Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziale Sicherheit. Verordnungen (EWG) Nrn. 1408/71 und 574/72. Familienleistungen. Antikumulierungsvorschriften. Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71. Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72. Kinder, deren Mutter in dem Mitgliedstaat, in dem sie gemeinsam mit ihr wohnen, Anspruch auf Familienleistungen hat, und deren Vater, der in der Schweiz arbeitet und grundsätzlich Anspruch auf gleichartige Familienleistungen nach schweizerischem Recht hat, davon absieht, diese Leistungen zu beantragen
Beteiligte
Agentur für Arbeit Villingen-Schwenningen – Familienkasse |
Tenor
Art. 76 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in ihren durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassungen, beide geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005, sind dahin auszulegen, dass ein nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit abhängiger Anspruch auf Leistungen nach dem Recht eines Mitgliedstaats, in dem ein Elternteil mit den Kindern, für die diese Leistungen gewährt werden, wohnt, nicht teilweise ausgesetzt werden darf, wenn, wie im Ausgangsverfahren, der frühere Ehegatte, der der andere Elternteil der Kinder ist, grundsätzlich – entweder allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Staates, in dem er einer Beschäftigung nachgeht, oder nach Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 – einen Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Staates hat, diese faktisch aber nicht bezieht, weil er keinen entsprechenden Antrag gestellt hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 30. Oktober 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Januar 2009, in dem Verfahren
Gudrun Schwemmer
gegen
Agentur für Arbeit Villingen-Schwenningen – Familienkasse
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, der Richter A. Arabadjiev, A. Rosas, A. Ó Caoimh (Berichterstatter) sowie der Richterin P. Lindh,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Februar 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Schwemmer, vertreten durch Rechtsanwalt R. Romeyko,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und C. Blaschke als Bevollmächtigte,
- der litauischen Regierung, vertreten durch E. Matulionytė als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. April 2010
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 76 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und von Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in ihren durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassungen, beide geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (ABl. L 117, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71 und Verordnung Nr. 574/72).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Revisionsverfahrens zwischen Frau Schwemmer und der Agentur für Arbeit Villingen-Schwenningen – Familienkasse (im Folgenden: Familienkasse) wegen deren Weigerung, Frau Schwemmer Familienleistungen in Deutschland von Januar 2006 an in voller Höhe zu gewähren.
Rechtlicher Rahmen
Das Abkommen von 1999
Rz. 3
Das am 21. Juni 1999 in Luxemburg unterzeichnete Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (ABl. 2002, L 114, S. 6, im Folgenden: Abkommen von 1999) sieht in Art. 8 eine Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vor.
Rz. 4
Anhang II („Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit”) dieses Abkommens bestimmt in Art. 1:
- „Die Vertragsparteien kommen überein, im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit untereinander die gemeinschaftlichen Rechtsakte, auf die Bezug genommen wird, in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens [von ...