Entscheidungsstichwort (Thema)
Berichtigung rechtskräftiger Veranlagungen wegen Bilanzänderung. Adressierung von Bescheiden an gelöschte OHG
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, die die Berichtigungsvorschrift des § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG anwendet, wenn bei Änderung der Bilanzansätze diese sich kraft des Bilanzzusammenhangs auf spätere, bereits rechtskräftige Veranlagungen auswirken (Folgeänderung), ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
2. Art. 3 Abs. 1 GG verlangt nicht, daß eine einmal höchstrichterlich entschiedene Rechtsfrage niemals mehr anders entschieden werden dürfte.
3. Das dem Rechtsstaatsprinzip zu entnehmende Rückwirkungsverbot gilt in erster Linie für den Gesetzgeber. Das Vertrauen in die Gleichmäßigkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist verfassungskräftig nicht so absolut geschützt wie das Vertrauen in den Bestand abgeschlossener, gesetzlich geregelter Rechtslagen. Die Gerichte dürfen einer geläuterten Rechtsansicht zum Durchbruch verhelfen und dabei die Erfahrungen verwerten, die später anhängige Verfahren vermitteln.
4. Die Annahme des Bundesfinanzhofs, eine Personengesellschaft in Liquidation bestehe bis zur Vollbeendigung fort, d. h. bis alle gemeinsamen Rechtsbeziehungen, zu denen auch das Rechtsverhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Finanzamt gehört, beseitigt sind, ist rechtlich möglich und nicht willkürlich.
5. Ein berichtigter Feststellungsbescheid kann an eine schon im Handelsregister gelöschte OHG gerichtet werden, die insoweit als Liquidationsgesellschaft fortbesteht und deren Vollbeendigung erst dann eintritt, wenn auch alle Rechtsbeziehungen zwischen der Gesellschaft und dem Finanzamt beseitigt sind.
Normenkette
StAnpG § 4 Abs. 3 Nr. 2; AO § 91; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
BFH (Urteil vom 25.10.1973; Aktenzeichen IV R 153/69) |
Hessisches FG (Urteil vom 22.05.1969; Aktenzeichen II 274/65) |
Gründe
1. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs wendet § 4 Abs. 3 Nr.2 StAnpG an, wenn sich eine Steuerschuld durch Änderung der Bilanzansätze ermäßigt oder erhöht und sich die geänderten Bilanzansätze kraft des Bilanzzusammenhangs (§ 4 Abs. 1 Satz 1 EStG) auf spätere, bereits rechtskräftige Veranlagungen auswirken (sog. Folgeänderung). Diese Rechtsprechung ist verfassungsrechtlich unbedenklich.
In dem mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Urteil wendet der Bundesfinanzhof die Grundsätze der Folgeänderung entsprechend an, wenn der Gewinn 11/1948 geändert und infolge einer Erklärung gegenüber dem Handelsregister die Periode 11/1948 und 1949 als ein einheitlicher Gewinnermittlungszeitraum zu behandeln ist. Diese Auslegung des einfachen Rechts ist verfassungsrechtlich gleichfalls nicht zu beanstanden.
2. Der Bundesfinanzhof hatte bei der Überprüfung des berichtigten Gewinnfeststellungsbescheids für 1949 vom 13. Januar 1965 zu prüfen, ob sämtliche Einkommensteueransprüche 1949 gegen die Gesellschafter bei Erlaß des Änderungsbescheids verjährt waren. Der Bundesfinanzhof konnte ohne Verfassungsverstoß annehmen, daß der Berichtigungsbescbeid vom 20. Juni 1955 die Verjährung gegenüber den Gesellschaftern der OHG unterbrochen hatte. Dabei konnte der Bundesfinanzhof ohne Verstoß gegen das Grundgesetz zu dem Ergebnis kommen, daß der Berichtigungsbescheid vom 20. Juni 1955 an die am 24. Februar 1955 im Handelsregister gelöschte OHG wirksam adressiert werden konnte. Die Entscheidung des Bundesfinanzhofs, der Bescheid sei an den richtigen Adressaten gerichtet gewesen, ist in Auslegung einfachen Rechts getroffen worden, die keine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts erkennen läßt (BVerfGE 18, 85 [92 f.]). Die Annahme des Bundesfinanzhofs, eine Personengesellschaft in Liquidation bestehe bis zur Vollbeendigung fort, d. h. bis alle gemeinsamen Rechtsbeziehungen, zu denen auch das Rechtsverhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Finanzamt gehört, beseitigt sind, ist rechtlich möglich und nicht willkürlich. Es ist zwar richtig, daß der Bundesfinanzhof bis zum Urteil vom 21. Mai 1971 V R 117/67 (BFHE 102, 174, BStBl. II 1971, 540) eine andere Rechtsauffassung vertreten hatte. Der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verlangt indessen nicht, daß eine einmal höchstrichterlich entschiedene Rechtsfrage niemals mehr anders entschieden werden darf (BVerfGE 19, 38 [47]). Ob ein Senat des Bundesfinanzhofs, der ohne schwerwiegende Argumente eine aus wohlerwogenen Gründen geschaffene Rechtsprechung, die auch zur Grundlage der Verwaltungspraxis geworden ist, wieder umstieße, den verfassungskräftigen Grundsatz der Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen verletzen würde (vgl. BVerfGE 19, 38 [47]), kann dahingestellt bleiben. Denn der Bundesfinanzhof hat 1971 nicht ohne schwerwiegende Gründe die alte Rechtsprechung aufgegeben. Er konnte sich in der hier mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Entscheidung auf seine neuere Rechtsprechung beziehen.
3. Die Anwendung der 1971 neu aufgestellten Grundsätze über die Adressierung von Steuerbescheiden an Personengesellschaften in Liquidation auf Vorgänge des Jahres 1955 verstößt auch nicht gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Das dem Rechtsstaatsprinzip zu entnehmende Rückwirkungsverbot gilt in erster Linie für den Gesetzgeber. Das Vertrauen in die Gleichmäßigkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist verfassungskräftig nicht so absolut geschützt wie das Vertrauen in den Bestand abgeschlossener, gesetzlich geregelter Rechtslagen. Die Gerichte dürfen einer geläuterten Rechtsansicht zum Durchbruch verhelfen und dabei die Erfahrungen verwerten, die später anhängige Verfahren vermitteln. – Im vorliegenden Fall konnte der Beschwerdeführer schon deshalb nicht darauf vertrauen, daß die Gewinnfeststellungsbescheide vom 20. Juni 1955, da an die OHG gerichtet, „ins Leere gegangen” seien, da er selbst für die klagende OHG handelnd im Verfahren vor den Finanzgerichten aufgetreten war und für die OHG Urteile miterstritten hatte, ohne geltend zu machen, daß die OHG liquidiert gewesen sei.
4. Die Annahme des Bundesfinanzhofs, die OHG hätte Frau H Zustellungsvollmacht erteilt, ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Die Feststellung liegt weitgehend auf tatsächlichem Gebiet. Insoweit wurde ein Grundrechtsverstoß nicht in beachtlicher Weise geltend gemacht und dargelegt. Ob die einer Mitgesellschafterin durch eine OHG erteilte Zustellungsvollmacht durch den Eintritt der OHG in das Liquidationsstadium erlischt oder nicht, ist eine Frage der Auslegung einfachen Rechts. Auch insoweit fehlt es an der schlüssigen Darlegung eines Grundrechtsverstoßes.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen