Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 1098
Das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO a.F. war vor dem 1.1.2008 nur erfüllt, wenn die Merkmale der Steuerverkürzung "in großem Ausmaß" (objektive Voraussetzung) und "aus grobem Eigennutz" (subjektive Voraussetzung), gleichzeitig vorlagen. Nachdem das Merkmal des groben Eigennutzes bei § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO n.F. ersatzlos weggefallen ist, ist nur noch das Merkmal des großen Ausmaßes im Gesetz enthalten. Das Merkmal des groben Eigennutzes ist allein noch für Altfälle relevant.
Rz. 1099
Für Taten, die ab dem 1.1.2008 begangen wurden, setzt § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO n.F. nur das Vorliegen einer Steuerverkürzung bzw. das Erlangen nicht gerechtfertigter Steuervorteile in großem Ausmaß voraus. Das Gesetz selbst bestimmt nicht, wann ein großes Ausmaß erreicht ist. Bis zur Entscheidung des BGH vom 2.12.2008 existierte auch kein von der Rspr. entwickelter Schwellenwert, ab dessen Erreichen ein großes Ausmaß regelmäßig vorliegen soll. Bis dahin wurde ein großes Ausmaß dann angenommen, wenn sich die Summe der hinterzogenen Steuern auffällig von denjenigen Beträgen abhob, die gewöhnlich Gegenstand von Steuerhinterziehungen sind, oder ein "Täuschungsgebäude großen Ausmaßes" vorlag. Es war regelmäßig eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die quantitative und qualitative Aspekte der Begehungsweise zu beachten hatte.
Rz. 1099.1
Zur näheren Konturierung des Merkmals "großes Ausmaß" zieht der BGH § 263 StGB heran. Danach ist das Merkmal "in großem Ausmaß" des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO wie beim Betrug (§ 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB) nach objektiven Maßstäben zu bestimmen.
Nach der Grundsatzentscheidung vom 2.12.2008, die der BGH mehrfach bestätigt und fortgeschrieben hat, differenzierte der BGH bei der Bemessung des Merkmals "in großem Ausmaß" zwischen einem schon eingetretenen Vermögensverlust und einem Gefährdungsschaden. Danach war eine Steuerverkürzung in großem Ausmaß bei einem Hinterziehungsbetrag von mehr 50.000 EUR gegeben, wenn ein "Griff in die Kasse" des Staates vorlag. Dies war der Fall, wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erlangte oder steuermindernde Umstände vorgetäuscht hatte, indem er etwa tatsächlich nicht vorhandene Betriebsausgaben vorgetäuscht oder nicht bestehende Vorsteuerbeträge geltend gemacht hatte. Führte das Verhalten des Täters dagegen nur zu einer Gefährdung des Steueranspruchs, nahm der BGH eine Steuerverkürzung in großem Ausmaß erst bei einem Hinterziehungsbetrag von mehr 100.000 EUR an. Diese höhere Wertgrenze kam zur Anwendung, wenn sich das Verhalten des Täters darauf beschränkte, die FinB pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis zu lassen.
An dieser Rspr. hält der BGH seit dem Urteil vom 27.10.2015 nicht mehr fest. Der BGH hat entschieden, dass für die Annahme einer Hinterziehung in großem Ausmaß einheitlich – also auch bei Unterlassen – die Betragsgrenze von 50.000 EUR gilt.
Dies begründete der BGH damit, dass die bisherige Rspr., die davon ausging, dass hinsichtlich der Betragsgrenze des großen Ausmaßes – ähnlich wie beim Betrug – zwischen schon eingetretenem Vermögensverlust und einem Gefährdungsschaden zu differenzieren sei, die strukturellen Unterschiede zwischen dem Tatbestand der Steuerhinterziehung und dem Tatbestand des Betrugs nicht hinreichend berücksichtigt habe. Bei § 370 AO unterscheidet das Gesetz nicht zwischen der Gefährdung des Steueranspruchs und dem Eintritt des Vermögensschadens beim Staat. Diese Gleichsetzung findet ihre Rechtfertigung darin, dass die falsche Steuerfestsetzung nahezu immer zu einem Schaden führen wird, weil eine nicht festgesetzte Steuer auch nicht beigetrieben werden kann und darf. Vor diesem Hintergrund zwischen Gefährdungsschaden und eingetretenem Schaden zu differenzieren, sei deshalb nicht gerechtfertigt. Stehe die Gefährdung des Steueranspruchs dem beim Fiskus eingetretenen Schaden bei der Tatbestandserfüllung qualitativ gleich, sei die Verdoppelung des Schwellenwerts bei dem sog. Gefährdungsschaden nicht zu begründen. Darüber hinaus sei das Merkmal "in großem Ausmaß" in dem Sinne erfolgsbezogen, dass es an der Höhe der verkürzten Steuer betragsmäßig und nicht an der Art des manipulativen Verhaltens anknüpft, was beliebige Ergebnisse vermeide.
Der BGH geht davon aus, dass für den Tatrichter auch bei einer einheitlichen Wertgrenze von 50.000 EUR ausreichend Spielraum verbleibt, um den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung zu tragen. Einerseits ist bei Bejahung des Regelbeispiels in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die Besonderheiten des Einzelfalls die Indizwirkung des Regelbeispiels entkräften. In diesem Zusammenhang spielen die handlungsbezogenen Gesichtspunkte der Tat (bloßes Verschweigen von Umsätzen, Vortäuschen von Betriebsausgaben, Manipulation der Buchführung, usw.) eine entscheidende Rolle. In ihrem Licht hat der Tatrichter zu beurteilen, ob die Indizwirkung des Regelbeispiels durchgreifen kann. Bei Bejahung eines besonder...