0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift ist mit dem SGB X v. 18.8.1980 (BGBl. I S. 1469) mit Wirkung zum 1.1.1981 in Kraft getreten. Aufgrund der Regelung im Vierten Euro-Einführungsgesetz v. 21.12.2000 (BGBl. I S. 1983) ist sie unverändert mit der Neufassung des SGB X v. 18.1.2001 (BGBl. I S. 130) bekanntgemacht worden.
1 Allgemeines
Rz. 2
Da die Vertragspartner grundsätzlich an die geschlossene Vereinbarung gebunden sind (pacta sunt servanda), jedoch die Bindung unter dem Vorbehalt gleichbleibender Verhältnisse steht (clausula rebus sic stantibus), bedurfte es in § 59 einer Regelung hinsichtlich der Berücksichtigung wesentlicher Veränderungen in den maßgeblichen Verhältnissen. § 59 ist eine Spezialnorm gegenüber §§ 44 ff., insbesondere § 48. Die Regelung lehnt sich weitgehend an die Rechtsprechung der Zivilgerichte zur Störung und zum Wegfall der Geschäftsgrundlage an (§ 313 BGB). § 59 Abs. 1 Satz 1 sieht lediglich eine nachträgliche Änderung als Anpassungs- oder Kündigungsgrund für öffentlich-rechtliche Verträge vor. Sie ist aber nach überwiegender Meinung (Diering, in: LPK-SGB X, § 59 Rz. 57 m. w. N.) auch dann anwendbar, wenn die Geschäftsgrundlage bereits vor Vertragsabschluss gefehlt hat. Die Behörde kann sich im Falle der Kündigung wegen schwerer Nachteile für das Gemeinwohl nach § 59 Abs. 1 Satz 2 auch auf das anfängliche Vorliegen solcher Gründe berufen.
Die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage ist ein Ausfluss von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Die Berufung auf eine Störung der Geschäftsgrundlage kann nur Erfolg haben, wenn ein Festhalten am bisherigen Vertrag ein Verstoß gegen Treu und Glauben wäre. Deshalb ist zu § 59 Abs. 1 Satz 1 auch zunächst die Anpassung des Vertrages bestimmt worden. Erst wenn diese unzumutbar ist, kann es zur Auflösung durch Kündigung kommen. § 59 lässt das Recht der Beteiligten zur Geltendmachung eines vereinbarten oder gesetzlichen Kündigungsrechts, die Befugnis der Beteiligten zur Aufhebung oder Änderung des Vertrages im gegenseitigen Einvernehmen, die Geltendmachung der Nichtigkeit nach § 58 sowie der Anfechtung wegen Willensmängeln entsprechend §§ 119, 120, 123, 142 BGB unberührt (BSG, v. 8.7.1980, 6 RKa 10/79, USK 80113). Ein Ausschluss der Anwendbarkeit von § 59 kann von den Vertragsparteien nicht vereinbart werden. Eine entsprechende oder auch nur ergänzende Anwendung des zivilrechtlichen Rechtsinstituts des Wegfalls der Geschäftsgrundlage ist ausgeschlossen, da § 59 insoweit die Spezialnorm ist.
Die Vertragsparteien können einen öffentlich-rechtlichen Vertrag unabhängig davon beenden, ob sich die Verhältnisse ändern. Im Rahmen ihres Gestaltungsrechts kann der Vertrag zeitlich begrenzt werden, besondere Kündigungsregeln oder eine Klausel zur einvernehmlichen Aufhebung enthalten.
2 Rechtspraxis
2.1 Wesentliche Änderung
Rz. 3
Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse ist entsprechend den Grundsätzen der Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage dann anzunehmen, wenn Änderungen der Verhältnisse eingetreten sind, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgeblich waren, mit denen die Vertragspartner bei Abschluss des Vertrags nicht gerechnet haben und die bei objektiver Betrachtung so erheblich sind, dass das Festhalten am Vertrage zumindest für einen der Vertragspartner unzumutbar wäre. Maßgebliche Vertragsverhältnisse sind diejenigen, die zwar nicht Vertragsinhalt im Sinne eines Rechtsgrundes, aber auch nicht bloßer Beweggrund waren, sondern aufgrund der beim Vertragsabschluss zutage getretenen gemeinsamen Vorstellungen beider Vertragsparteien zur gemeinsamen Vertragsgrundlage geworden sind (BVerwGE 25 S. 299; E 97 S. 311). An die wesentliche Änderung i. S. v. § 59 sind somit strengere Anforderungen zu stellen als an die wesentliche Änderung nach § 48. Die Änderungen können sowohl im tatsächlichen als auch im rechtlichen Bereich sein. Eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung liegt dann vor, wenn das zuständige oberste Gericht in ständiger Rechtsprechung das Recht anders auslegt als im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Es ist jedoch der Rechtsgedanke des § 48 Abs. 2 zu berücksichtigen (Marschner, in: Pickel/Marschner, SGB X, § 59 Rz. 13).
Rz. 3a
Die Norm ist anzuwenden, wenn sich die Verhältnisse ändern, die beim Vertragsabschluss gegeben waren. Die Norm ist entsprechend anzuwenden, wenn die Vertragspartner irrtümlich von bestimmten Tatbeständen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht ausgegangen sind (OVG Niedersachsen, Beschluss v. 14.2.2003, 7 LA 130/02).
Rz. 4
Ein Fall des § 59 liegt nicht vor, wenn ein Gesetz bestimmte Einzelfälle unmittelbar regelt. Dann greift es auch unmittelbar in den Vertrag ein und ändert diesen entsprechend seiner vorrangigen Bedeutung. Ändert das Gesetz aber lediglich die Anspruchsgrundlagen, legt es z. B. einen Rechtsanspruch auf eine höhere Rente fest, dann ist § 59 anwendbar. Bei einem gemeinsamen Irrtum über die erheblichen Verhältnisse wird zutreffenderweise wegen der Gleichartigkeit der Interessenlage eine entsprechende Anwendung von § 59 befürwortet (Engelmann, in: v. Wulffen, SGB X, § 5...