Entscheidungsstichwort (Thema)
Sonderausgabenabzug, Sozialversicherungsbeiträge, in anderem Mitgliedstaat gezahlte Sozialversicherungsbeiträge
Leitsatz (amtlich)
1. Die Art. 43 EG und 49 EG stehen einer nationalen Regelung entgegen, wonach ein gebietsansässiger Steuerpflichtiger nur dann Anspruch darauf hat, dass der Betrag der im Steuerjahr gezahlten Sozialversicherungsbeiträge von der Bemessungsgrundlage abgezogen wird und dass die von ihm geschuldete Einkommensteuer um die in diesem Zeitraum gezahlten Krankenversicherungsbeiträge gemindert wird, wenn diese Beiträge im Mitgliedstaat der Besteuerung entrichtet werden, nicht aber, wenn die Beiträge in einem anderen Mitgliedstaat entrichtet werden, auch wenn sie dort nicht abgezogen wurden.
2. Unter diesen Umständen verpflichtet der Vorrang des Gemeinschaftsrechts das nationale Gericht, das Gemeinschaftsrecht anzuwenden und die entgegenstehenden nationalen Vorschriften unangewandt zu lassen, unabhängig vom Urteil des nationalen Verfassungsgerichts, mit dem der Zeitpunkt, zu dem diese für verfassungswidrig erklärten Vorschriften ihre Geltungskraft verlieren, verschoben worden ist.
Normenkette
EGVtr Art. 43, 49
Beteiligte
Dyrektor Izby Skarbowej w Poznaniu |
Verfahrensgang
Wojewódzki Sad Administracyjny w Poznaniu (Polen) (Urteil vom 30.05.2008; Abl.EU 2008, Nr. C 247/8) |
Tatbestand
„Einkommensteuerrecht ‐ Recht auf Abzug der Sozialversicherungsbeiträge von der Bemessungsgrundlage ‐ Recht auf Ermäßigung der Steuer nach Maßgabe der gezahlten Krankenversicherungsbeiträge ‐ Verweigerung, wenn die Beiträge in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat der Besteuerung gezahlt wurden ‐ Vereinbarkeit mit den Art. 43 EG und 49 EG ‐ Urteil des nationalen Verfassungsgerichts ‐ Verfassungswidrigkeit der nationalen Vorschriften ‐ Verschiebung des Zeitpunkts, zu dem die betreffenden Vorschriften ihre Geltungskraft verlieren ‐ Vorrang des Gemeinschaftsrechts ‐ Wirkung für das vorlegende Gericht“
In der Rechtssache C-314/08
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Wojewódzki Sąd Administracyjny w Poznaniu (Polen) mit Entscheidung vom 30. Mai 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Juli 2008, in dem Verfahren
Krzysztof Filipiak
gegen
Dyrektor Izby Skarbowej w Poznaniu
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Zweiten Kammer J. N. Cunha Rodrigues in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer sowie der Richter A. Rosas (Berichterstatter) und A. Ó Caoimh,
Generalanwalt: M. Poiares Maduro,
Kanzler: R. Grass,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz als Bevollmächtigten,
‐ der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Lyal und K. Herrmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 43 EG und 49 EG.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Filipiak, einem in Polen unbeschränkt steuerpflichtigen polnischen Staatsangehörigen, und dem Dyrektor Izby Skarbowej w Poznaniu (Direktor der Finanzkammer Poznań) wegen der Weigerung der polnischen Steuerverwaltung, ihm Steuervergünstigungen im Zusammenhang mit den im Steuerjahr gezahlten Sozial- und Krankenversicherungsbeiträgen zu gewähren, wenn die Beiträge in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat der Besteuerung entrichtet werden, während dem Steuerpflichtigen solche Vergünstigungen gewährt werden, wenn die Beiträge im Mitgliedstaat der Besteuerung entrichtet werden.
Nationaler rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Art. 2 der Verfassung der Republik Polen bestimmt:
„Die Republik Polen ist ein demokratischer Rechtsstaat, der die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit verwirklicht.“
Rz. 4
Art. 8 der Verfassung der Republik Polen lautet:
„(1) Die Verfassung ist das oberste Recht der Republik Polen.
(2) Die Vorschriften der Verfassung werden unmittelbar angewandt, es sei denn, dass die Verfassung etwas anderes bestimmt.“
Rz. 5
Art. 32 der Verfassung der Republik Polen sieht vor:
„(1) Alle sind vor dem Gesetz gleich. Alle haben das Recht, von der öffentlichen Gewalt gleich behandelt zu werden.
(2) Niemand darf aus welchem Grund auch immer im politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Leben diskriminiert werden.“
Rz. 6
Art. 91 der Verfassung der Republik Polen bestimmt:
„(1) Ein ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag ist nach seiner Bekanntmachung im Gesetzblatt der Republik Polen ein Teil der inländischen Rechtsordnung und wird unmittelbar angewandt, es sei denn, dass seine Anwendung vom Erlass eines Gesetzes abhängig gemacht worden ist.
(2) Ein mit vorheriger Zustimmung durch Gesetz ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag hat Vorrang vor einem Gesetz, wenn das Gesetz sich mit dem Vertrag nicht vereinbaren lässt.
(3) Wenn dies in einem v...