Entscheidungsstichwort (Thema)
Staatliche Beihilfen. EGKS. Eisen- und Stahlindustrie. Für mit dem Gemeinamen Markt unvereinbar erklärte Beihilfe. Rückforderung. Rechtskraft eines Urteils eines innerstaatlichen Gerichts
Beteiligte
Ministero dell'Industria, del Commercio e dell'Artigianato |
Lucchini SpA, vormals Lucchini Siderurgica SpA |
Tenor
Das Gemeinschaftsrecht steht der Anwendung einer auf die Verankerung des Grundsatzes der Rechtskraft abzielenden Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile entgegen, soweit ihre Anwendung die Rückforderung einer unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gewährten staatlichen Beihilfe behindert, deren Unvereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt durch eine bestandskräftig gewordene Entscheidung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften festgestellt worden ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Consiglio di Stato (Italien) mit Entscheidung vom 22. Oktober 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 14. März 2005, in dem Verfahren
Ministero dell'Industria, del Commercio e dell'Artigianato
gegen
Lucchini SpA, vormals Lucchini Siderurgica SpA,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas und K. Lenaerts, des Richters J. N. Cunha Rodrigues, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter K. Schiemann (Berichterstatter), J. Makarczyk, G. Arestis, A. Borg Barthet, M. Ilešič und J. Malenovský,
Generalanwalt: L. A. Geelhoed,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Juni 2006,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Lucchini SpA, vormals Lucchini Siderurgica SpA, zunächst vertreten durch F. Lemme, avvocato, später durch G. Lemme und A. Anselmo, avvocati,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch T. Boček als Bevollmächtigten,
- der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster, M. de Grave und C. ten Dam als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Di Bucci und E. Righini als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. September 2006
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, die für den Widerruf eines nationalen Rechtsakts gelten, durch den mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbare Beihilfen gewährt werden und der in Umsetzung einer rechtskräftigen nationalen Gerichtsentscheidung ergangen ist.
2 Das Ersuchen ergeht im Rahmen einer Klage der Gesellschaft italienischen Rechts Lucchini SpA (vormals Siderpotenza SpA, später Lucchini Siderurgica SpA, im Folgenden: Lucchini) gegen die Entscheidung des Ministero dell'Industria, del Commercio e dell'Artigianato (Ministerium für Industrie, Handel und Handwerk, im Folgenden: MICA), mit der eine staatliche Beihilfe zurückgefordert wurde. Das MICA ist Rechtsnachfolger anderer zuvor mit der Verwaltung staatlicher Beihilfen in der Region betrauter Einrichtungen (im Folgenden für alle: zuständige Behörden).
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3 Art. 4 Buchst. c EGKS-Vertrag untersagte in der Kohle- und Stahlindustrie jegliche von den Mitgliedstaaten, in welcher Form auch immer, bewilligten Subventionen oder Beihilfen.
4 Von 1980 an erging angesichts der immer ernster werdenden und weiter um sich greifenden Krisensituation im Eisen- und Stahlsektor in Europa auf der Grundlage von Art. 95 Abs. 1 und 2 EGKS-Vertrag eine Reihe von Entscheidungen über Ausnahmen von diesem absoluten und bedingungslosen Verbot.
5 Insbesondere wurde mit der Entscheidung Nr. 2320/81/EGKS der Kommission vom 7. August 1981 zur Einführung gemeinschaftlicher Regeln für Beihilfen zugunsten der Eisen- und Stahlindustrie (ABl. L 228, S. 14, im Folgenden: Zweiter Beihilfekodex) ein zweiter Kodex zur Regelung der staatlichen Beihilfen für die Eisen- und Stahlindustrie geschaffen. Ziel dieses Beihilfekodex war die Gewährung von Beihilfen zur Gesundung der Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie und zur Rückführung ihrer Produktionskapazitäten auf das Niveau der voraussichtlichen Nachfrage, wobei zugleich die schrittweise Abschaffung dieser Beihilfen innerhalb vorbestimmter Fristen sowohl hinsichtlich ihrer Meldung an die Kommission (bis zum 30. September 1982) und ihrer Genehmigung (bis zum 1. Juli 1983) als auch hinsichtlich ihrer Auszahlung (bis zum 31. Dezember 1984) vorgesehen wurde. Diese Fristen wurden mit der Entscheidung Nr. 1018/85/EGKS der Kommission vom 19. April 1985 zur Änderung der Entscheidung Nr. 2320/81 (ABl. L 110, S. 5) für die (nun als „Notifizierung” bezeichnete) Meldung bis zum 31. Mai 1985, für die Genehmigung bis zum 1. August 1985 und für die Auszahlung bis zum 31. Dezember 1985 ver...