Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des Versicherungsschutzes bei einem Unfall, den ein Versicherter bei Ausübung einer versicherten Tätigkeit durch einen wesentlich aus persönlicher Rache unternommenen Angriff erlitten hat.
Leitsatz (redaktionell)
Der Anspruch auf Entschädigung aus der gesetzlichen UV setzt einen erlittenen Arbeitsunfall voraus, dh der Versicherte muß bei einer der in RVO §§ 537 - 540 genannten Tätigkeiten verunglückt sein (RVO § 542). Neben dem äußeren (örtlichen und zeitlichen) Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit erfordert der Begriff des Arbeitsunfalles einen inneren (ursächlichen) Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis (Angriff) und der Berufstätigkeit. Entscheidend für die Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang sind in der Regel die Beweggründe, die den Angreifer zu seinem Vorgehen bestimmt haben. Sind diese in Umständen zu suchen, die in keiner Verbindung mit der versicherten Tätigkeit des Verletzten stehen, so fehlt es auch an dem erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09, §§ 537-540
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. Juli 1958 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der im Jahre 1894 geborene Kläger ist als selbständiger Fleischermeister Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft (BG). Kurz vor Weihnachten 1953 hatte er von dem Landwirt H B in B eine Schlachtgans gekauft, die für seinen Haushalt bestimmt war. Als die Tochter des Landwirts die geschlachtete Gans abgeliefert hatte, hatte der Kläger dem Tier Kopf, Beine und Flügel abgehackt, um auf ein niedrigeres Gewicht und damit auf einen niedrigeren Kaufpreis zu kommen. - Am 2. Januar 1954 ging der Kläger wieder in B seinem Geschäft nach; er verhandelte mit mehreren Bauern über Viehkäufe. Gegen 18 Uhr suchte er eine Gaststätte auf, um einen Imbiß einzunehmen. Bei dieser Gelegenheit trat er an den am Schanktisch stehenden 33-jährigen B B - dieser ist, was der Kläger damals nicht wußte, ein Sohn des vorerwähnten Landwirts H B - heran und fragte ihn, ob er ein Schlachtkalb zu verkaufen habe. Der Angesprochene erwiderte: "An Dich Ganoven verkauf' ich nix mehr, Du hast ja der Gans die Pütjes abgeschlagen!" Sodann schlug D dem Kläger mit der Faust so schwer ins Gesicht, daß dieser einen dreifachen Unterkieferbruch erlitt. Deswegen ist B vom Schöffengericht B mit 300.- DM Geldstrafe bestraft worden.
Den Anspruch des Klägers auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 16. Juni 1954 ab, weil die Ursache der Tätlichkeit nicht in der an B gerichteten Frage nach Schlachtvieh, sondern in dem Verkauf der Weihnachtsgans, also in einer mit dem Fleischereibetrieb des Klägers nicht zusammenhängenden Angelegenheit, zu suchen sei.
Auf die rechtzeitig erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Münster die Beklagte unter Aufhebung ihres ablehnenden Bescheides verurteilt, den Unfall des Klägers vom 2. Januar 1954 als Arbeitsunfall zu entschädigen. Es hat ausgeführt: Die an B gerichtete Frage sei eine notwendige Voraussetzung für den Abschluß eines Handelsgeschäftes gewesen und somit der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Sie sei aber auch eine wesentliche Ursache für die folgende Körperverletzung gewesen. Hätte der Kläger B nicht nach einem Handelsvieh gefragt, so wäre die tätliche Auseinandersetzung wahrscheinlich unterblieben; denn das Stichwort "Verkauf" habe bei B die Erinnerung an den Verkauf der Weihnachtsgans wachgerufen und so das auslösende Moment für die Tätlichkeit gebildet. Der wesentliche Anlaß für die Verletzung des Klägers liege also unmittelbar in dessen versicherter Betriebstätigkeit. Selbst wenn der Zusammenhang mit dieser Tätigkeit durch das Aufsuchen der Gaststätte unterbrochen worden sei, so sei er doch spätestens durch die an Bolwerk gerichtete geschäftliche Frage wiederhergestellt worden.
Die Berufung der Beklagten hat Erfolg gehabt. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat durch Urteil vom 11. Juli 1958 unter Änderung des erstinstanzlichen Urteils die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt: B habe den Kläger aus persönlichen, nicht aus betrieblichen Gründen verletzt. Zwar sei dies auf die Frage nach einem Schlachtkalb geschehen, die Frage sei aber nicht der Beweggrund für den Schlag gewesen. Beweggrund sei vielmehr die aus Anlaß der Frage bei B wachgerufene Erregung über den zwei Wochen zurückliegenden Vorfall beim Verkauf der Weihnachtsgans gewesen. Dieser Beweggrund sei der persönlichen Sphäre des B entsprungen. Ohne die vorausgegangene Übervorteilung seiner Schwester hätte B den Kläger wahrscheinlich nicht geschlagen. Die an B gerichtete Frage des Klägers sei lediglich der Anlaß, nicht aber der Grund für den Faustschlag gewesen. - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 30. September 1958 zugestellt worden. Am 1. November 1958 ist beim Bundessozialgericht (BSG) eine von dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers unterzeichnete Revisionsbegründungsschrift eingegangen. Auf den Hinweis des Gerichts, daß eine Revisionsschrift nicht vorliege, hat der Kläger am 11. November 1958 durch seinen Prozeßbevollmächtigten die Revisionseinlegung nachgeholt und beantragt, ihm wegen der Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zur Begründung dieses Antrags trägt er vor, die Revisionsschrift sei am 23. Oktober 1958 in seinem Büro angefertigt und unterschrieben sowie abends zur Post gegeben worden; wenn sie beim BSG nicht bis zum 30. Oktober 1958 eingegangen sei, so beruhe dies nicht auf einem Verschulden des Klägers.
Zur Glaubhaftmachung seiner Behauptungen hat der Kläger eidesstattliche Erklärungen des im Büro seines Prozeßbevollmächtigten beschäftigten Amtsgerichtsrats z. Wv. S und der Büroangestellten Frau B vorgelegt, ferner den Entwurf und eine Maschinenabschrift der Revisionsschrift vom 23. Oktober 1958.
In der Sache selbst rügt der Kläger Verletzung des § 542 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Er führt aus: Der Gasthausaufenthalt habe, weil er der Stärkung des Klägers während einer Geschäftsfahrt gedient habe, unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden. Jedenfalls aber habe der Kläger den Zusammenhang mit seiner betrieblichen Tätigkeit in dem Augenblick wiederhergestellt, in dem er B B nach einem Schlachtkalb gefragt habe. Auch der ursächliche Zusammenhang zwischen der betrieblichen Tätigkeit und dem Unfallereignis sei gegeben. Zwar sei eine der Ursachen für die Verletzung des Klägers der Umstand gewesen, daß B sich aus einem privaten, nicht der betrieblichen Sphäre des Klägers zuzurechnenden Grunde an diesem habe rächen wollen. Es sei jedoch unwahrscheinlich, daß B den Kläger angegriffen hätte, wenn er von ihm nicht angesprochen worden wäre. Man müsse an die Möglichkeit denken, daß B gerade die an ihn gerichtete Frage in Anbetracht des vorangegangenen Gänsegeschäfts als besondere Unverschämtheit aufgefaßt und sich nur deswegen zu der Gewalttätigkeit habe hinreißen lassen. Die betriebliche Tätigkeit des Klägers - in Gestalt der Frage nach einem Schlachtkalb - sei also eine rechtlich wesentliche Mitursache des Unfalls gewesen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen des Ereignisses vom 2. Januar 1954 Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Zu dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat sie keine Erklärung abgegeben. In der Sache selbst sieht sie die rechtlich allein wesentliche Ursache für den Faustschlag in der Empörung des B über das Verhalten des Klägers beim Abwiegen der Schlachtgans; die von dem Kläger an B gerichtete Frage nach einem Schlachtkalb wertet sie als bloße Gelegenheitsursache.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Senat hat von der Befugnis, in dieser Weise zu verfahren (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), Gebrauch gemacht.
II
Die kraft Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist erst nach Ablauf der Monatsfrist des § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG eingelegt worden. Die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG stand dem Kläger nicht zur Verfügung, weil die Rechtsmittelbelehrung richtig erteilt worden ist. Der Kläger hat somit die Frist zur Einlegung der Revision versäumt. Seinem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist ist jedoch stattzugeben, weil der Kläger ohne sein Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten (§ 67 Abs. 1 SGG). Er hat durch eidesstattliche Erklärungen des Amtsgerichtsrates z. Wv. S und der Büroangestellten Frau B i. V. m. dem Entwurf und einer Maschinenabschrift der beim BSG nicht eingegangenen Revisionsschrift glaubhaft gemacht, daß diese am 23. Oktober 1958 angefertigt, von Rechtsanwalt Dr. W unterzeichnet und mit der richtigen Anschrift des BSG am Abend des 23. Oktober zur Post gegeben worden ist. Daß sie nicht bis zum 30. Oktober 1958, dem Tage des Fristablaufs, beim BSG eingegangen ist, beruht nicht auf einem Verschulden des Klägers oder seines Prozeßbevollmächtigten. Da der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand innerhalb der Monatsfrist des § 67 Abs. 2 SGG gestellt und die versäumte Rechtshandlung auch innerhalb dieser Frist nachgeholt worden ist, gilt die Revision somit als den Erfordernissen des Gesetzes entsprechend eingelegt.
In der Sache selbst hatte die Revision keinen Erfolg. Einen Anspruch auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung hätte der Kläger nur, wenn er einen Arbeitsunfall erlitten hätte, d. h., wenn er bei einer der in §§ 537 bis 540 RVO genannten Tätigkeit verunglückt wäre (§ 542 RVO). Ob der gesamte Aufenthalt des Klägers in der Gaststätte, wie die Revision meint, seiner unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehenden Betriebstätigkeit zuzurechnen ist, bedurfte nicht der Entscheidung. Der Kläger war jedenfalls zu der Zeit, als er den ihn in seiner Gesundheit schädigenden Faustschlag erhielt, im Interesse seines Fleischereibetriebes tätig; denn er hatte sich bei B B nach einer Gelegenheit zum Kauf eines Schlachtkalbes erkundigt und wartete auf die Beantwortung seiner Frage. Damit war aber nur ein äußerer - örtlicher und zeitlicher - Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit begründet worden.
Darüber hinaus erfordert der Begriff des Arbeitsunfalls, wie auch die Revision nicht verkennt, einen inneren (ursächlichen) Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und jener Tätigkeit. Besteht - wie im vorliegenden Falle - das Unfallereignis darin, daß ein Versicherter vorsätzlich angegriffen und verletzt worden ist, so kommt es darauf an, ob ein ursächlicher Zusammenhang i. S. der Unfallversicherung zwischen dem Angriff und der versicherten Tätigkeit gegeben ist (vgl. BSG 6, 164, 167 ff und 10, 56, 60 mit weiteren Nachweisen, vor allem EuM 20, 88). Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage sind in der Regel die Beweggründe, die den Angreifer zu seinem Vorgehen bestimmt haben (vgl. RVA EuM 20, 88; BSG 6, 168). Sind diese in Umständen zu suchen, die in keiner Verbindung mit der versicherten Tätigkeit des Verletzten stehen, so fehlt es auch an dem erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit. Im vorliegenden Falle ist, wie sich den dem Faustschlag unmittelbar vorausgegangenen Worten des Angreifers entnehmen läßt und wie auch die Revision nicht verkennt, die Tätlichkeit vor allem aus der Verärgerung des B B über den Vorfall mit der Gans zu erklären. Dieses Motiv entsprang - darin stimmen die Beteiligten überein - nicht der versicherten Tätigkeit des Klägers, weil die Weihnachtsgans nicht zum Verkauf in der Fleischerei, sondern zum Verbrauch im Haushalt bestimmt war. Die Revision meint jedoch, Beweggrund für die Tätlichkeit sei auch der Umstand gewesen, daß der Kläger trotz seiner von der Familie B als unredlich empfundenen Verhaltensweise beim Abwiegen der Gans die Dreistigkeit besessen habe, einem Mitglied der Familie den Abschluß eines neuen Geschäfts zuzumuten. Selbst wenn man dieser Auffassung zustimmt und somit in der Fragestellung des Klägers nicht nur, wie es das LSG getan hat, einen rechtlich bedeutungslosen Anlaß, sondern ein Teilmotiv für den Angriff und damit eine zusätzliche Bedingung für das Unfallereignis sieht, so sind die nebeneinander stehenden Motive und damit die beiden Bedingungen für den Eintritt des Unfallereignisses auch nicht annähernd rechtlich gleichwertig. Der Verärgerung über den Vorfall mit der Gans kommt nach der Auffassung des Senats eine so überragende Bedeutung zu, daß ihr gegenüber das möglicherweise vorhandene zweite Motiv nebensächlich ist und deshalb nicht als rechtlich wesentlich gewertet werden darf. Rechtlich wesentliches Motiv und somit Ursache im Rechtssinne für die Tätlichkeit ist allein die Verärgerung des B über das mit dem Fleischereibetrieb nicht zusammenhängende Verhalten des Klägers beim Abwiegen der Gans (vgl. auch Urt. des BSG vom 1. Dezember 1960 - 5 RKn 66/59).
Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit des Klägers läßt sich auch nicht aus anderen Umständen als den Beweggründen des Angreifers herleiten. Bei Überfällen ist ein solcher Zusammenhang in der Rechtsprechung zuweilen angenommen worden, wenn die Abgelegenheit der Arbeitsstätte oder der einsame Weg von oder nach der Arbeitsstätte den Überfall erst ermöglicht oder in entscheidender Weise begünstigt hatte (vgl. zB RVA EuM 22, 100; OVA Freiburg, Breith. 1953, 841, 843). Ob dieser Auffassung in Fällen zuzustimmen ist, in denen der Angreifer aus rein persönlichen Gründen, wie Rache oder Verärgerung, gehandelt hat, konnte dahinstehen, weil im vorliegenden Falle der Angreifer keine jener Umstände, die seinen Angriff wesentlich hätten begünstigen können, ausgenutzt hat, sondern in einer Gastwirtschaft in Gegenwart von anderen Gästen gegen den Kläger vorgegangen ist. Der Vorfall hätte sich in ähnlicher Weise an jedem anderen Ort, an dem der Angreifer dem Kläger begegnet wäre, sei es in Barlo oder am Wohnsitz des Klägers oder sonstwo, abspielen können.
Das LSG hat hiernach mit Recht das den Kläger schädigende Ereignis nicht als Arbeitsunfall gewertet. Die Revision des Klägers war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2351493 |
BSGE, 290 |