Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungsfall für die Zahlung von Mutterschaftsgeld
Leitsatz (amtlich)
Versicherungsfall für den Anspruch auf Mutterschaftsgeld nach RVO § 200a ist das Einsetzen der Phase der besonderen Schutzbedürftigkeit der werdenden Mutter, das mit dem Beginn des Mutterschaftsgeldes (RVO § 200a S 2 iVm § 200 Abs 3) zusammenfällt.
Tritt dieser Versicherungsfall binnen 3 Wochen nach dem Ausscheiden aus der Versicherung wegen Erwerbslosigkeit ein (RVO § 214), so hat die ehemalige Versicherte Anspruch auf das volle Mutterschaftsgeld.
Leitsatz (redaktionell)
1. Versicherungsfall für die Zahlung von Mutterschaftsgeld nach RVO § 200 und § 200a ist nicht die Entbindung, sondern der Beginn der Schutzfrist nach MuSchG § 3 Abs 2.
2. Beginnt die Schutzfrist nach MuSchG § 3 Abs 2 innerhalb der 3-Wochen-Frist des RVO § 214, so ist das Mutterschaftsgeld nicht nur bis zum Ablauf der 3-Wochen-Frist, sondern bis zum Ende des in RVO § 200 Abs 3 (RVO § 200a S 2) bestimmten Anspruchzeitraums zu zahlen.
Normenkette
RVO § 200a S. 2 Fassung: 1967-12-21, § 200 Abs. 3 Fassung: 1967-12-21, § 214 Fassung: 1911-07-19; MuSchG § 3 Abs. 2
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. Dezember 1970 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin gegen die beklagte Betriebskrankenkasse einen Anspruch auf Mutterschaftsgeld nach § 200 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) über den 20. Mai 1968 hinaus hat.
Die Klägerin war vom 30. August bis zum 23. Oktober 1967 bei der Firma Z GmbH in B beschäftigt; das Arbeitsverhältnis hat sie auf eigenen Wunsch aufgegeben. Anschließend war sie arbeitslos. Sie bezog vom 10. November 1967 bis zum 29. April 1968 Arbeitslosengeld bzw. Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe. Die Unterstützung wurde eingestellt, nachdem der ursprünglich gleichfalls arbeitslose Ehemann der Klägerin wieder Arbeit gefunden hatte. Aufgrund des vorerwähnten Beschäftigungsverhältnisses und der anschließenden Arbeitslosigkeit war die Klägerin Mitglied der Beklagten.
Die Klägerin wurde am 30. Juni 1968 von einer Tochter entbunden. In einer Bescheinigung des Dr. med. L, B, vom 13. Mai 1968 war als Tag der mutmaßlichen Entbindung der 22. Juni 1968 bezeichnet worden. Die Beklagte gewährte der Klägerin Mutterschaftsgeld nach § 200 a RVO für die Zeit vom 11. bis zum 24. Mai 1968; danach erhielt die Klägerin vom 25. Mai bis zum 30. Juni 1968 Hilfe zum Lebensunterhalt vom Sozialamt der Stadt B. Mit Bescheid vom 2. Juni 1969 lehnte die Beklagte die Zahlung weiteren Mutterschaftsgeldes ab: Der Anspruch auf das Mutterschaftsgeld nach § 200 a RVO habe, nachdem die voraussichtliche Entbindung für den 22. Juni 1968 ärztlich bescheinigt gewesen sei, am 11. Mai 1968 begonnen. Der Anspruch sei nur gegeben, sofern ein Versicherungsverhältnis bestehe oder die Entbindung in die Dreiwochen-Frist des § 214 RVO falle. Da das Versicherungsverhältnis am 29. April 1968 geendet habe und die Entbindung nicht innerhalb von drei Wochen nach diesem Zeitpunkt (bis zum 20. Mai 1968) eingetreten sei, habe die Zahlung des laufenden Mutterschaftsgeldes mit dem 20. Mai 1968 eingestellt werden müssen. Die irrtümlich über den 20. Mai hinaus bis zum 24. Mai 1968 gezahlten Beträge von insgesamt 32,24 DM würden zurückgefordert. Der Widerspruch der Klägerin bleib erfolglos.
Das Sozialgericht (SG) hat die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) B beigeladen und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Mutterschaftsgeld nach § 200 a RVO über den 20. Mai 1968 hinaus bis zum Ende der Schutzfrist nach § 6 Abs. 1 des Mutterschutzgesetzes zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten (vorbehaltlich eines Ersatzanspruches des Landes Niedersachsen wegen Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 25. Mai bis zum 30. Juni 1968) mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß an Stelle der vom SG bestimmten Frist für die Gewährung des Mutterschaftsgeldes (§ 6 Abs. 1 des Mutterschutzgesetzes - MuSchG -) die Frist des § 200 Abs. 3 Satz 1 RVO festgelegt würde.
Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Klägerin habe die Leistungsvoraussetzungen des § 214 Abs. 1 Satz 1 RVO erfüllt, da sie während des Bezugs von Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe nach den §§ 107, 111, 144 Abs. 1 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) versichert gewesen sei. Ihr ständen daher die Ansprüche aus § 214 RVO zu. Die Klägerin sei bei Beginn des für die Gewährung des Mutterschaftsgeldes maßgebenden Zeitraums, am 11. Mai 1968 (Beginn der sechsten Woche vor dem mutmaßlichen Tag der Entbindung, dem 22. Juni 1968), eine "andere Versicherte" (§ 200 a Satz 1 RVO) gewesen. Darunter würden solche Versicherte fallen, die nicht zu den in § 200 Abs. 1 Satz 1 RVO bezeichneten Anspruchsberechtigten gehörten. Als Voraussetzung des Anspruchs auf Mutterschaftsgeld nach § 200 a RVO verlange der Gesetzgeber nur das Versichertsein bei Beginn des Leistungsbezuges, eine Begrenzung auf eine Zeit vor Ablauf der Schutzfrist sei nicht mit dem Zweck des Gesetzes zu vereinbaren. Da die Klägerin bei Beginn der Sechswochen-Frist, dem 11. Mai 1968, Versicherungsschutz nach § 214 RVO gehabt habe, erfülle sie sämtliche Voraussetzungen des § 200 a Satz 1 RVO.
Dem Anspruch auf Mutterschaftsgeld stehe auch nicht entgegen, daß § 214 RVO den Eintritt des maßgeblichen Versicherungsfalles binnen drei Wochen nach dem Ausscheiden aus der Krankenkasse voraussetze. Auf die Entbindung könne es für den Anspruch auf Mutterschaftsgeld im Rahmen des § 214 RVO nicht abgestellt werden, die Vorschrift besage nach ihrem Sinn und Zweck, daß der Berechtigte so gestellt werde, als habe das Versicherungsverhältnis an dem Tage, für den es als Anspruchsvoraussetzung gefordert werde, noch bestanden.
Der Klägerin stehe demnach Mutterschaftsgeld nach § 200 a RVO bis zum Ablauf von acht Wochen nach der Entbindung zu. Ob ein Ersatzanspruch des Landes Niedersachsen als Träger der Sozialhilfe bestehe, brauche nicht entschieden zu werden, es genüge ein entsprechender Vorbehalt in der Urteilsformel.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Sie trägt vor: Die Anwendung des § 214 RVO setze voraus, daß der Versicherungsfall während der Erwerbslosigkeit und binnen drei Wochen nach dem Ausscheiden eintreten müsse. Versicherungsfall sei jedoch die Entbindung, wie sich aus der Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 4507 des Reichsversicherungsamts - RVA - (AN 1933, 9) ergebe. Dem stehe nicht die Regelung entgegen, daß das Mutterschaftsgeld unter bestimmten Voraussetzungen schon vor der Entbindung zu zahlen sei und daß diese Voraussetzungen u. a. durch das Zeugnis eines Arztes oder einer Hebamme über den mutmaßlichen Tag der Entbindung nachgewiesen werden müßten. Maßgebender Zeitpunkt sei die Entbindung, wie sich aus § 205 Abs. 3 RVO ergebe; hinzu komme noch, daß nicht nur für die einmaligen Leistungen der Mutterschaftshilfe wie ärztliche Betreuung usw., sondern auch für den Anspruch auf die laufende Zahlung "Mutterschaftsgeld" grundsätzlich das Bestehen eines Versicherungsverhältnisses vorausgesetzt werde. Bei der Klägerin sei der Anspruch auf Mutterschaftsgeld erst nach Beendigung ihrer Mitgliedschaft bei der Beklagten entstanden.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Niedersachsen vom 8. Dezember 1970 und des SG Braunschweig vom 23. März 1970 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die beigeladene AOK Braunschweig stellte keinen ausdrücklichen Antrag.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
II
Die Revision ist nicht begründet.
Nach § 107 AVAVG sind Arbeitslose während des Bezuges des Hauptbetrages durch die Bundesanstalt für Arbeit für den Fall der Krankheit versichert, wobei die Krankenversicherung grundsätzlich nach den Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung durchgeführt wird. Das gleiche gilt für die Zeit des Bezugs von Arbeitslosenhilfe (§ 144 Abs. 1 Satz 2 AVAVG). Nach § 108 Abs. 2 AVAVG stehen einem Arbeitslosen, der aus der Krankenversicherung ausscheidet, weil er keinen Hauptbetrag mehr bezieht, die Ansprüche aus § 214 RVO in derselben Weise zu, wie wenn er wegen Erwerbslosigkeit ausgeschieden wäre. Danach wird der Versicherungsschutz auf Versicherungsfälle ausgedehnt, die innerhalb von drei Wochen nach dem Ausscheiden des Mitglieds aus der Versicherung eintreten. Diese Vorschrift gilt auch für Versicherte im Sinne des § 200 a RVO wie die Klägerin. Diese Versicherten behalten somit nach ihrem Ausscheiden aus der Versicherung unter der Voraussetzung des fristgemäßen Eintritts des Versicherungsfalles den Anspruch auf die Regelleistungen wie das Mutterschaftsgeld. Nach § 200 a RVO erhalten andere Versicherte (als die in § 200 RVO bezeichneten, in einem Arbeitsverhältnis stehenden), die bei Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Krankengeld haben, unter den in dieser Vorschrift näher bezeichneten Voraussetzungen Mutterschaftsgeld. Dabei gilt § 200 Abs. 3 RVO entsprechend: das Mutterschaftsgeld wird für sechs Wochen vor der Entbindung und für acht (u. U. zwölf) Wochen nach der Entbindung gewährt.
Da die Klägerin während der Zeit ihres Bezugs von Arbeitslosengeld, späterhin der Unterstützung aus der Arbeitslosenhilfe eine "andere Versicherte" im Sinne des § 200 a RVO war und auch die weitere Voraussetzung für den Anspruch auf Mutterschaftsgeld - die in dieser Vorschrift festgesetzte Vorversicherungszeit - erfüllte, hängt der Anspruch auf diese Regelleistung für die hier strittige Zeit nach § 214 RVO allein davon ab, ob der Versicherungsfall binnen drei Wochen nach dem Ausscheiden der Klägerin aus der Versicherung - dem 29. April 1968 - eingetreten ist. Zu Unrecht sieht die Revision in der Entbindung den hier maßgeblichen Versicherungsfall. Zwar hat das RVA in seinen beiden Grundsätzlichen Entscheidungen (Nr. 4507 vom 19. Oktober 1932 und Nr. 4623 vom 12. April 1930 - AN 1933, 9, 228) die Entbindung als den Versicherungsfall für den Anspruch auf Wochengeld angesehen. Der Große Senat des RVA hatte trotz der Bedenken seines Ersten Revisionssenats an seiner Rechtsprechung festgehalten, daß Versicherungsfall für die Ansprüche auf Wochenhilfe und auf Familienwochenhilfe - mit Ausnahme der Leistungen aus Anlaß von Schwangerschaftsbeschwerden - die Entbindung sei, obwohl gegenüber dem früheren Rechtszustand durch Einfügung des § 195 a Abs. 3 RVO aF (Art. 3 des Zweiten Gesetzes über Abänderung des Zweiten Buches der RVO vom 9. Juli 1926; RGBl I 407) eine entscheidende Änderung insofern eingetreten war, als nunmehr Wochenhilfeleistungen für den Zeitraum vor der Entbindung bereits vor diesem Zeitpunkt fällig wurden (vgl. RVA in AN 1933, 9, 10). Im Hinblick auf § 195 a Abs. 7 RVO aF, wonach der Anspruch der Versicherten auch dann bestehen blieb, wenn diese wegen ihrer Schwangerschaft innerhalb von sechs Wochen vor der Entbindung aus der Versicherung ausgeschieden war, führte diese Rechtsprechung im allgemeinen nicht zu Härten für Versicherte, die kurz vor der Entbindung aus dem Versicherungsverhältnis ausgeschieden waren. Ob ihr dessen ungeachtet für das alte Recht zu folgen ist, kann jedoch dahinstehen. Für das wesentlich geänderte Recht der Mutterschaftshilfe nach dem Finanzänderungsgesetz 1967 kann sie jedenfalls nicht übernommen werden. Auch für dieses Teilgebiet der gesetzlichen Krankenversicherung gilt der das gesamte Sozialversicherungsrecht beherrschende Grundsatz, daß Versicherungsfall das Ereignis im Leben des Versicherten ist, das bei seinem Eintritt spezifische Gefährdungen und Nachteile für den Versicherten mit sich bringt, gegen die die Versicherung Schutz gewähren soll (vgl. BSG 20, 48, 50; 22, 123; BSG vom 5. März 1965 in SozR Nr. 2 zu § 1276 RVO). Der Versicherungsfall ist somit das Ereignis, dessen Eintritt die Leistungspflicht versicherungstechnisch - d. h. abgesehen vom Vorliegen der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen - begründet (vgl. die Definition im Regierungsentwurf zu § 1 des Versicherungsvertragsgesetzes - Reichstags-Drucks. Nr. 364 (12. Legislaturperiode, I. Session 1907), Anl. 1 S. 12; zitiert bei Langkeit, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, 1966, 31, 33).
Hiernach aber ist es ausgeschlossen, daß Leistungspflichten in der Sozialversicherung durch ein Ereignis ausgelöst werden, das in der Zukunft liegt und dessen Eintritt ungewiß ist. Auch bei den verschiedenen Leistungen der Mutterschaftshilfe (vgl. § 195 RVO) ist daher Versicherungsfall jeweils das Ereignis, das das der jeweiligen Leistung eigentümliche Versicherungsrisiko verwirklicht und durch seinen Eintritt die Leistungspflicht begründet. Bei dem sechs Wochen vor der Entbindung einsetzenden Mutterschaftsgeld, das ohne Rücksicht auf eine tatsächliche spätere Entbindung zu gewähren ist, solange die Schwangerschaft besteht, kann daher Versicherungsfall nur das Einsetzen der Phase der besonderen Schutzbedürftigkeit der werdenden Mutter sein, das mit dem Beginn des Mutterschaftsgeldes (§ 200 Abs. 3 RVO) zusammenfällt.
Da der Versicherungsfall innerhalb der Dreiwochen-Frist des § 214 RVO eingetreten ist, hat die Klägerin Anspruch auf die geforderten Leistungen, und zwar nicht nur bis zum Ablauf der Dreiwochen-Frist, sondern für die gesamte Dauer der Leistungen. Wenn der Versicherungsfall innerhalb der Dreiwochen-Frist des § 214 Abs. 1 RVO eintritt, sind die vollen gesetzlichen Leistungen zu gewähren, soweit nicht § 214 RVO eine ausdrückliche Ausnahme macht.
Die Revision muß daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 1669375 |
BSGE, 270 |