Rz. 18

Die materielle Rechtskraft ist nicht nur in ihrer persönlichen, sondern auch in ihrer sachlichen Wirkung begrenzt. Die Bindungswirkung tritt nicht hinsichtlich des gesamten Streitgegenstands ein, sondern nur, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist.[1] Man unterscheidet insoweit zwischen Streit- und Entscheidungsgegenstand.[2] Der Streitgegenstand wird durch den Klageanspruch und den Klagegrund bestimmt, also durch den geltend gemachten materiell-rechtlichen Anspruch und durch den ihm zugrunde liegenden, d. h. zu seiner Begründung vorgetragenen Sachverhalt. Hingegen betrifft die Rechtskraftwirkung den "Entscheidungsgegenstand". Danach kommt es für die Bindungswirkung auf den vom Gericht seiner Entscheidung tatsächlich zugrunde gelegten Sachverhalt und auf die hierzu angestellten rechtlichen Erwägungen an. Maßgebend ist, worüber das Gericht entschieden hat, nicht dagegen, worüber hätte entschieden werden sollen. Das gilt selbst dann, wenn das Gericht seine Entscheidungskompetenz überschreitet.[3] Inhalt und Umfang des Entscheidungsgegenstands sind durch Auslegung der Entscheidungsformel (Tenor) zu ermitteln, wobei die tragenden Aussagen des Tatbestands und der Entscheidungsgründe, die beide selbst nicht in Rechtskraft erwachsen, heranzuziehen sind.[4] Für die Bindungswirkung nach § 110 Abs. 1 S. 1 FGO ist danach maßgebend, in welchem Umfang die behauptete Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts aufgrund des Vorbringens des Klägers vom Gericht tatsächlich überprüft worden ist.[5] Bedeutung gewinnt die Frage nach dem Umfang des Entscheidungsgegenstands besonders dann, wenn das Gericht nach § 100 Abs. 2 S. 2 oder Abs. 3 FGO entschieden hat, sodass ein neuer Verwaltungsakt zu erlassen ist, oder wenn nach Urteil ein Änderungsbescheid ergeht.

 

Rz. 19

Weist das FG die Klage gegen einen Steuerbescheid ab, so umfasst die Rechtskraft der Entscheidung die Feststellung, dass der Bescheid weder nichtig noch rechtswidrig ist.[6] Die Nichtigkeitsfeststellungsklage ist daher wegen Identität des Streitgegenstands unzulässig, wenn der Kläger bereits eine Anfechtungsklage erhoben hat.[7]

 

Rz. 20

Danach tritt bei Prozessurteilen, die als solche aus der Entscheidungsformel allein häufig nicht zu erkennen sind, eine Bindung nur hinsichtlich der vom Gericht als fehlend festgestellten Sachurteilsvoraussetzungen ein.[8] Lässt sich dieser Fehler beseitigen, steht die Rechtskraft einer erneuten Entscheidung über den gleichen Streitgegenstand nicht entgegen. Dabei muss jedoch bedacht werden, dass Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen fristgebunden sind, sodass eine erneute Klage regelmäßig nunmehr wegen der Bestandskraft des Verwaltungsakts unzulässig sein dürfte. Wegen der unterschiedlichen Rechtskraftwirkung von Prozessurteilen und Sachurteilen, insbesondere im Hinblick auf nach Erlass des Urteils ergehende Änderungsbescheide, kann m. E. nicht offen bleiben, ob eine Klage unbegründet oder nur unzulässig ist.

 

Rz. 21

Bei Sachurteilen bestimmt sich der Umfang der Bindung danach, welche Teile des Streitgegenstands, nicht welche Tatsachen das Gericht tatsächlich auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft hat, unabhängig davon, was es nach dem Klagebegehren hätte überprüfen sollen. Es kommt insoweit allein darauf an, worüber das Gericht tatsächlich entschieden hat, nicht dagegen, worüber hätte entschieden werden sollen.[9] Die Bindung ergibt sich im Hinblick auf die dem Urteil zugrunde liegende tatsächliche und rechtliche Beurteilung.[10] Die Bindung erfolgt insoweit, als es auf die Umstände ankommt, die dem Gericht im Zeitpunkt des Erlasses des Urteils bekannt waren. Eine Bindung hinsichtlich der Umstände, die danach erst bekannt werden oder entstehen, tritt nicht ein.[11] Die Präklusionswirkung der Rechtskraft führt allerdings nach der Auffassung von Ratschow[12], der zuzustimmen ist, dazu, dass Tatsachen, die bei Ergehen des Urteils bestanden, nur in engen Grenzen[13] noch berücksichtigt werden können, unabhängig davon, ob sie bewusst oder unbewusst nicht berücksichtigt wurden.

 

Rz. 22

So steht die Rechtskraft eines Urteils über die Steuerpflichtigkeit bestimmter Umsätze einer späteren korrigierenden Änderung der damit im Zusammenhang stehenden Vorsteuerbeträge nicht entgegen, wenn das Gericht über die Vorsteuerabzugsberechtigung keine Ausführungen gemacht hat.[14] Ist Streitgegenstand die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts, muss dessen materieller Regelungsgehalt hinsichtlich der Bindungswirkung mit dem Entscheidungsgegenstand des früheren Urteils verglichen werden. Die Bindungswirkung umfasst bei klageabweisenden Urteilen die Feststellung, dass der angefochtene Steuerbescheid nicht rechtswidrig war.[15] Ein wegen Formfehlern rechtskräftig aufgehobener Verwaltungsakt kann nach Beseitigung der Formfehler im Übrigen inhaltsgleich nochmals erlassen werden, weil Entscheidungsgegenstand des Urteils lediglich die Formgerechtigkeit, nicht der materielle Gehalt des Verwaltungsakts war.[16] Das Gleiche gilt, wenn ein ni...

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