Rz. 5
Gemäß § 369 Abs. 2 AO gelten für das Steuerstrafrecht die allgemeinen Regeln des Strafrechts und damit insb. auch die Regeln der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung; diese Regeln werden von § 376 AO variiert. Hingegen wird die Strafvollstreckungsverjährung weder von § 376 AO noch sonst in der AO variiert, so dass hier die allgemeinen Regeln der § 369 Abs. 2 AO, §§ 79 ff. StGB unverändert gelten.
Bei der Strafverfolgungsverjährung beginnt (§ 78a StGB) für jeden einzelnen Tatbestand gesondert eine von der Strafdrohung abhängige Frist (§ 78 StGB). Der Lauf der Verjährungsfrist kann für einen gewissen Zeitraum ruhen (§ 78b StGB) oder unterbrochen werden, endet aber grds. spätestens nach Ablauf der doppelten regulären Verjährungsfrist (§ 78c Abs. 2 Satz 2 StGB). Die Bedeutung des § 376 AO beschränkte sich bis 2009 darauf, dass dem in § 78c StGB enthaltenen Katalog der Möglichkeiten, die Verjährung zu unterbrechen, eine weitere, in der Praxis nahezu irrelevante Variante (die Bekanntgabe des Steuerbußgeldverfahrens), hinzugefügt wurde. Im Übrigen galten die allgemeinen Bestimmungen des StGB über die Verfolgungsverjährung (§§ 78–78c StGB). Mit der Einführung des neuen Abs. 1 durch das JStG 2009, JStG 2020 und dem Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz hat der Gesetzgeber ein verschärftes Sonderverjährungsrecht für bestimmte Fälle der Steuerhinterziehung geschaffen.
1. Zweck des § 376 Abs. 1 AO
Rz. 6
§ 376 Abs. 1 AO enthält eine nur für bestimmte, als besonders schwer kategorisierte Tatbestände des Steuerstrafrechts geltende Verjährungsregelung. Die Norm knüpft an die Verwirklichung bestimmter Regelbeispiele an (s. hierzu Rz. 19 ff.).
Rz. 7
Der Zweck des § 376 Abs. 1 Halbs. 1 AO erschließt sich aus dem Gesetzgebungsverfahren. Noch im Referentenentwurf des JStG vom 2.9.2008 sollte eine eigenständige Verjährungsregelung für alle Steuerstraftaten aufgenommen werden. Damit sollte nach der Absicht des Gesetzgebers unter Zurückdrängung von Verjährungseffekten, die mit der seitens der Rspr. aufgegebenen fortgesetzten Tat verbunden waren (Rz. 117), ein Gleichlauf zwischen Festsetzungs- und Strafverfolgungsverjährung erreicht werden, der allerdings ersichtlich weder durch den Referentenentwurf noch durch die später mit Abs. 1 Halbs. 1 in Kraft getretene Regelung erreicht wurde. Dass Steuern bei Steuerhinterziehung für zehn Jahre festgesetzt, die Tat aber "nur" für fünf Jahre strafrechtlich verfolgt werden konnte, hielt der Gesetzgeber für eine erhebliche Diskrepanz, die er beseitigen wollte. Das Strafbarkeitsrisiko für den Steuerhinterzieher sollte ausweislich der Gesetzesbegründung steigen, Steuerhinterziehung könne so wirksamer bekämpft werden. Im Gesetzgebungsverfahren wurde dann allerdings festgestellt, dass der Entwurf deutlich über das Ziel hinausschoss: Die Steuerhinterziehung wäre durch die geplanten Verjährungsregeln selbst in leichtesten Fällen mit schwersten Straftaten wie Geiselnahme oder Raub (sic!) gleichgestellt worden. Eine derart lange Verjährung hielt man für den Grundtatbestand der Steuerhinterziehung nicht für erforderlich, so dass man sich auf die besonders schweren Fälle beschränkte.
Rz. 8
Fasst man die beiden Begründungsansätze zusammen, lässt sich der Zweck der Vorschrift wie folgt darstellen: Für die in § 370 Abs. 3 Satz 2 AO benannten Fälle besonders schwerer Steuerhinterziehung sieht der Gesetzgeber es als notwendig an, eine Parallelität zwischen Festsetzungs- und Verfolgungsverjährung zu erreichen. Die Notwendigkeit, die Verjährungsfristen in ihrer Länge zu vereinheitlichen, beruht auf dem Gedanken, dass durch längere Fristen die Steuerhinterziehung wirksamer bekämpft werden könne als bisher. Diese Parallelität ist nicht notwendig, soweit es sich um einfache oder nicht benannte Fälle besonders schwerer Steuerhinterziehungen handelt.
Rz. 9
In Ansehung dieses Gesetzeszwecks ist die Berechtigung der Norm über die Maßen zweifelhaft.
So ist schon nicht ersichtlich, dass eine Übereinstimmung der Verjährungsfristen nach der Fristenkonzeption der einzelnen Fristen wünschenswert oder notwendig wäre. Die Abstimmung von Fristen aufeinander ist auch anderen Rechtsgebieten fremd. So sind etwa strafrechtliche und zivilrechtliche Fristen voneinander unabhängig. Eine Vermögensschädigung durch einen Betrüger nach § 263 StGB verjährt nach fünf Jahren, obwohl der Schaden über § 823 Abs. 2 BGB weitaus länger zurückerlangt werden kann, vgl. § 199 Abs. 3 BGB. Aber auch bei Strafnormen, die sich auf öffentlich-rechtliche Ansprüche beziehen, unterscheiden sich Abgaben- und Strafverfolgungsverjährung. Ansprüche auf vorsätzlich vorenthaltene Beiträge verjähren bspw. in 30 Jahre...