Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtliches Gehör bei Entscheidung über Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Gerichtsorganisation
Leitsatz (amtlich)
Zur Verletzung rechtlichen Gehörs im Wiedereinsetzungsverfahren.
Leitsatz (redaktionell)
Es kann nicht dem Bürger angelastet werden, wenn eine Behörde den fristgerechten Eingang eines Schriftstückes dadurch vereitelt, daß sie zwar einen eigenen Abholdienst bei der Post unterhält, zugleich aber durch dessen Organisation den Bürger schlechter stellt, als es bei einer Anlieferung der Schriftstücke durch Zusteller der Deutschen Bundespost an die Behörde der Fall wäre. Wird der Antrag auf Wiedereinsetzung trotz der mangelhaften Organisation des Postabholdienstes verweigert, wird der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1; StPO § 44
Verfahrensgang
OLG München (Entscheidung vom 01.09.1981; Aktenzeichen 2 Ws 731/81 K) |
OLG München (Beschluss vom 09.07.1981; Aktenzeichen 2 Ws 731, 732/81 K) |
Tenor
Der Beschluß des Oberlandesgerichts München vom 9. Juli 1981 – 2 Ws 731, 732/81 K – verletzt Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
A.
I.
1. Durch Beschluß vom 20. Mai 1981 stellte das Landgericht München II ein Privatklageverfahren, in dem die Beschwerdeführerin Privatbeklagte und Widerklägerin war, auch hinsichtlich der Widerklage gemäß § 383 Abs. 2 Satz 1 StPO ein und traf wegen des gesamten Verfahrens die Kostenentscheidung dahin, daß jede Partei die Hälfte der Verfahrenskosten und ihre notwendigen Auslagen zu tragen habe. Der Beschluß wurde dem Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 1. Juni 1981 zugestellt. Die Frist für die sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung endete am 9. Juni 1981, da der 8. Juni Pfingstmontag war. Die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin vom 8. Juni 1981 trägt den Eingangsstempel der Justizbehörden in München vom 10. Juni 1981. Das Oberlandesgericht München verwarf die sofortige Beschwerde durch Beschluß vom 23. Juni 1981 als unzulässig, weil verspätet (§ 464 Abs. 3 Satz 1 StPO).
2. Gegen die Versäumung der Beschwerdefrist beantragte die Beschwerdeführerin am 2. Juli 1981 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Sie habe den Beschwerdeschriftsatz am 8. Juni 1981 beim Postamt Friedrichshafen eingeliefert. Der normale Postlauf betrage von Friedrichshafen über Ulm nach München einen Tag, so daß die sofortige Beschwerde am 9. Juni 1981 vormittags bei den Justizbehörden in München hätte eintreffen müssen. Wenn die Postbeförderung länger als den Regelverbindungen entsprechend gedauert habe, habe nicht sie dies zu vertreten.
Dem Antrag waren zur Glaubhaftmachung eine Auskunft der Deutschen Bundespost, Postamt 1 Friedrichshafen, über die normale Postlaufzeit und eine eidesstattliche Versicherung des Sohnes der Beschwerdeführerin über den Einwurf des Briefes am 8. Juni 1981 gegen 18.40 Uhr beigefügt.
Das Oberlandesgericht München lehnte durch Beschluß vom 9. Juli 1981 den Wiedereinsetzungsantrag der Beschwerdeführerin ab und verwarf (nochmals) ihre sofortige Beschwerde gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung des Landgerichts als unzulässig. Der Antrag auf Wiedereinsetzung sei gemäß §§ 44 ff. StPO statthaft; er sei auch rechtzeitig angebracht. Die Beschwerdeführerin lege jedoch die Gründe für das Nichtverschulden nicht dar und mache sie weder mit der Postauskunft noch mit der eidesstattlichen Versicherung ihres Sohnes glaubhaft (§ 45 Abs. 1 und 2 StPO). Durch die eidesstattliche Versicherung des Zeugen werde bestätigt, daß der Brief am 8. Juni 1981 gegen 18.40 Uhr in den Briefkasten vor dem Postamt 1 in Friedrichshafen geworfen worden sei. Aus der Postauskunft ergebe sich, daß der Brief bei regelmäßiger Beförderung am 9. Juni 1981 vormittags beim Postamt München 35 zur Auslieferung hätte eintreffen müssen. Damit sei aber der Eingang des Briefes bei den zuständigen Justizbehörden nicht möglich. Diese holten ihre Briefpost beim Postamt München 35 selbst ab, und zwar durch die Kurswagen dieser Behörden regelmäßig nur einmal am Tag vormittags. Selbst wenn der Brief zu dem frühen Zeitpunkt der Abholung morgens um ca. 8.00 Uhr bereits das Postamt 35 erreicht haben sollte, wäre die Abholung durch die Justizbehörden am 9. Juni 1981 nicht sichergestellt gewesen, da infolge der Feiertage mit einem Poststau zu rechnen gewesen sei, der es den Postbeamten unmöglich mache, sämtliche eingegangene Post bereits vor 8.00 Uhr nach Behörden zu sortieren.
Nach Zugang des Beschlusses des Oberlandesgerichts München vom 9. Juli 1981 beantragte die Beschwerdeführerin gemäß § 33 a StPO Nachholung des rechtlichen Gehörs. Es seien in dem Beschluß zu ihrem Nachteil Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet worden, zu denen sie nicht gehört worden sei, was den Posteingang in München und insbesondere die Abholung durch die Justizbehörden angehe. Die von dem Oberlandesgericht zugrunde gelegten Tatsachen erschienen überdies unzutreffend. Dies ergebe sich aus der zur Glaubhaftmachung beigefügten Auskunft des Leiters des Postamtes 35 in München, die lautet:
Die Briefsendungen der Morgenpost (auch Nachtluftpost) werden dem Postamt 35 im Regelfall mit Ortspost Kurs 3/1 um 6.25 Uhr und Ortspost Kurs 5/1 um 7.45 Uhr zugeleitet. Die Sendungen werden sofort nach Eingang verteilt. Die verteilten Sendungen liegen ab 7.45 Uhr den Justizbehörden zur Abholung bereit. Die Verteilung ist spätestens um ca. 9.00 Uhr beendet.
Die Abholzeiten der verschiedenen Dienststellen der Justiz können wir Ihnen leider nicht mitteilen, könnten aber von Ihnen bei diesen Dienststellen erfragt werden.
An Samstagen, sowie an Sonn- und Feiertagen ist das Postamt 35 geschlossen.
Wenn es zutreffe, daß die Justizbehörden in München ihre Briefabholung nur einmal kurz nach 8.00 Uhr durchführten, obwohl es ihnen bekannt sein müsse, daß die Briefverteilung der gesamten Post an allen Arbeitstagen, nicht nur nach einem Feiertag, erst gegen 9.00 Uhr beendet sei, dann habe es nicht die Beschwerdeführerin zu vertreten, wenn die am Pfingstmontag aufgegebene sofortige Beschwerde nicht am Dienstag danach dem Gericht zugegangen sei. Der angebliche Poststau am 9. Juni 1981 sei ohne jeden Einfluß. Es sei Sache der Justizbehörden, die tägliche Briefabholung so einzurichten, daß diese erst nach vollständiger Briefverteilung nicht vor 9.00 Uhr erfolge. Nur so sei gewährleistet, daß ein Brief, den Regelverbindungen der Post entsprechend, den Adressaten fristgerecht erreiche.
Das Oberlandesgericht München beschloß am 1. September 1981, daß es bei dem Senatsbeschluß vom 9. Juli 1981 sein Bewenden habe. Die Gegenvorstellungen der Beschwerdeführerin erwiesen sich in der Sache als unbegründet. Die Beschwerdeführerin habe weder dargelegt noch glaubhaft gemacht, daß ihr Beschwerdeschreiben das Postamt München 35 spätestens mit der Ortspost Kurs 5/1 um 7.45 Uhr erreicht habe. Ein späterer Postzugang zu diesem Postamt erfolge nach der eigenen Darstellung der Beschwerdeführerin und auch nach der Auskunft des Postamtes nicht. Selbst wenn also die Justizbehörden nach der Postabholung um etwa 8.00 Uhr im Laufe des Tages eine weitere Abholung veranlaßten, stoße diese ins Leere. Nur für den im Senatsbeschluß vom 9. Juli 1981 angesprochenen theoretischen Fall, daß der Brief der Beschwerdeführerin bereits mit dem Postkurs um 7.45 Uhr beim Postamt 35 in München eingegangen, infolge eines Poststaus jedoch nicht mehr rechtzeitig habe sortiert und von den Justizbehörden um etwa 8.00 Uhr mitgenommen werden können, liege ein Verschulden nicht bei der Beschwerdeführerin, sondern außerhalb ihrer Einflußsphäre. Diesen Gang der Dinge habe sie aber weder dargelegt noch glaubhaft gemacht. Insbesondere lasse sich aus der Postauskunft des Postamtes Friedrichshafen ein Zugang des Briefes beim Postamt München 35 spätestens mit dem Kurs der Ortspost um 7.45 Uhr nicht entnehmen.
Der Beschluß ging der Beschwerdeführerin am 9. September 1981 zu.
II.
Mit der am 9. Oktober 1981 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Zur Begründung trägt sie unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im wesentlichen vor, Differenzierungen danach, ob die Postverzögerung auf einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post (z. B. vor Feiertagen), auf einer zeitweise verminderten Dienstleistung der Post (z. B. an Wochenenden) oder auf der Nachlässigkeit eines Bediensteten beruhe, seien unzulässig. Der Betroffene habe nicht darzutun, daß seine Rechtsmittelschrift tatsächlich zu einer bestimmten Uhrzeit bei einem bestimmten Zustellpostamt angelangt sei. Vielmehr genüge es, wenn er darlege, daß seine Rechtsmittelschrift dort bei regulärem Postlauf rechtzeitig eingegangen wäre. Dies aber habe die Beschwerdeführerin getan. Es ergebe sich zweifelsfrei aus der Auskunft des Postamtes Friedrichshafen, daß der Brief vormittags am 9. Juni 1981 beim Postamt 35 in München zur Auslieferung hätte eintreffen müssen.
III.
1. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Auskunft der Deutschen Bundespost – Postamt 1 Friedrichshafen – eingeholt. In ihr heißt es u. a.:
Die Briefkasten am Postamt Friedrichshafen 1, Bahnhofsplatz 1, werden sonn- und feiertags u. a. um 16.00, 19.00 und 20.00 geleert.
Die ihnen entnommenen Sendungen werden, wenn ihre Auslieferung am Bestimmungsort am kommenden Werktag möglich ist, nach dorthin abgesandt. Es sind organisatorische und betriebliche Vorkehrungen getroffen, daß ein beispielsweise am Pfingstmontag, dem 08. Juni 1981 bis 20.00 Uhr in einen Briefkasten am Postamt Friedrichshafen 1, Bahnhofsplatz 1, eingeworfener Brief am darauffolgenden Werktag, Dienstag, dem 09. Juni 1981 in der Regel in München ausgeliefert werden kann …
Nach unseren Leitunterlagen hätte der genannte Brief mit folgenden Zügen befördert werden müssen: Friedrichshafen ab 22.11 Uhr mit Zug E 418, Ulm an 23.32 Uhr, Ulm ab 01.51 Uhr mit Zug E 2365, München Hauptbahnhof an 03.50 Uhr.
2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz, dem Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde, hat von einer Stellungnahme abgesehen.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
I.
Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, daß im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden dürfen. Die Deutsche Bundespost hat für die Beförderung von Briefen das gesetzliche Monopol. Der Bürger kann darauf vertrauen, daß die von der Deutschen Bundespost nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten auch eingehalten werden. Versagen diese Vorkehrungen, so darf ihm das, da er darauf keinen Einfluß hat, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zur Last gelegt werden (vgl. BVerfGE 53, 25 (29) m. w. N.). Dies gilt auch dann, wenn die Fristversäumnis auf Verzögerungen bei der Entgegennahme der Sendung durch das Gericht beruht, die er nicht zu vertreten hat (vgl. BVerfGE 41, 23 (27); 41, 323 (327 f.); 44, 302 (306)).
II.
Das Oberlandesgericht München hat bei der Anwendung und Auslegung der §§ 44 f. StPO die sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und Art. 103 Abs. 1 GG ergebenden Verfahrensgarantien nicht hinreichend beachtet.
Das Oberlandesgericht zieht nicht in Zweifel, daß der Brief mit der Beschwerdeschrift am 8. Juni 1981 gegen 18.40 Uhr in den Briefkasten am Postamt Friedrichshafen 1 gelangt ist. Nach der Auskunft des Postamtes Friedrichshafen 1 hätte der Brief bei normalem Postlauf rechtzeitig am 9. Juni 1981 zur Auslieferung beim Postamt München 35 eintreffen müssen. Wie sich weiter aus der Auskunft des Postamtes München 35 ergibt, liegt die Möglichkeit, daß der Brief trotz normalen Beförderungsablaufes nicht am Tage des Eingangs beim Postamt München 35 dem Adressaten zugeht, in den besonderen Vorkehrungen der Justizbehörden begründet, die ihre Post nur einmal täglich gegen 8.00 Uhr, d. h. vor Abschluß der letzten Sortiervorgänge gegen 9.00 Uhr, abholen. Ein hierauf beruhender Eingang des Briefes erst am 10. Juni 1981 kann jedoch der Beschwerdeführerin ebensowenig zugerechnet werden wie eine vom gewöhnlichen Ablauf abweichende Beförderungszeit bei der Deutschen Bundespost. Denn es kann nicht dem Bürger angelastet werden, wenn eine Behörde den fristgerechten Eingang eines Schriftstückes dadurch vereitelt, daß sie zwar einen eigenen Abholdienst bei der Post unterhält, zugleich aber durch dessen Organisation den Bürger schlechter stellt, als es bei einer Anlieferung der Schriftstücke durch Zusteller der Deutschen Bundespost an die Behörde der Fall wäre (vgl. BVerfGE 41, 23 (27), 323 (327 f.); 44, 302 (306 f.)).
Der angegriffene Beschluß beruht auf dem gerügten Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Oberlandesgericht München der Beschwerdeführerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hätte, wenn es bei der Auslegung der §§ 44 f. StPO den verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien hinreichend Rechnung getragen hätte.
Der Beschluß vom 9. Juli 1981 war daher aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht München zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Der Beschluß vom 1. September 1981 ist damit gegenstandslos.
Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1611090 |
BVerfGE, 216 |