Prof. Dr. Alexander Kratzsch
Rz. 5
Für den Wohnsitzbegriff ist das Innehaben einer Wohnung erforderlich. Eine einheitliche Begriffsbestimmung für die Wohnung kennt das Steuerrecht nicht. Hier wie auch im übrigen Recht wird das Wort Wohnung aus sehr verschiedenen Gründen mit den unterschiedlichsten Bedeutungen und Inhalten verwendet. Mangels einer ausdrücklichen Regelung in der AO hat dies zur Folge, dass der Begriff der Wohnung auch im Steuerrecht keinen einheitlichen Inhalt haben kann, sondern jeweils im Rahmen der Gesetzesbestimmungen mit den üblichen Auslegungsmethoden auszulegen ist. Die mitunter übliche Heranziehung von Gerichtsentscheidungen, die sich über den Begriff der Wohnung an einer Gesetzesstelle auslassen, auf andere Verwendungsfälle der Wohnung an anderen Stellen der Steuergesetzes muss daher abgelehnt werden. So ist z. B. die Auslegung des Wohnbegriffs des § 7a Abs. 1 EStG durch die Rspr. für den Wohnsitzbegriff nicht heranziehbar.
Wohnung i. S. d. § 8 AO ist im Satzzusammenhang dieser Vorschrift zu sehen. Darunter sind Räumlichkeiten zu verstehen, die objektiv zum dauerhaften Wohnen geeignet und bestimmt sind. Sie müssen eine selbstständige Lebensführung ermöglichen, also so ausgestattet sein, dass sie ihren Bewohnern eine dauerhafte Bleibe bieten. Es genügt eine bescheidene Bleibe. Eine abgeschlossene Wohnung i. S. d. Bewertungsgesetzes ist nicht erforderlich. Auch darauf, ob die Räumlichkeiten mit eigenen oder fremden Möbeln und Gerätschaften ausgestattet sind, kommt es nicht an. Es sind nur eine gewisse Mindestausstattung und -größe erforderlich, die in den Räumlichkeiten ein "Wohnen" – also mehr als ein bloßes Übernachten – ermöglichen, was ein Mindestmaß an Bewegungsfreiheit voraussetzt. Dabei ist zu beachten, dass ein Stpfl. zwei oder mehrere Wohnsitze haben und damit auch zwei oder mehrere Wohnungen innehaben kann. Diese für den Wohnsitz vorausgesetzte Wohnung erfordert lediglich Räumlichkeiten des Stpfl., die zum Wohnen auf Dauer objektiv geeignet sind. Unterschiede für einen ersten, zweiten oder weiteren Wohnsitz können nicht gemacht werden, weil das Steuerrecht solche Unterscheidungen nicht kennt, sondern nur Wohnsitze als solche.
Im Schrifttum und in der Rspr. wird für die Annahme einer Wohnung z. T. unzutreffend gefordert, dass die Räume angemessen und den Lebensverhältnissen des Inhabers entsprechend sind. Auch die Einrichtung der Räume (mit eigenen oder fremden Möbeln) soll von Bedeutung sein. Bei bestimmten Personengruppen oder bei einem zweiten oder weiteren Wohnsitz sollen dagegen an die Beschaffenheit und Ausstattung der Wohnung geringere Anforderungen gestellt werden können. Ähnliche Überlegungen sind bei einer Reihe anderer Fallgestaltungen (z. B. möbliertes Zimmer eines Dienstverpflichteten; Wohnung einer Person, die aus dem Ausland kommt) angestellt worden. Die dazu im Schrifttum zitierte Rspr. ist fast ausschließlich zum Begriff der Wohnung, nicht des Wohnsitzes, sondern an anderen Gesetzesstellen ergangen und wegen des dort nur bedingt vergleichbaren Inhalts nicht ohne Weiteres heranziehbar. Sehr häufig wird hier die Rspr. zur doppelten Haushaltsführung oder zur Abzugsfähigkeit von Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte herangezogen, die sich mit der Abgrenzung von privaten und beruflichen Gründen für bestimmte Aufwendungen und mit dem örtlichen Mittelpunkt der Lebensinteressen beschäftigt und die zitierten Aussagen nicht so enthält. Die einfache Übertragung solcher Differenzierungen, die die Rspr. in anderen Problembereichen durch Berücksichtigung der dort wesentlichen Aspekte sinnvoll vorgenommen hat, auf den Wohnungsbegriff in § 8 AO ist nicht gerechtfertigt.
Auf alle diese in der Lit. gestellten und häufig unzutreffend belegten Anforderungen kann es beim Wohnungsbegriff ebensowenig ankommen wie darauf, dass die Wohnung ein "den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Stpfl. entsprechendes Heim" darstellt; maßgebend ist lediglich die allgemeine Eignung zum Wohnen. Da jede Wohnung eine von mehreren den Wohnsitzbegriff erfüllenden Wohnungen sein kann, kann nur auf die objektive Eignung zum Wohnen abgestellt werden. Das Verhältnis zwischen persönlichen Umständen des Stpfl. einerseits sowie Art und Einrichtung der Wohnung andererseits kann lediglich bei der Auslegung der weiteren Voraussetzungen des § 8 AO von Bedeutung sein, ob der Stpfl. die Wohnung u. U. innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird.
Rz. 6
Die Rspr. des BFH zum Begriff der Wohnung im Bewertungsrecht, die früher die Zusammenfassung einer Mehrheit von Räumen gefordert hat, die in ihrer Gesamtheit die Führung eines selbstständigen Haushalts ermöglicht, jetzt aber zusätzlich eine bauliche Trennung und einen eigenen Zugang, kann ebenfalls nicht auf § 8 AO übertragen werden. Diese BFH-Rspr. stellt entsprechend ihrem bewertungsrechtlichen Ansatz auf die Wohngepflogenheiten nach der Verkehrsauffassung ab und fordert heute konsequ...