Entscheidungsstichwort (Thema)
Freiberufliche Tätigkeit eines Diplom-Informatikers mit Fachhochschulabschluss bei Entwicklung von komplexer Anwendungssoftware zur Steuerung einer Briefsortieranlage; Abgrenzung der Entwicklung von Anwendungs- und Systemsoftware
Leitsatz (redaktionell)
1. Arbeitet ein -von der Ausbildung her mit einem Ingenieur vergleichbarer- Diplom-Informatiker mit Fachhochschulabschluss an der Systemsoftwareentwicklung zur Steuerung von Briefsortieranlagen mit, erzielt er Einkünfte aus freiberuflicher Arbeit.
2. Auch wenn es sich dabei um die Entwicklung von Anwendungssoftware handeln sollte, wäre die Tätigkeit jedenfalls dann freiberuflich, wenn sie wegen ihrer Komplexität mit der typischen Tätigkeit eines Entwicklungsingenieurs im EDV-Bereich vergleichbar ist und deswegen profunde Kenntnisse der Ingenieurwissenschaft und die Anwendung dieser Kenntnisse voraussetzt.
3. Zur Frage, ob die von der Rechtsprechung in den 80iger Jahren getroffene Entscheidung, die Entwicklung von Systemsoftware könne zu freiberuflichen Einkünften, die Entwicklung von Anwendungssoftware dagegen generell nur zu gewerblichen Einkünften führen, heute noch aufrecht erhalten werden kann (vgl. Rechtsprechung zum Begriff und zur Abgrenzung der Anwendungssoftware von der Systemsoftwareentwicklung).
Normenkette
EStG § 18 Abs. 1 Nr. 1, § 15 Abs. 2; GewStG § 2 Abs. 1
Tatbestand
Streitig ist in den Veranlagungszeiträumen 1991 bis 1995, ob der Kläger freiberuflich tätig gewesen ist oder gewerbesteuerpflichtige Einkünfte erzielt hat.
Der Kläger ist Diplom-Informatiker. In den Streitjahren arbeitete der Kläger ausschließlich an einem Projekt der Firma … zur Steuerung von Briefsortieranlagen, die bei den Postverwaltungen verschiedener Länder eingesetzt werden sollten (Briefsortierprojekt … Detailspezifikation der Komponente Adresskorrelation und Realisierung derselben mit Unterstützung durch mehrere freie Mitarbeiter; Weiterentwicklung und Anpassung der Komponente an die Anforderungen verschiedener Länder wie Neuseeland, Niederlande, Irland; Erarbeitung und Realisierung eines Einsatzkonzeptes für … Formularleser und Polyform-Korrektursoftware unter … für die … AG für die Erfassung der Fragebögen im Rahmen des Reisenden-Erfassungssystems der Bahn; Portierung des Polyformsystems auf OS2 und Windows NT; Erstellung der Korrektursoftware für das … Projekt der … erstmaliger Einsatz von C++).
Im gleichen Zeitraum wie der Kläger arbeitete das Ingenieurbüro … GbR aus … an diesem Projekt, was durch die … mit Schreiben vom 15. Oktober 1999 u. a. wie folgt bestätigt wurde:
„1. In den Jahren 1990 bis 1994 war unser Ingenieurbüro fast ausschließlich für die Firma …;
2. Wir arbeiteten gemeinsam mit Ihnen am Projekt … im Bereich der Postautomatisierung; im Rahmen dieses Projektes wurde eine neue Generation der Steuerungssoftware für Briefsortieranlagen entwickelt.
3. Zusammen mit Ihnen und ihren Mitarbeitern erarbeiteten wir die Gesamtkonzeption …. In der Realisierungsphase des Projekts konzipierten und entwickelten wird Softwaremodule im Bereich AA90 und AC 90 (Teilbereiche von …), später waren wir über längere Zeit mit der Planung und Durchführung von Tuning-Maßnahmen betraut.
4. Unsere Tätigkeiten waren somit mit den Ihren im Charakter identisch, oftmals arbeiteten wir als Team an den selben Software-Bausteinen.
Nach einer Betriebsprüfung durch das FA… wurde die Einstufung unserer Tätigkeiten in den Prüfüngsjahren 1990–1992 mit dem Bericht vom 1.12.1994 als freiberufliche Tätigkeiten bestätigt, dies wurde auch bei einer weiteren Betriebsprüfung für die Jahre 1993 und 1994 nicht in Frage gestellt.”
Der Kläger ermittelte seinen Gewinn in den Streitjahren durch Einnahmenüberschussrechnung. Das beklagte Finanzamt (FA) behandelte die Einkünfte zunächst als solche aus selbständiger freiberuflicher Tätigkeit i.S.d. § 18 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG).
Im Jahre 1996 wurden die steuerlichen Verhältnisse des Klägers durch eine Betriebsprüfung überprüft. Da der Prüfer nicht in der Lage gewesen ist, die Tätigkeit des Klägers rechtlich zu würdigen, bat er das Automationsreferat der Oberfinanzdirektion (OFD) … hierzu um Stellungnahme. Mit Aktenvermerk vom 14. Februar 1997 gelangte der zuständige Sachbearbeiter des „Leistungszentrums Dezentrale Systeme” der OFD … zu dem Ergebnis, dass die vom Kläger erstellten Programme zur Anwendungssoftware gehörten und der Kläger damit eine gewerbliche Tätigkeit ausübe. Hierin wurde u. a. folgendes ausgeführt:
„Im vorliegenden Fall lassen sowohl der vorgelegte Software-Erstellungsvertrag wie auch die vom Steuerpflichtigen (StPfl) selbst vorgenommene Beurteilung seiner Tätigkeit erkennen, dass die vom StPfl erstellten Programme in der Gruppe Anwendungssoftware zutreffend erfasst sind.
…. dabei ist nicht entscheidend, dass das erstellte Programm von keinem (menschlichen) End-Anwender benutzt wird. Das Programm ist Teil des Gesamtsystems „Briefverteilanlage” und leistet dort einen Beitrag zur Erfüllung der Forderung des Auftraggeber...