Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
a) Wegen einer begangenen Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit
Rz. 86
Das Zwangsmittelverbot des § 393 Abs. 1 Satz 2–4 AO dient der Umsetzung des Nemo-tenetur-Grundsatzes (s. Rz. 16 ff.). Danach darf der Stpfl. nicht gezwungen werden, sich selbst wegen einer Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit zu belasten.
Rz. 87
Gegenstand der Selbstbelastung muss eine Steuerstraftat oder eine Steuerordnungswidrigkeit sein (vgl. die Legaldefinitionen in § 369 Abs. 1 Nr. 1–4 AO und § 377 Abs. 1 AO). Erfasst sind davon auch sog. Analogtaten (s. § 385 Rz. 14 ff.; § 369 Rz. 24 ff.). Nichtsteuerliche Taten bleiben außer Betracht (s. Rz. 48). Insoweit ist der Stpfl. vor einer Verwertung der Angaben durch § 393 Abs. 2 AO geschützt.
Die Schutzwirkung des § 393 Abs. 1 Satz 2 AO erstreckt sich dabei auf die "Tat" im prozessualen Sinne des § 264 StPO (näher dazu Rz. 95 f.; zur zeitlichen Reichweite s. Rz. 100 f.).
Rz. 88
Die Tat muss vor Aufforderung zur steuerlichen Mitwirkung vom Stpfl. "begangen" worden sein. Diese Voraussetzung ist nicht nur bei (Mit-, Neben-, Allein-)Täterschaft, sondern auch dann gegeben, wenn der Stpfl. als Teilnehmer (§§ 26, 27 StGB) an der betreffenden Tat mitgewirkt hat.
Rz. 89
Eine Verfolgungsgefahr besteht auch bei einem Versuch, denn selbst wenn die Angaben als Selbstanzeige zu werten wären, besteht das Risiko, dass sie nicht mehr rechtzeitig oder vollständig erfolgten oder der Stpfl. nicht zur Nachzahlung der verkürzten Steuer in der Lage ist.
Rz. 90
Die Tat muss auch verfolgbar sein, d.h. das Zwangsmittelverbot entfällt, soweit die Tat nicht mehr geahndet werden kann, z.B. bei rechtskräftiger Verurteilung, anerkannter Selbstanzeige gem. § 371 AO oder Strafverfolgungsverjährung nach §§ 78 ff. StGB.
Rz. 91
Die Selbstbelastungsgefahr besteht nach der sehr zweifelhaften Rspr. des BGH und des BFH (s. Rz. 63, 72 f., 111 ff.) nicht, wenn die Ahndung der Tat durch Einlegung einer strafbefreienden Selbstanzeige ausgeschlossen ist. Soweit eine solche wegen Sperrgründen des § 371 Abs. 2 AO oder mangels Nachzahlungsmöglichkeit (§ 371 Abs. 3 AO) ausgeschlossen ist, schütze den Stpfl. ein strafrechtliches Verwendungsverbot.
Rz. 92
Auch bei Gefahr einer mittelbaren Selbstbelastung durch erzwungene Angaben im Steuerfestsetzungsverfahren, soweit sie sich auf andere Veranlagungszeiträume und Steuerarten beziehen als diejenigen, die von einem bereits eingeleiteten Steuerstrafverfahren erfasst werden, ist der Stpfl. – so der BGH – durch ein strafrechtliches Verwendungsverbot geschützt (s. Rz. 101, 123 ff.).
b) Glaubhaftmachung
Rz. 93
Ist ein Straf- oder Bußgeldverfahren noch nicht eingeleitet (§ 393 Abs. 1 Satz 2 AO), so genügt es, wenn der Stpfl. die Gründe für die Verfolgungsgefahr glaubhaft macht. Es reicht in solchen Fällen aus, wenn der Stpfl. allgemein auf die Gefahr der Selbstbezichtigung hinweist. Die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung (§ 95 AO) ist jedenfalls zu viel verlangt. Nur dieses Verständnis der Regelung des Satzes 2 ist geeignet, sicherzustellen, dass diese nicht "leerläuft".
c) Unwiderlegliche Vermutung
Rz. 94
Nach Einleitung des Steuerstraf- oder Bußgeldverfahrens wird unwiderleglich vermutet, dass der Einsatz von Zwangsmitteln den Stpfl. in die Gefahr der Selbstbelastung bringen würde (§ 393 Abs. 1 Satz 3 AO). Einer Glaubhaftmachung der Selbstbelastungsgefahr bedarf es demnach nicht.