 156 Abs. 2 SGG die Folgen der Zurücknahme der Berufung abschließend regele. Auch daraus, daß wie § 156 Abs. 2 SGG früher auch § 515 Abs. 3 ZPO nicht das Wort „eingelegte” enthielt, die Rechtsprechung aber trotzdem die Möglichkeit einer wiederholten Einlegung der Berufung nach ihrer Zurücknahme bejaht habe, dürfe nicht geschlossen werden, daß § 156 Abs. 2 SGG in gleicher Weise wie der frühere § 515 Abs. 3 ZPO auszulegen sei. In § 156 Abs. 2 SGG sei das Wort „eingelegte”, durch das der Sinn des § 515 Abs. 3 ZPO wegen seiner ursprünglich umstrittenen Bedeutung klargestellt worden sei, bewußt nicht aufgenommen worden. Es wäre anzunehmen, daß der Gesetzgeber den ihm bekannt gewesenen Wortlaut des geänderten § 515 Abs. 3 ZPO für die Regelung des Berufungsrechts im SGG gewählt hätte, wenn er den Verlust des Rechtsmittels als Folge der Berufungsrücknahme auf die eingelegte Berufung hätte beschränkt wissen wollen. Im übrigen finde sich zu der unterschiedlichen Regelung der Berufungsrücknahme in beiden Verfahrensordnungen eine Parallele bei der Regelung der Klagerücknahme. Während nach § 271 ZPO der Kläger trotz Klagerücknahme den Klaganspruch erneut geltend machen könne, verliere er nach § 102 SGG durch die Klagerücknahme das Recht auf die Klage. Schließlich sei nicht ersichtlich, daß der Zweck des Rechtsmittels gefährdet sei, wenn nach der Zurücknahme der Berufung die Möglichkeit ihrer erneuten Einlegung ausgeschlossen werde.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 27. Februar 1962 zugestellt worden. Er hat am 13. März 1962 Revision eingelegt und sie gleichzeitig begründet. Die Revision führt aus: Das LSG habe § 156 Abs. 2 SGG verletzt; es hätte über den Anspruch des Klägers in der Sache entscheiden müssen und nicht die Berufung als unzulässig verwerfen dürfen. Das LSG habe die Wirkung der Rücknahme der Berufung verkannt. Trotz des Wortlauts des § 156 Abs. 2 SGG habe die Rücknahme der Berufung nur den Verlust des eingelegten Rechtsmittels zur Folge. Etwas anderes habe der Gesetzgeber nicht gewollt, wie zutreffend in einem Beschluß des LSG Nordrhein-Westfalen vom 12. Februar 1957 ausgeführt sei. Die in dem angefochtenen Urteil vertretene Auffassung werde nicht dem jedem Rechtsmittel innewohnenden Zweck gerecht und sei mit dem Wesen der Sozialgerichtsbarkeit nicht vereinbar. Wie sich § 156 Abs. 1 SGG nur auf eine eingelegte Berufung beziehen könne, so müsse dies auch für Abs. 2 dieser Vorschrift gelten.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet im wesentlichen den Ausführungen des angefochtenen Urteils bei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, somit zulässig. Ihr war jedoch der Erfolg zu versagen.
Die Auffassung des LSG, die Zurücknahme der Berufung habe nach § 156 Abs. 2 SGG zur Folge, daß dem Kläger die wiederholte Einlegung des Rechtsmittels auch innerhalb der noch laufenden Berufungsfrist verwehrt sei, ist frei von Rechtsirrtum. Das LSG hat § 156 Abs. 2 SGG mit Recht für auslegungsbedürftig gehalten und geprüft, ob unter Verlust des Rechtsmittels im Sinne dieser Vorschrift der endgültige Verlust des Rechts auf die Berufung zu verstehen ist oder ob die Zurücknahme des Rechtsmittels nur den Verlust der eingelegten Berufung bewirkt, so daß die erstinstanzliche Entscheidung wirksam mit einer erneuten Berufung, jedenfalls so lange, wie die Berufungsfrist noch nicht abgelaufen war, angefochten werden konnte. § 156 Abs. 2 SGG läßt für diese Alternative Raum, wenn auch sein Wortlaut mangels eines einschränkenden Hinweises dafür spricht, daß die Zurücknahme der Berufung den Verlust des Rechtsmittels schlechthin nach sich zieht. Die gleiche Auslegungsfrage stellte sich schon in der Rechtsprechung der Zivilgerichte bei der Anwendung des dem § 156 Abs. 2 SGG entsprechenden § 515 Abs. 3 ZPO, als dieser vor seiner Änderung durch das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. September 1950 (BGBl I 455) so lautete wie jetzt § 156 Abs. 2 SGG, als er also das Wort „eingelegte” noch nicht enthielt (vgl. Stein/Jonas, Kommentar zur ZPO, 14. Aufl., 1929, 2. Bd. Anm. III zu § 515 und die dort in der Fußnote angeführten Zitate, ferner RGZ 9, 420; 96, 186; 147, 313; 158, 53 und 161, 350 sowie RAG 16, 314; 18, 285). Damals führte der Meinungsstreit über die Wirkung der Berufungsrücknahme schließlich zu der Neufassung des § 515 Abs. 3 ZPO durch das angeführte Gesetz vom 12. September 1950, indem der Sinn der Vorschrift durch das Hinzufügen des Wortes „eingelegte” klargestellt wurde. Hieraus ist jedoch nicht zu folgern, daß auch der später geschaffene § 156 Abs. 2 SGG in dem gleichen Sinne zu verstehen sei, daß man also bei seiner Anwendung das Wort „eingelegte” hinzuzudenken habe. Eine solche Auslegung wäre durch die Umstände, unter denen § 156 Abs. 2 SGG entstanden ist, nicht zu begründen. Sie rechtfertigen vielmehr in Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil die Annahme, daß der Wortlaut des § 156 Abs. 2 SGG in bewußter Abweichung von dem des § 515 Abs. 3 ZPO gewählt wurde. Wie schon in der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 8. November 1957 (SozR SGG § 156 Bl. Da 1 Nr. 1) zum Ausdruck gekommen ist, sind die Verfahrensvorschriften des SGG nach Prüfung entsprechender Regelungen in anderen Verfahrensordnungen, vor allem in der ZPO, zustande gekommen. Es ist kein Anhalt gegeben, daß hiervon bei der Schaffung des § 156 Abs. 2 SGG eine Ausnahme gemacht worden sei. In dem angefochtenen Urteil ist zutreffend unterstellt worden, daß der Gesetzgeber bei der Normierung dieser Vorschrift den Meinungsstreit um die Auslegung des § 515 Abs. 3 ZPO in der früheren Fassung, vor allem die Bedeutung des „klarstellenden” Wortlauts, gekannt hat; das LSG hat mit Recht daraus den Schluß gezogen, daß die Wirkung der Berufungsrücknahme in § 156 Abs. 2 SGG abweichend von § 515 Abs. 3 ZPO geregelt werden sollte, und zwar in dem Sinne, daß die Zurücknahme der Berufung den Verlust des Rechtsmittels überhaupt und nicht nur der eingelegten Berufung zur Folge haben soll.
§ 156 Abs. 2 SGG weicht überdies in seinem Wortlaut nicht nur von § 515 Abs. 3 ZPO, sondern auch von der entsprechenden Vorschrift der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vom 21. Januar 1960 (BGBl I 17) ab. In § 126 Abs. 2 VwGO ist die Wirkung der Berufungsrücknahme wie in § 515 Abs. 3 ZPO ausdrücklich auf die eingelegte Berufung beschränkt, Insoweit ist für die im vorliegenden Falle streitige Auslegungsfrage von Bedeutung, daß schon der Entwurf der VwGO (vgl. BR-Drucks. 007/53), der dem Gesetzgeber bei der Schaffung des SGG weitgehend als Vorbild diente, in § 125 Abs. 2 diesen eindeutigen Wortlaut aufwies. Besonders unter diesen Umständen hätte es nahegelegen, schon den Text der die Wirkung der Berufungsrücknahme regelnden Vorschrift in den Entwürfen eines Gesetzes über das Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit (Sozialgerichtsordnung, später Sozialgerichtsgesetz) dem § 125 Abs. 2 des Entwurfs der VwGO anzugleichen, wenn keine abweichende Regelung hiervon beabsichtigt gewesen wäre.
In diesem Zusammenhang verdient der zutreffende Hinweis des LSG Beachtung, daß der Wirkung der Berufungsrücknahme entsprechend unterschiedlich auch die Wirkung der Klagerücknahme im SGG und in der ZPO gestaltet worden ist. Während die Rücknahme der Klage im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit (§ 102 SGG) den Verlust des Rechtsbehelfs zur Folge hat, bewirkt die gleiche Prozeßhandlung im Zivilprozeß (§ 271 ZPO) lediglich, daß der Rechtsstreit als nicht anhängig geworden anzusehen ist, die Klage also von neuem erhoben werden darf, § 102 SGG unterscheidet sich auch von § 92 VwGO, der ebenfalls nicht die Folge einer endgültigen Erledigung des Streitverfahrens an die Klagerücknahme knüpft.
Soweit sich die Revision für ihre Ansicht, der Berufungsrücknahme im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit dürfe keine weitergehende Wirkung beigemessen werden als im Zivilprozeß, auf den Beschluß des LSG Nordrhein-Westfalen vom 12. Februar 1952, veröffentlicht in „Die Sozialgerichtsbarkeit” 1958, 290, beruft, läßt diese Entscheidung gegenüber den vorstehenden Ausführungen keine rechtlichen Gesichtspunkte erkennen, die eine dem Kläger günstige Auslegung des § 156 Abs. 2 SGG rechtfertigen könnten. Daß § 515 Abs. 3 ZPO nicht über § 202 SGG entsprechend anwendbar ist, weil die Zurücknahme der Berufung und ihre Folgen im SGG abschließend geregelt sind, ist in dem angefochtenen Urteil zutreffend unter Bezugnahme auf die oben erwähnte Entscheidung des BSG vom 8. November 1957 ausgeführt worden.
Der erkennende Senat hat deshalb die Frage nach der Wirkung der Berufungsrücknahme im Sinne des § 156 Abs. 2 SGG in Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil entschieden. Die Auffassung, daß die Berufungsrücknahme nach § 156 Abs. 2 SGG den Verlust des Rechtsmittels auf die Berufung überhaupt zur Folge habe, wird auch im Schrifttum fast einhellig vertreten (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. – 6. Aufl., Bd. I S. 252 d; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 3. Aufl., Anm. 3 zu § 156 SGG, S. III/80-6-; Hofmann-Schroeter, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, 2, Aufl., Anm. 2 zu § 156 S. 277; Rohwer-Kahlmann, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, S. K 542 Anm. III zu § 156 Randnote 6; Neugebauer in „Die Sozialgerichtsbarkeit” 1958, 290 und Lütje in „Die Sozialgerichtsbarkeit” 1962, 432; aA Miesbach/Ankenbrank, Sozialgerichtsgesetz, 1963, BV/8 S. 172 Anm. 4 zu § 156).
Hiernach war die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Unterschriften
Brackmann, Bundesrichter Dr. Baresel ist durch Urlaub an der Unterschrift verhindert Brackmann, Demiani
Fundstellen
Haufe-Index 926746 |
BSGE, 120 |