Leitsatz (amtlich)
1. Hat sich der Rechtsstreit über die gerichtliche Aussetzung der Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes in der Hauptsache erledigt, nachdem das FG die Klage gegen den Verwaltungsakt unter Abweichung von der Rechtsprechung des BFH abgewiesen hatte, dann gehört der Umstand, daß diese Entscheidung nicht rechtskräftig geworden ist, zu dem vom FG bei der Kostenentscheidung nach § 138 Abs. 1 FGO zu berücksichtigenden Sach- und Streitstand.
2. Bei der Prüfung der Frage, wie der Aussetzungsrechtsstreit ohne seine in der Hauptsache eingetretene Erledigung ausgegangen wäre, darf das FG in einem solchen Falle in der Regel seiner eigenen Rechtsauffassung keine ausschlaggebende Bedeutung beimessen.
Normenkette
FGO § 138 Abs. 1
Tatbestand
Die Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel (EVSt-Getr) - Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin - sagte der Fa. A für die Ausfuhr von Getreideverarbeitungserzeugnissen in ein Drittland die Erstattung in der Form der abschöpfungsfreien Einfuhr von Gerste zu. Die Fa. A übertrug das Anrecht auf die Abschöpfungsfreiheit auf die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin), die die Einfuhr durchführte und die Abschöpfungsfreiheit in Anspruch nahm. Durch Bescheid vom 2. Dezember 1969 widerrief die EVSt-Getr gegenüber der Antragstellerin die Abschöpfungsfreiheit mit der Begründung, die Fa. A habe die ausgeführten Erzeugnisse nicht in ein Drittland, sondern in einen EWG-Mitgliedstaat verbracht. Die Antragstellerin erhob gegen diesen Bescheid im Mai 1970 Klage und bat das FG, die Vollziehung des Bescheides wegen ernstlicher Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit auszusetzen.
Das FG wies die Klage durch Urteil vom 20. März 1973 ab. Nachdem die Antragstellerin hiergegen Revision eingelegt hatte, erklärten sie und die EVSt-Getr das Aussetzungsverfahren in der Hauptsache für erledigt.
Durch Beschluß vom 26. September 1973 erlegte das FG die Kosten des Aussetzungsverfahrens mit folgender Begründung der Antragstellerin auf: Bei der Anwendung der für die Kostenentscheidung maßgebenden Vorschrift des § 138 Abs. 1 FGO habe es beachten müssen, daß die Klage gegen den Widerrufsbescheid abgewiesen worden sei und damit die Erfolgsaussichten für das Aussetzungsverfahren entfallen seien. In der Entscheidung über die Klage habe das FG zwar teilweise gegen die vom BFH im Urteil vom 8. November 1972 VII R 98/68 (BFHE 107, 482, HFR 1973, 119) vertretene Meinung Stellung genommen, ein Anspruch auf Erstattung bestehe immer in der Höhe, die der tatsächlichen Gestaltung der Ausfuhr entspreche. Das habe aber für das FG nach seiner Entscheidung über die Klage für das Aussetzungsverfahren keine ernstlichen Zweifel an der vollen Rechtmäßigkeit des Widerrufsbescheides begründen können. Nur darauf sei es angekommen, weil das FG über den Aussetzungsantrag noch bis zur Einlegung der Revision hätte entscheiden können, also nicht gezwungen sei, davon auszugehen, wie es vor dem Urteil in der Klagesache entschieden hätte. Da sich mit der Einlegung der Revision auch die Zuständigkeit für die Gewährung der Aussetzung ändere, das FG also nur in seiner Instanz für die Entscheidung über Aussetzungsanträge zuständig sei, brauche es nach der Entscheidung über die Klage auch nur seine Ansichten über die Erfolgsaussichten zugrunde zu legen. Die vom BFH im Beschluß vom 21. Februar 1968 I B 56/67 (BFHE 91, 521, BStBl II 1968, 414) geforderte Berücksichtigung des mutmaßlichen Ausgangs könne daher nur auf die Instanz bezogen werden. Stehe der Ausgang dort fest, bleibe für Mutmaßungen kein Raum.
Mit der Beschwerde macht die Antragstellerin geltend: Die Kosten des Verfahrens seien der EVSt-Getr aufzuerlegen. Das FG sei bei der Entscheidung über die Klage von der Rechtsprechung des BFH abgewichen. Bei Anwendung der vom BFH anerkannten "Differenztheorie" hätte es der Klage und damit auch dem Aussetzungsantrag stattgeben müssen, weil die EVSt-Getr in dem angefochtenen Widerspruchsbescheid nicht die Anrechnung der Mitgliedstaatserstattung berücksichtigt habe. Hätte das FG den Antrag vor seiner Entscheidung über die Klage abgelehnt, dann hätte eine dagegen eingelegte Beschwerde beim BFH Erfolg gehabt. Der BFH hätte dem Antrag stattgegeben und die Kosten des Verfahrens der EVSt-Getr auferlegt.
Die EVSt-Getr trägt vor: Nach der Abweisung der Klage sei eine andere Entscheidung über die Kosten des erledigten Aussetzungsverfahrens, als sie das FG getroffen habe, nicht möglich gewesen. Dabei spiele es keine Rolle, ob die Entscheidung über die Klage von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abgewichen sei oder nicht.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde hat zum Teil Erfolg.
Nachdem der Rechtsstreit über die Aussetzung der Vollziehung des Widerrufsbescheides durch übereinstimmende Erklärungen der Beteiligten sich in der Hauptsache erledigt hatte, mußte das FG gemäß § 138 Abs. 1 FGO durch Beschluß über die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen entscheiden und dabei den bisherigen Sach- und Streitstand berücksichtigen. Zum Sach- und Streitstand gehörte nicht nur die Tatsache, daß das FG die gegen den Widerrufsbescheid erhobene Klage abgewiesen hatte, sondern auch der Umstand, daß es hierbei vom BFH-Urteil VII R 98/68 abgewichen ist und die Antragstellerin Revision eingelegt hat.
In dem Urteil VII R 98/68 ist der erkennende Senat davon ausgegangen, daß der Widerruf einer Ausfuhrerstattung nur insoweit rechtmäßig sein kann, als eine solche Erstattung dem Exporteur in der gewährten Höhe nicht zugestanden hätte. Der Senat hat daraus gefolgert, daß der Widerruf in der Regel nicht gerechtfertigt ist, wenn die Ware zwar in ein anderes als das angegebene Drittland ausgeführt worden ist, aber nach den Vorschriften für eine Ausfuhr in dieses andere Drittland die Erstattung in gleicher Höhe gewährt wird. Für den Fall, daß die Ware statt in das angegebene Drittland in einen Mitgliedstaat der EWG ausgeführt worden ist und für eine solche Ausfuhr rechtlich eine geringere Erstattung gewährt wird, hat der Senat den Widerruf in gleicher Weise bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen nur in Höhe des übersteigenden Betrages für gerechtfertigt erachtet.
Das FG war zwar nicht gehindert, bei der Entscheidung über die von der Antragstellerin gegen den Widerrufsbescheid der EVSt-Getr vom 2. Dezember 1969 erhobene Klage von der Rechtsauffassung, die der erkennende Senat in dem erwähnten Urteil vertreten hat, abzuweichen und deshalb die Klage abzuweisen. Es durfte aber diese Abweichung und die Möglichkeit, daß sein darauf beruhendes Urteil aufgehoben wird, im Verfahren über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Widerrufsbescheides nicht übergehen, insbesondere nicht bei der Prüfung der für die Kostenentscheidung nach § 138 Abs. 1 FGO wesentlichen Frage, wie dieses Verfahren ohne die Erledigung in der Hauptsache vermutlich ausgegangen wäre (vgl. BFH-Beschluß I B 56/67).
Hätte das FG nach Abweisung der Klage über den Aussetzungsantrag entschieden, so wäre es vor der Tatsache gestanden, daß der BFH in einem veröffentlichten Urteil eine Rechtsauffassung vertreten hat, die geeignet ist, ernstliche Zweifel im Sinne des § 69 FGO daran zu begründen, ob die EVSt-Getr die der Fa. A für die Ausfuhr in ein Drittland zugesagte und von der Antragstellerin in Höhe von 591 174,16 DM in Anspruch genommene Erstattung durch den Bescheid vom 2. Dezember 1969 in vollem Umfang oder nur in der Höhe widerrufen durfte, in der sie die für eine Ausfuhr in den EWG-Mitgliedstaat in Betracht kommende Erstattung von 330 405,22 DM überstieg. Angesichts dieser Tatsache hätte das FG seinem eigenen Urteil und der darin vertretenen abweichenden Rechtsauffassung für die Entscheidung über das Vorliegen solcher ernstlichen Zweifel kein ausschlaggebendes Gewicht beimessen können, da es mit der Anfechtung seines Urteils rechnen mußte und keine Gewähr dafür hatte, daß der BFH sich seiner abweichenden Auffassung anschließen werde. Der Umstand, daß das FG auch nach der Entscheidung über die Klage bis zur Einlegung der Revision für eine Entscheidung über den Aussetzungsantrag allein zuständig war (vgl. BFH-Beschluß vom 6. August 1970 IV B 13/69, BFHE 100, 17, BStBl II 1970, 786), konnte hieran nichts ändern. Das FG wäre also bei ordnungsgemäßer Berücksichtigung aller Umstände des Falles vermutlich zu dem Ergebnis gekommen, daß im Sinne des § 69 FGO ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Widerrufsbescheides bestehen in bezug auf den Betrag von 330 405,22 DM, der als Erstattung für eine Ausfuhr in den EWG-Mitgliedstaat in Betracht kam. Es hätte somit bei der Entscheidung des FG über die Kosten des in der Hauptsache erledigten Aussetzungsverfahrens nach § 138 Abs. 1 FGO bei Berücksichtigung des gesamten bisherigen Sach- und Streitstandes billigem Ermessen entsprochen, die Kosten in dem Verhältnis zu teilen, in dem der Aussetzungsantrag bei einer Entscheidung über ihn vermutlich Erfolg gehabt hätte, und demnach die Kosten zu 11/20 der EVSt-Getr und zu 9/20 der Antragstellerin aufzuerlegen. Die Entscheidung des FG war deshalb auf die Beschwerde der Antragstellerin hin entsprechend zu ändern.
Hat sich also, wie im vorliegenden Falle, der Rechtsstreit über die gerichtliche Aussetzung der Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes in der Hauptsache erledigt, nachdem das FG die Klage gegen den Verwaltungsakt unter Abweichung von der Rechtsprechung des BFH abgewiesen hatte, dann gehört der Umstand, daß diese Entscheidung nicht rechtskräftig geworden ist, zu dem vom FG bei der Kostenentscheidung nach § 138 Abs. 1 FGO zu berücksichtigenden Sach- und Streitstand. Bei der Prüfung der Frage, wie der Aussetzungsrechtsstreit ohne seine in der Hauptsache eingetretene Erledigung ausgegangen wäre, darf das FG in einem solchen Falle in der Regel seiner eigenen Rechtsauffassung keine ausschlaggebende Bedeutung beimessen.
Fundstellen
Haufe-Index 70671 |
BStBl II 1974, 715 |
BFHE 1975, 91 |