Ingo Heuel, Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 682
Ein strafbarer Versuch der Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 2 AO) liegt auch vor, wenn die Handlung des Täters – entgegen seiner Vorstellung (vgl. § 22 StGB) – aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen niemals zur Vollendung führen kann (sog. untauglicher Versuch), was aus § 23 Abs. 3 StGB folgt. Der Täter stellt sich in diesen Fällen einen Sachverhalt vor, der dem Straftatbestand der Steuerhinterziehung unterfiele, wenn der Sachverhalt tatsächlich gegeben wäre. Die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen dem den Tatbestandsvorsatz ausschließenden Irrtum nach § 16 Abs. 1 StGB und dem Verbotsirrtum nach § 17 StGB tauchen hier in umgekehrter Form wieder auf. Denn vom strafbaren untauglichen Versuch sind die Fälle des Wahndelikts abzugrenzen, bei denen der Täter irrtümlich meint, dass der von ihm zutreffend erkannte Sachverhalt mit Strafe bedroht sei (umgekehrter Verbotsirrtum).
Rz. 683
Bezieht sich der Irrtum auf tatsächliche Umstände, liegt unstreitig ein untauglicher Versuch nach § 370 Abs. 2 AO vor (s. Rz. 657). Bezieht sich der Irrtum hingegen auf den Umfang des Anwendungsbereichs des § 370 AO, liegt ein strafloses Wahndelikt vor.
Beispiele
- A ist aufgrund eines Rechenfehlers davon überzeugt, im Veranlagungszeitraum 20 Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit (§ 18 EStG) i.H.v. 100.000 EUR erzielt zu haben. In seiner Einkommensteuererklärung gibt er vorsätzlich nur 80.000 EUR an. Tatsächlich erzielte A aber nur Einkünfte i.H.v. 70.000 EUR. Hier liegt untauglicher Versuch in Bezug auf die nicht erklärten 20.000 EUR vor.
- S hat eine zutreffende Einkommensteuererklärung abgegeben, zahlt aber wegen vorübergehender Liquiditätsprobleme nicht rechtzeitig. Er glaubt, auch die verspätete Zahlung sei strafbar. S überdehnt den Anwendungsbereich des § 370 AO zu seinen Lasten. Es liegt keine Versuchsstrafbarkeit vor, nur weil er irrig meint, sich strafbar zu verhalten.
- Ein Beschenkter überschätzt den Wert eines Geschenkes. Wäre seine Annahme richtig, wäre er schenkungsteuerpflichtig; gleichwohl unterlässt er die Anzeige nach § 30 ErbStG. Es liegt ein untauglicher Versuch vor.
Rz. 684
Unklar ist die Abgrenzung aber dann, wenn sich der Irrtum nicht auf den Anwendungsbereich des Straftatbestands selbst, sondern auf die Steuerrechtslage bezieht. Das sind Fälle, in denen der Täter zu seinem Nachteil irrtümlich annimmt, dass ein Steueranspruch besteht, so dass durch seine Handlung oder sein Unterlassen seiner Meinung nach ein Verkürzungserfolg herbeigeführt wird. In diesen Fällen wird es allerdings in aller Regel nicht zu einem Strafverfahren kommen, so dass die praktische Bedeutung des Problems begrenzt ist.
Beispiel 4
Bei der Rückkehr aus dem Urlaub benutzt A auf dem Flughafen den "grünen" Ausgang (s. Rz. 662, 219), obwohl er davon überzeugt ist, dass die von ihm mitgebrachten Waren zoll- und einfuhrumsatzsteuerpflichtig sind. Tatsächlich ist das nicht der Fall.
Die steuerstrafrechtliche Rspr. geht in solchen Fällen überwiegend von einem strafbaren Versuch aus. Andere meinen demgegenüber, dass alle selbstbelastenden Rechtsirrtümer nur zu einem straflosen Wahndelikt führen.
Rz. 685
Da der Irrtum über die Steuerrechtslage in der umgekehrten Konstellation (tatsächlich besteht eine Steuerpflicht, die der Täter nicht kennt) zugunsten des Täters zur Verneinung des Tatbestandsvorsatzes nach § 16 Abs. 1 StGB führt (s. Rz. 660), spricht immerhin einiges dafür, dass hier der Täter durch den Irrtum belastet wird, er also einen untauglichen Versuch begeht (Umkehrprinzip), weil er meint, Steuern zu verkürzen. Der Steueranspruch wird dann einheitlich als Tatumstand angesehen. Seiner Vorstellung nach richtet sich das Verhalten des Täters gegen das geschützte Rechtsgut. Der Irrtum über die Steuerrechtslage wird nach dieser Meinung genauso behandelt wie der Fall, in dem jemand eine eigene Sache in der irrtümlichen Annahme wegnimmt, es handele sich um eine fremde (§§ 242, 22 StGB), oder der, in dem jemand versucht, einen Schwangerschaftsabbruch an einer Nicht-Schwangeren vorzunehmen (§§ 218, 22 StGB). Dabei wird geltend gemacht, dass in geeigneten Fällen von Strafe nach § 23 Abs. 3 StGB wegen groben Unverstands abgesehen bzw. die Strafe gemildert werden oder das Verfahren wegen geringen Verschuldens nach § 153 StPO, § 398 AO eingestellt werden könne.
Rz. 686
Überzeugender als die Annahme, jeder Rechtsirrtum führe zu einem straflosen Wahndelikt (s. Rz. 684), ist die Ansicht, die danach differenziert, ob sich der Rechtsirrtum auf einen strafrechtlichen Sammelbegriff bezieht, durch den eine Vielzahl von einzelnen (steuerlichen) Ansprüchen (§ 370 AO), Straftatbeständen (§ 258 StGB) oder zuständigen Stellen (§ 154 StGB) begrifflich in einem Tatbestand zusammengefasst werden, und nur in diesem Fall von einem Wahndelikt ausgeht. Wären alle durch das Strafrecht geschützten steuerlichen Ansprüche einzeln in der Strafnorm aufgeführt, würde derjenige, der ei...