Entscheidungsstichwort (Thema)
Fiktive Verkäufe von Elektrizität zirkulärer Art zwischen denselben Händlern. Vorsteuerabzug auf fiktive Eingangsumsätze. Geldbuße bei unrechtmäßigem Vorsteuerabzug. Neutralitätsgrundsatz. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Normenkette
EGRL 112/2006
Beteiligte
Agenzia delle Entrate – Direzione Regionale Lombardia Ufficio Contenzioso |
Verfahrensgang
Commissione Tributaria Regionale per la Lombardia (Italien) (Beschluss vom 09.10.2017; ABl. EU 2018, Nr. C 112/17) |
Tenor
1. In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der fiktive Verkäufe von Elektrizität, die in einer „zirkulären” Art und Weise zwischen denselben Händlern und für dieselben Beträge durchgeführt wurden, nicht zu Verlusten von Steuereinnahmen geführt haben, ist die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Licht der Grundsätze der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die den Abzug der auf fiktive Umsätze entfallenden Mehrwertsteuer ausschließt und zugleich die Personen, die die Mehrwertsteuer auf einer Rechnung ausweisen, verpflichtet, diese Steuer auch für fiktive Umsätze zu entrichten, sofern das nationale Recht erlaubt, die sich aus dieser Verpflichtung ergebende Steuerschuld zu berichtigen, wenn der Rechnungsaussteller, der nicht gutgläubig war, die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.
2. Die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer sind dahin auszulegen, dass sie in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens einer nationalen Rechtsvorschrift, nach der der zu Unrecht vorgenommene Abzug der Mehrwertsteuer mit einer Geldbuße in Höhe des durchgeführten Vorsteuerabzugs bestraft wird, entgegenstehen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Commissione tributaria regionale di Lombardia (Finanzgericht der Region Lombardei, Italien) mit Entscheidung vom 9. Oktober 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Dezember 2017, in dem Verfahren
EN.SA. Srl
gegen
Agenzia delle Entrate - Direzione Regionale Lombardia Ufficio Contenzioso
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie der Richter A. Rosas, L. Bay Larsen und M. Safjan,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Capolupo und G. De Bellis, avvocati dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Gossement und F. Tomat als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 17. Januar 2019
folgendes
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der EN.SA. Srl und der Agenzia delle Entrate – Direzione Regionale della Lombardia (Finanzverwaltung – Regionaldirektion der Lombardei, Italien) (im Folgenden: Finanzverwaltung) wegen einer Steuernacherhebung bei diesem Unternehmen in Form einer Erhöhung der geschuldeten Mehrwertsteuer zuzüglich Zinsen und Sanktionen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.”
Rz. 4
Art. 167 dieser Richtlinie sieht vor:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.”
Rz. 5
In Art. 168 der Richtlinie heißt es:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
…”
Rz. 6
Art. 203 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.”
Rz. 7
Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaate...