Rz. 592
Voraussetzung für den Erlass eines Haftbefehls ist das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts, der sich von dem sog. hinreichenden Tatverdacht oder dem Anfangsverdacht erheblich unterscheidet. Der dringende Tatverdacht ist gegeben, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der Beschuldigte eine Straftat tatsächlich begangen hat.
Rz. 593
Im Steuerstrafrecht besteht die Problematik bisweilen darin, dass der Verdacht zu Beginn des Verfahrens oder bei Beantragung eines Untersuchungshaftbefehls ggf. zeitgleich mit der Beantragung eines Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlusses in der Regel weniger verifizierbar ist als ein dringender Tatverdacht im Kernstrafrecht. Oftmals steht die Frage im Raum, ob die vom Steuerpflichtigen gewählte steuerliche Gestaltung ein erlaubtes Mittel zur Steuerersparnis im Sinne der Rspr. des BVerfG ist oder ein Verschleierungsmodell für eine ggf. verwirklichte Steuerstraftat; nach Ansicht des BVerfG steht es dem Steuerpflichtigen grundsätzlich frei, die für ihn günstigste steuerliche Gestaltung zu wählen. Die Grenze, ohne freilich zugleich eine Strafbarkeit zu begründen, ist erst bei einer missbräuchlichen Gestaltung i.S.v. § 42 AO zu sehen. Im Steuerstrafrecht besteht die weitere Problematik darin, dass die Bejahung des dringenden Tatverdachts von der Existenz des Steueranspruchs abhängt. Insbesondere Rechtsfragen muss der Ermittlungsrichter beantworten und darf sich nicht mit dem dringenden Tatverdacht begnügen. Es gilt auch im Steuerstrafrecht der Grundsatz "iura novit curia". Beweismaßerleichterungen, die im Besteuerungs- und Finanzgerichtsverfahren infolge verweigerter Mitwirkung des Steuerpflichtigen an der Aufklärung des Sachverhalts eintreten, dürfen bei der Feststellung der Steuerhinterziehung dem Grunde nach nicht genutzt werden. Der dringende Tatverdacht ist zu verneinen, wenn die Ermittlungen trotz einer "nicht unerheblichen Verdachtslage" lückenhaft sind, weil notwendige Untersuchungen nicht durchgeführt wurden, so dass mit einer Verurteilung ohne weitere zeitaufwendige Nachforschungen nicht zu rechnen ist.
Rz. 594
Stehen komplexe steuerliche Gestaltungen im Raum, kann es sich im Einzelfall anbieten, deren Hintergründe und steuerliche Sinnhaftigkeit zu erörtern, um den Vorwurf der Hinterziehung auf diesem Weg zu entkräften. Idealiter verfügt der Berater bereits über Anschreiben an die Finanzverwaltung, in denen das verwandte Modell offengelegt wurde. Auch insofern ist der Steuerpflichtige gut beraten, zweifelhafte oder grenzwertige Konstruktionen von vornherein offenzulegen.
Rz. 595
Die zwischenzeitlich vertretene Ansicht, dass tateinheitlich ein Betrug im besonders schweren Fall vorliegen kann, welcher die Anordnung der (auslieferungsfähigen) Untersuchungshaft zu rechtfertigen vermag, ist eindeutig abzulehnen.
Rz. 596
Vornehmliches Ziel des Beraters im Rahmen der Haftsituation muss sein, einem unberechtigten Steueranspruch konstruktiv entgegenzutreten und diesen zur Vermeidung der Anordnung oder des weiteren Vollzugs der Untersuchungshaft sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach zu entkräften. Dabei gilt es im Auge zu behalten, dass hierüber ein Ermittlungsrichter entscheidet, der in der Regel nur selten über eine tiefergehende steuerrechtliche Sachkunde verfügt. Insofern kann es sich anbieten, an den zuständigen Dezernenten der Staatsanwaltschaft heranzutreten, dessen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls für das Gericht bindend ist (§ 120 Abs. 3 Satz 1 StPO). In jedem Fall ist der Haftbefehl anzupassen, wenn sich der Tatvorwurf ändert.