Rz. 5
Problematisch ist die Frage, ob auch eine Änderung eines Verwaltungsakts (einschließlich Rücknahme, Widerruf, Aufhebung und Berichtigung) erfolgen kann, wenn über diesen Verwaltungsakt ein rechtskräftiges finanzgerichtliches Urteil ergangen ist.
Nach § 110 Abs. 1 FGO bindet ein rechtskräftiges Urteil die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden ist. Das bedeutet, dass, soweit die Rechtskraft des Urteils reicht, die Verwaltung einen durch gerichtliches Urteil bestätigten oder geänderten Verwaltungsakt nicht mehr ändern kann. Entschieden hat das Urteil über den Streitgegenstand; der Umfang der Rechtskraft richtet sich daher nach dem Streitgegenstand.
BFH v. 17.7.1967, GrS 1/66, BStBl II 1968, 344 hat in Übereinstimmung mit der zur VwGO vertretenen h. M. den Streitgegenstand nach der Saldierungstheorie bestimmt. Danach ist Streitgegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens die Behauptung des Klägers, durch den angegriffenen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Aufgabe des Gerichts ist es daher zu prüfen, ob bei einem Steuerbescheid die festgesetzte Steuer (bzw. die gesondert festgestellte Besteuerungsgrundlage bei einem Feststellungsbescheid) ihrer Höhe nach eine Stütze im geltenden Recht findet. Der Sache nach bedeutet dies, dass das FG nicht nur den von den Parteien zur Prüfung gestellten Sachverhalt prüfen muss (so aber die Individualisierungstheorie), sondern den ganzen Steuerfall, um durch Saldierung mit Fehlern, die von den Parteien nicht gerügt worden sind, zur richtigen Steuerfestsetzung zu gelangen.
Stpfl. und Finanzbehörde streiten um die Berechtigung von Sonderausgaben. Das FG will den Sonderausgabenabzug gewähren, stellt aber gleichzeitig fest, was bisher weder Stpfl. noch Finanzbehörde vorgetragen haben, dass die Finanzbehörde zu Unrecht Werbungskosten anerkannt hat. Nunmehr muss die Klage abgewiesen werden, da die Änderung zu Gunsten des Stpfl. durch die Änderung zu seinen Ungunsten aufgezehrt wird (vgl. insoweit den Rechtsgedanken des § 177 AO). Nach der Individualisierungstheorie hätte das FG dagegen nur über den Sonderausgabenabzug zu entscheiden und die Frage der Werbungskosten nicht prüfen dürfen; der Klage wäre also stattzugeben gewesen.
Rz. 6
Auch nach der Saldierungstheorie besteht jedoch eine Beschränkung des Streitgegenstands und damit der Tragweite der Rechtskraft, die sich auf § 96 Abs. 1 S. 2 FGO ergibt. Danach darf das Urteil über die Anträge der Beteiligten nicht hinausgehen. Das bedeutet, dass die Steuer nicht niedriger festgesetzt werden darf, als es der Kläger beantragt hat; nach oben bildet die Steuerschuld des angefochtenen Verwaltungsakts die Grenze, da im finanzgerichtlichen Verfahren das Verböserungsverbot gilt. Soweit das FG danach nicht befugt war zu entscheiden, reicht auch nicht die Rechtskraft des Urteils.
Die Klage des Stpfl. wird rechtskräftig abgewiesen. Damit ist rechtskräftig festgestellt, dass er wenigstens in Höhe des Steuerbetrags des angefochtenen Bescheids Steuer schuldet. Nicht entscheiden konnte das FG aber darüber, ob er noch mehr Steuer schuldet, da insoweit die Anträge der Parteien nicht reichten. Stellt das FA nach Rechtskraft des Urteils neue Tatsachen zuungunsten des Stpfl. fest, ist es im Rahmen der Festsetzungsfrist nicht gehindert, unter Anwendung der Änderungsvorschriften der AO den Steuerbescheid zuungunsten des Stpfl. zu ändern, da insoweit über den Steuerfall nicht entschieden wurde.
Der Klage des Stpfl., dessen Antrag auf eine niedrigere Steuerfestsetzung gerichtet war, wird in vollem Umfang stattgegeben; nach Rechtskraft des Urteils werden neue Tatsachen zugunsten des Stpfl. festgestellt, die zu einer noch niedrigeren Steuer führen. Die Änderung ist im Rahmen der Festsetzungsfrist noch möglich, da insoweit der Steuerfall nicht rechtskräftig entschieden ist, da das FG über den Antrag des Stpfl. nicht hinausgehen konnte.
Rz. 7
Damit ist das Problem jedoch nur in einem Teilbereich gelöst, die Mehrzahl der Fälle bleibt problematisch.
Es wird um die Berechtigung einer Abschreibung gestritten, der Klage wird stattgegeben. Nach Eintritt der Rechtskraft stellt das FA neue Tatsachen zu einem anderen Punkt fest (z. B. Betriebsausgaben, Sonderausgaben usw.), die zu einer Steuererhöhung führen.
Bei strenger Anwendung der Saldierungstheorie wäre hier keine Änderung mehr möglich; da das FG den ganzen Steuerfall überprüfen musste, hätte es die steuererhöhenden Tatsachen berücksichtigen müssen. Die Rechtskraft des Urteils hätte insofern Ausschlusswirkung.
Diese Ansicht überzeugt aber deshalb nicht, weil sie den Besonderheiten des Steuerrechts nicht ausreichend Rechnung trägt. Der Steueranspruch ergibt sich in aller Regel nicht aus einem oder einigen fest umrissenen Sachverhalten (wie es z. B. im Verwaltungsrecht der Fall ist), sondern aus einer in der Praxis nahezu unübersehbaren Vielzahl von Besteuerungsgrundlagen und Sachverhalten. Dem FG ist es, eben...