Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs aus Billigkeitsgründen trotz unzutreffender Rechnungsangaben
Leitsatz (amtlich)
1. Wenn die materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs nach § 15 UStG wegen unzutreffender Rechnungsangaben nicht vorliegen, kann im Billigkeitsverfahren ausnahmsweise nach dem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Vertrauensschutzes ein Vorsteuerabzug nach den Grundsätzen des EuGH in den Urteilen Teleos (vom 27.09.2007 C-409/04) und Netto-Supermarkt (vom 21.02.2008 C-271/06) in Betracht kommen (BFH-Urteile vom 30.04.2009 V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744 und XI R 48/07 vom 12.08.2009, BFH/NV 2010, 388).
Voraussetzung hierfür ist, dass der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer gutgläubig war und alle Maßnahmen ergriffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sich von der Richtigkeit der Angaben in der Rechnung zu überzeugen, und seine Beteiligung an einem Betrug ausgeschlossen ist. Soweit gemeinschaftsrechtliche Regelungen eine Billigkeitsmaßnahme erfordern, ist das in § 163 AO bzw. § 227 AO eingeräumte Ermessen auf Null reduziert.
Es entspricht den Vorgaben des europäischen Rechts, dass dem Unternehmer grundsätzlich der Vorsteuerabzug zu gewähren ist und ihm dieser nur in Ausnahmefällen verweigert werden kann. Auch entspricht es der Rechtsprechung des EuGH, dass für das Vorliegen einer solchen Ausnahme das Finanzamt darlegungs- und beweislastpflichtig ist.
2. Es entspricht ebenfalls der Rechtsprechung des EuGH, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Richtlinie 2006/112 anerkannt und gefördert wird. Der Rechtsbürger kann sich deshalb nicht auf die Bestimmungen des Unionsrechts berufen, wenn er dies in betrügerischer oder missbräuchlicher Absicht tut. Ein Unternehmer, der Bargeschäfte für hochwertige Kfz im Freihafen tätigt und Umsatzsteuer entrichtet, obwohl er selbst im Freihafen keine Umsatzsteuer ausgewiesen hat, ist im besonderen Maße verpflichtet, die Angaben des Rechnungsausstellers zu überprüfen. Werden dem Steuerpflichtigen dieselben Kfz von unterschiedlichen Unternehmern angeboten und soll er sich bei Rückfragen nicht an seinen Vertragspartner, sondern einen Dritten richten, ist der Steuerpflichtige grundsätzlich nicht mehr als gutgläubig anzusehen. Dies gilt insbesondere, wenn sich bei einer späteren Überprüfung der Rechnungsangaben ergibt, dass weder die Telefonnummer noch die Adresse des Unternehmers richtig sein kann.
Normenkette
AO §§ 163, 227; UStG § 15
Nachgehend
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Voraussetzungen für eine abweichende Festsetzung von Steuern aus Billigkeitsgründen gem. § 163 Abgabenordnung (AO) bzw. für einen Erlass gem. § 227 AO vorliegen und die Klägerin deshalb einen Anspruch auf Vorsteuererstattung hat.
Die Klägerin wurde 1985 errichtet und firmiert seit 1986 unter A-Handelsgesellschaft mbH. Gegenstand ihres Unternehmens war der Handel mit Kraftfahrzeugen, Karosserien, deren Teilen und ... sowie die Herstellung von Karosserien, deren Teilen und ... (durch berechtigte Betriebe). Die Geschäftsanteile der Klägerin wurden Anfang 1986 von Herrn B erworben. Herr B ist Diplom-Kaufmann und war bis ... als Assistent der Geschäftsführung in einem mittelständischen Umschlagsunternehmen tätig gewesen. Anschließend wechselte er zu einer Firma, die ...-Fahrzeuge nach Kundenwünschen umarbeitete. Etwa zwei Jahre später fiel das Unternehmen in Konkurs, Herr B erwarb die Gesellschaftsanteile der Klägerin und wurde deren alleiniger Gesellschafter-Geschäftsführer bis zum ... 2003. Anschließend wurde Herr C als alleiniger Geschäftsführer der Klägerin bestellt und ins Handelsregister eingetragen.
Am ... 2003 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Klägerin eröffnet (Amtsgericht Hamburg ...).
Die Klägerin betrieb in den Jahren 1993 und 1994 eine Werkstatt zur "Veredelung" von Luxusautos, erzielte jedoch den Hauptteil ihres Umsatzes mit dem Export von hochpreisigen Kraftfahrzeugen der Marke Mercedes-Benz nach Japan.
Die Fahrzeuge waren von der Herstellerin, der N AG, durch ihren Spediteur E für den Verkauf an drei Firmen mit Sitz im Sultanat Oman, im Jemen bzw. in der Republik Sudan in den Hamburger Freihafen verbracht worden und wurden dort zunächst auf dem Gelände der F GmbH (F) gelagert. Bis zum Zahlungseingang und der darauf von der N AG zu erklärenden Freigabe blieben die Fahrzeuge im Gewahrsam der Herstellerin, die auch die Kosten der Lagerung übernahm.
Die Fahrzeuge wurden den eigentlich vorgesehenen Abnehmern durch eine "G" abgekauft, die diese weiterverkaufte an die drei Firmen "H Handels- und Vertriebsgesellschaft" (H), "J ... Gesellschaft mbH" (J) und "K GmbH" (K).
Die Fahrzeuge wurden der Klägerin angeboten und nach Kauf in Rechnung gestellt durch Herrn L. Die Rechnungen enthielten keinen Hinweis auf den Lieferort; sie enthielten offen ausgewiesene Ums...