Entscheidungsstichwort (Thema)
Ort der Dienstleistung, Grenzüberschreitendes Überlassen von Know-how, Zweifel an tatsächlichem Leistungsaustausch, Steuerumgehung, Nationale Ermittlungsmethoden als Mittel zur Gewährleistung der Steuerpflicht, Zwischenstaatliche Amtshilfe
Leitsatz (amtlich)
1. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass für die Beurteilung, ob unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ein Lizenzvertrag, der die Verpachtung von Know-how zum Gegenstand hatte, durch das der Betrieb einer Website ermöglicht wurde, über die interaktive audiovisuelle Dienstleistungen erbracht wurden, und der mit einer Gesellschaft geschlossen wurde, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als die lizenzgebende Gesellschaft hat, auf einen Rechtsmissbrauch zurückzuführen war, durch den ausgenutzt werden sollte, dass der auf diese Dienstleistungen anwendbare Mehrwertsteuersatz in diesem anderen Mitgliedstaat niedriger war, die Tatsache, dass der Geschäftsführer und alleinige Anteilsinhaber der lizenzgebenden Gesellschaft der Urheber dieses Know-hows war, die Tatsache, dass diese Person einen Einfluss auf oder eine Kontrolle über die Entwicklung und die Nutzung des Know-hows und die Erbringung der auf diesem Know-how beruhenden Dienstleistungen ausübte, die Tatsache, dass die Verwaltung der Finanztransaktionen, des Personals und der für die Erbringung der Dienstleistungen erforderlichen technischen Mittel von Subunternehmern erledigt wurde, sowie die Gründe, die die lizenzgebende Gesellschaft dazu bewegt haben können, das fragliche Know-how an die in dem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft zu verpachten anstatt es selbst zu nutzen, für sich genommen nicht entscheidend erscheinen.
Das vorlegende Gericht hat sämtliche Umstände des Ausgangsverfahrens zu untersuchen, um zu bestimmen, ob dieser Vertrag eine rein künstliche Gestaltung darstellte, durch die verschleiert wurde, dass die betreffende Dienstleistung tatsächlich nicht von der lizenznehmenden Gesellschaft, sondern in Wirklichkeit von der lizenzgebenden Gesellschaft erbracht wurde, wobei es insbesondere ermitteln muss, ob die Errichtung des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit oder der festen Niederlassung der lizenznehmenden Gesellschaft nicht den Tatsachen entsprach oder ob diese Gesellschaft für die Ausübung der fraglichen wirtschaftlichen Tätigkeit keine geeignete Struktur in Form von Geschäftsräumen, Personal und technischen Mitteln aufwies oder ob sie diese wirtschaftliche Tätigkeit nicht in eigenem Namen und auf eigene Rechnung, in Eigenverantwortung und auf eigenes Risiko ausübte.
2. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass im Fall der Feststellung einer missbräuchlichen Praxis, die dazu geführt hat, dass als Ort einer Dienstleistung ein anderer Mitgliedstaat bestimmt wurde als der, der ohne diese missbräuchliche Praxis bestimmt worden wäre, die Tatsache, dass die Mehrwertsteuer in dem anderen Staat gemäß dessen Rechtsvorschriften entrichtet wurde, einer Nacherhebung der Mehrwertsteuer in dem Mitgliedstaat, in dem diese Dienstleistung tatsächlich erbracht wurde, nicht entgegensteht.
3. Die Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates vom 7. Oktober 2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer ist dahin auszulegen, dass die Steuerbehörde eines Mitgliedstaats, die prüft, ob für Leistungen, für die in anderen Mitgliedstaaten bereits Mehrwertsteuer entrichtet worden ist, Mehrwertsteuer verlangt werden kann, dann verpflichtet ist, an die Steuerbehörden dieser anderen Mitgliedstaaten ein Auskunftsersuchen zu richten, wenn ein solches Ersuchen nützlich oder sogar unverzichtbar ist, um festzustellen, dass in dem erstgenannten Mitgliedstaat Mehrwertsteuer verlangt werden kann.
4. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es dem, dass die Steuerbehörde bei der Anwendung von Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 325 AEUV sowie Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem zum Nachweis des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis im Bereich der Mehrwertsteuer Beweise verwenden darf, die im Rahmen eines parallel geführten, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens ohne Wissen des Steuerpflichtigen z. B. durch eine Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und eine Beschlagnahme von E-Mails erlangt wurden, nicht entgegensteht, sofern durch die Erlangung dieser Beweise im Rahmen des Strafverfahrens und ihre Verwendung im Rahmen des Verwaltungsverfahrens nicht die durch das Unionsrecht garantierten Rechte verletzt werden.
Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens hat das Gericht, das die Rechtmäßigkeit eines auf diese Beweise gestützten Bescheids über eine Mehrwertsteuernacherhebung prüft, nach Art. 7, Art. 47 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum einen zu überprüfen, ob es sich bei der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und der Beschlagnahme von E-Mails um gesetzlich v...