0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift ist durch das Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung (Terminservice- und Versorgungsgesetz –TSVG) v. 6.5.2019 (BGBl. I S. 646) zum 11.5.2019 (Art. 17 Abs. 1) in Kraft getreten. Die wesentlichen gesetzlichen Materialien finden sich in BT-Drs. 19/6337 (Gesetzentwurf) und BT-Drs. 19/8351 (Stellungnahme und Beschluss des 14. Ausschusses).
1 Allgemeines
Rz. 2
Das Konzept einer primären Prävention und Gesundheitsförderung, das grundlegend in § 20 (vgl. die Komm. dort) verankert ist, geht davon aus, auf Umwelt, Arbeitsleben und Lebensstil der Menschen einzuwirken, um so Gesundheitsrisiken zu vermeiden oder zu verringern. § 20 Abs. 1 Satz 1 definiert den Begriff der primären Prävention als Leistung zur Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken, während demgegenüber die Sekundärprävention rein diagnostischer Natur und als solche nicht auf Änderungen des festgestellten Zustandes des Versicherten gerichtet ist. Eine HIV-Infektion stellt nach wie vor eine lebenslange, bislang nicht heilbare und unbehandelt potenziell lebensbedrohliche Infektion dar. Die orale Präexpositionsprophylaxe (PrEP) nach § 20j ist eine Methode zur Prävention einer HIV-Infektion. Sie eröffnet eine ergänzende Option zu einer effektiven Präventionsstrategie mit dem Ziel, die Raten der HIV-Neuinfektionen zu senken. Der Gesetzgeber hat sich dabei von Studien leiten lassen, nach denen in Staaten, in denen die PrEP bereits seit einigen Jahren zur Verfügung steht, nachweisbar die Zahl der HIV-Neuinfektionen um bis zu 40 % gesunken ist. Die PrEP biete damit einen wirksamen Infektionsschutz in einem Bereich, für den Impfungen bislang nicht zur Verfügung stehen und sei ein wichtiger Faktor für die öffentliche Gesundheit (BT-Drs. 19/6337 S. 86).
2 Rechtspraxis
2.1 Anspruch auf ärztliche Beratung, Untersuchung und Verordnung (Abs. 1 und 4)
Rz. 3
Versicherte mit substantiellem HIV-Infektionsrisiko, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, erhalten einen Anspruch auf ärztliche Beratung zur Verhütung einer Ansteckung mit HIV (Abs. 1 Nr. 1), erforderliche Untersuchungen (Abs. 1 Nr. 2) und Versorgung mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zur oralen Präexpositionsprophylaxe (Abs. 4). Die Aufklärung im Rahmen eines ärztlichen Beratungsgesprächs unter besonderer Berücksichtigung von Safer-Sex-Praktiken ist ein elementarer Bestandteil der gesetzlichen Konzeption, da ein erhöhtes HIV-Infektionsrisiko nach derzeitigen Erkenntnisstand, auch entsprechend den deutsch-österreichischen Leitlinien der Deutschen AIDS-Gesellschaft, vor allem verhaltensbezogen ist. Zur Überprüfung der Wirksamkeit der PrEP und zur Kontrolle möglicher Nebenwirkungen sind regelmäßige Begleituntersuchungen erforderlich. Abs. 4 verbindet den Anspruch auf Versorgung mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zur Präexpositionsprophylaxe mit der Beratung. Ohne eine entsprechende vorherige ärztliche Beratung kommt ein Anspruch auf Versorgung somit nicht in Betracht. Mit der Abgabe der verschreibungspflichtigen Arzneimittel in Apotheken zur PrEP haben die Versicherten eine Zuzahlung nach den sonst geltenden Regelungen zu leisten.
2.2 Anspruchsberechtigung und Vereinbarung (Abs. 2)
Rz. 4
Die Einzelheiten zum Kreis der Anspruchsberechtigten und zu den Voraussetzungen für die Ausführung der Leistungen hat der Gesetzgeber gemäß Abs. 2 der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen im Rahmen einer Vereinbarung als Bestandteil der Bundesmantelverträge übertragen. Schon während des Gesetzgebungsverfahrens hat der Gemeinsame Bundesausschuss in einer Stellungnahme v. 10.2.2019 (https://www.g-ba.de/downloads/17-98-4757/2019-01-14-PA-AfG-SN-TSVG-G-BA_.pdf) mit Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts v. 10.11.2015 (1 BvR 2056/12, Rz. 22) Bedenken an dieser Regelung geäußert. Das Vorgehen des Gesetzgebers ist in der Tat verfassungsrechtlich in hohem Maße bedenklich. Der Gesetzgeber selbst hat lediglich das (Mindest-)Alter der berechtigten Versicherten festgelegt, demgegenüber aber weder definiert, wann von einem substantiellen HIV-Infektionsrisiko auszugehen ist und welche Voraussetzungen überhaupt für die Ausführung der Leistungen erfüllt sein müssen. Damit fehlen die wesentlichen Tatbestandsmerkmale für einen Anspruch. Eine Legitimation der Vertragspartner des Bundesmantelvertrages dürfte zu verneinen sein, da die Vereinbarung mit hoher Intensität Angelegenheiten Dritter regeln wird, die an deren Entstehung nicht mitwirken konnten (ebenso im Ergebnis Gokel, in: Orlowski/Remmert, GKV-Kommentar SGB V, § 20j Rz. 3).
Rz. 5
Ebenso berechtigt ist die vom Gemeinsamen Bundesausschuss aufgeworfene Frage, warum in anderen Konstellationen zu Verhütung einer Erkrankung eine medikamentöse Prophylaxe sinnvollerweise zum Einsatz kommen aber nicht zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden kann. Aus der jetzt verabschiedeten gesetzlichen Regelung dürften sich Folgewirkungen für ebenfalls primär prophylaktische medikamentöse Strategien in weiteren Krankheitsbereichen ergeben (vgl. https://www.g-ba.de/downloads/17-98-4610/2018-08-15-PA-BMG-SN-Referentenentwurf-Terminserv...