Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Rahmenbeschluss 2008/675/JI. Geltungsbereich. Berücksichtigung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen früheren Verurteilung in einem neuen Strafverfahren für die Zwecke der Verhängung einer Gesamtstrafe. Nationales Verfahren zur vorherigen Anerkennung dieser Verurteilung. Abänderung der Einzelheiten der Vollstreckung der in diesem anderen Mitgliedstaat verhängten Strafe
Beteiligte
Sofiyska rayonna prokuratura |
Tenor
1. Der Rahmenbeschluss 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass er auf ein nationales Verfahren anwendbar ist, das die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe – für die Zwecke der Vollstreckung – betrifft, die die durch das innerstaatliche Gericht gegen eine Person verhängte Strafe sowie die im Rahmen einer früheren Verurteilung durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats gegen dieselbe Person wegen einer anderen Tat verhängte Strafe berücksichtigt.
2. Der Rahmenbeschluss 2008/675 ist dahin auszulegen, dass es ihm zuwiderläuft, wenn die Berücksichtigung einer durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaat ergangenen früheren Verurteilung in einem Mitgliedstaat von der Durchführung eines nationalen Verfahrens zur vorherigen Anerkennung dieser Verurteilung durch die zuständigen Gerichte dieses Mitgliedstaats, wie es in den Art. 463 bis 466 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) vorgesehen ist, abhängig gemacht wird.
3. Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die vorsieht, dass das innerstaatliche Gericht, das mit einem Antrag auf Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe – für die Zwecke der Vollstreckung – befasst ist, die u. a. die bei einer früheren Verurteilung durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats verhängte Strafe berücksichtigt, zu diesem Zweck die Einzelheiten der Vollstreckung dieser Strafe abändert.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski Rayonen sad (Kreisgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 7. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 24. März 2016, in dem Verfahren
Trayan Beshkov
gegen
Sofiyska rayonna prokuratura
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano (Berichterstatter), der Richterin M. Berger sowie der Richter A. Borg Barthet und E. Levits,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der tschechischen Regierung, vertreten durch L. Březinová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und P. Mihaylova als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Mai 2017
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren (ABl. 2008, L 220, S. 32).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens über einen Antrag, mit dem Herr Trayan Beshkov das Sofiyski Rayonen sad (Kreisgericht Sofia, Bulgarien) ersucht, die gegen ihn ergangene frühere Verurteilung durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu berücksichtigen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 2, 5 bis 7 und 13 des Rahmenbeschlusses 2008/675 lauten:
„(2) Am 29. November 2000 hat der Rat entsprechend den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere das Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen … angenommen; hierin wird Folgendes vorgesehen: ‚Annahme eines oder mehrerer Rechtsakte, in denen der Grundsatz verankert ist, dass das Gericht eines Mitgliedstaats die in den anderen Mitgliedstaaten ergangenen rechtskräftigen Entscheidungen in Strafsachen heranziehen können muss, um die strafrechtliche Vergangenheit eines Täters bewerten, eine Rückfälligkeit berücksichtigen und die Art der Strafen und die Einzelheiten des Strafvollzugs entsprechend festlegen zu können’.
…
(5) Als Grundsatz sollte gelten, dass eine in einem anderen Mitgliedstaat nach innerstaatlichem Recht ergangene Verurteilung mit gleichwertigen tatsächlichen bzw. verfahrens- oder materiellrechtlichen Wirkungen versehen werden sollte wie denjenigen, die das innerstaatliche Recht den im Inland ergangenen Verurteilungen zuerkennt. Eine Harmonis...