Dr. Dino Höppner, Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 361
Es existiert kein Grundsatz, der vorschreibt, dass die Verpflichtung zur Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten auf wesentliche Verpflichtungen beschränkt ist, was im Einklang mit der Auffassung des BFH steht. Der Wesentlichkeitsgrundsatz, der auch für die Bildung von Verbindlichkeitsrückstellungen gilt, erlaubt jedoch die Vernachlässigung unwesentlicher Verpflichtungen. Der BFH entschied, dass sich aus den GoB keine Einschränkung der Pflicht zur Rückstellungsbildung auf wesentliche Verpflichtungen ableiten lässt, insbesondere im Zusammenhang mit Nachbetreuungsverpflichtungen bei Versicherungsverträgen (Rz 458).
Gleichwohl kam der BFH in einem anderen Fall zu einem abweichenden Ergebnis: Forderungen selbst bei Geringfügigkeit müssen aktiviert werden. Dennoch lehnte der BFH die Bildung eines Rechnungsabgrenzungspostens aufgrund geringer Bedeutung ab, was von der Literatur als widersprüchlich bewertet wurde. Dieser Widerspruch wurde jedoch in einer späteren Entscheidung korrigiert, als der X. Senat feststellte, dass sich aus dem Wesentlichkeitsgrundsatz keine Einschränkung der Pflicht zum Ansatz von Rechnungsabgrenzungsposten ableiten lässt. Eine analoge Anwendung des § 6 Abs. 2 EStG scheide aus, da Rechnungsabgrenzungsposten nicht als Wirtschaftsgüter zu qualifizieren sind.
Das Kriterium der Unwesentlichkeit ist dabei nicht nur auf einzelne Fälle oder Verträge beschränkt. Wenn eine Vielzahl von Vertragsverhältnissen mit vergleichbaren ungewissen Verbindlichkeiten besteht, bemisst sich die Wesentlichkeit nach dem gesamten Aufwand.
Rz. 361a
Für die Frage der Wesentlichkeit ist darauf abzustellen, welchen Einfluss die Rückstellung auf das Ergebnis des Unternehmens hat. Bei einer Mehrzahl von Vertragsverhältnissen (z. B. bei Abrechnungsverpflichtungen) ist nicht auf den Aufwand aus dem einzelnen Vertragsverhältnis abzustellen, sondern der Gesamtaufwand zugrunde zu legen. Als unwesentlich wird man den Gesamtbetrag der Rückstellung für eine Rückstellungsart bis zu 1.000 EUR ansehen können, bei Großunternehmen auch bis zu mehreren 1.000 EUR. Der BFH sieht die Grenze der Wesentlichkeit bei dem einzelnen Geschäftsvorfall jedoch in Anlehnung an § 6 Abs. 2 EStG. Einen Aufwand von 45.000–50.000 DM bzw. 165.000 EUR hat der BFH nicht als unwesentlich angesehen. In diesem Rahmen steht dem Kaufmann ein Ermessensspielraum zu, was er als wesentlich ansehen will.