Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung des Betriebsübernehmers nach § 75 AO 1977
Leitsatz (NV)
1. Dem Haftungstatbestand des § 75 AO 1977 ist der umsatzsteuerliche Unternehmensbegriff des § 2 Abs. 1 UStG zugrunde zu legen.
2. Der Erwerb eines Grundstücks in Kenntnis der umsatzsteuerpflichtigen Vermietung bzw. Verpachtung und der Eintritt in die bestehenden Miet- bzw. Pachtverhältnisse ist als Erwerb eines Unternehmens i. S. v. § 75 AO 1977 -- und nicht als Übergang einer Vermögenssubstanz -- zu werten.
Normenkette
AO 1977 § 75; FGO § 69 Abs. 3, 2 S. 2
Tatbestand
Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) erwarb von ihrem Schwiegervater (S) ein Grundstück mit einem darauf errichteten Gebäude zum Kaufpreis von ca. 1 Mio DM zuzüglich Umsatzsteuer. Von der Gesamtfläche des Gebäudes von ca. 1 000 qm waren im Zeitpunkt des Erwerbs ca. 200 qm an eine Firma K und eine ... werkstätte vermietet bzw. verpachtet. In die bestehenden Miet- und Pachtverhältnisse trat die Antragstellerin ein. Nach der Veräußerung richtete S in den leerstehenden Gebäudeteilen eine Diskothek ein, deren Einrichtungsgegenstände und Betriebsvorrichtungen er ebenfalls an die Antragstellerin veräußerte. Über die zur Diskothek umgebauten Räumlichkeiten schloß er mit der Antragstellerin einen Mietvertrag ab.
Da S Umsatzsteuer für 1993 in Höhe eines Teilbetrages von ... DM nicht bezahlt hatte, nahm der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt -- FA --) die Antragstellerin in Höhe dieses Betrages nach § 75 der Abgabenordnung (AO 1977) als Haftungsschuldnerin in Anspruch.
Gegen den Haftungsbescheid legte die Antragstellerin Einspruch ein, über den noch nicht entschieden ist. Nach Ablehnung des Antrages auf Aussetzung der Vollziehung durch das FA und der Ablehnung der hiergegen eingelegten Beschwerde durch die Oberfinanzdirektion hat die Antragstellerin beim Finanzgericht (FG) die Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheides beantragt. Das FG gab dem Antrag statt und setzte die Vollziehung des angefochtenen Bescheides zum Zeitpunkt der Fälligkeit bis zum Ergehen einer die Instanz abschließenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren aus (Entscheidungen der Finanzgerichte 1996, 2).
Zur Begründung führte das FG aus, an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides bestünden ernstliche Zweifel i. S. von § 69 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO), da der Unternehmensbegriff des § 75 AO 1977 bislang höchstrichterlich noch nicht geklärt sei. Insbesondere sei rechtlich zweifelhaft, ob die lediglich vermögensverwaltende Vermietung und Verpachtung als ein die Haftung gemäß § 75 AO 1977 begründendes "Vermietungs- und Verpachtungsunternehmen" angesehen werden könne. Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zum Ertragsteuerrecht gehe zu Recht davon aus, daß die private Vermögensverwaltung erst dann überschritten sei, wenn sich die Tätigkeit nicht mehr als Nutzung von Vermögen im Sinne einer Fruchtziehung aus zu erhaltenden Substanzwerten darstelle, sondern in ihr die Ausnutzung substantieller Vermögenswerte durch Umschichtung in den Vordergrund trete. Damit gehe ein Unternehmensbegriff i. S. des § 75 AO 1977 an der Verkehrsauffassung vorbei, der auch die private Vermögensverwaltung mitumfasse, denn die Auslegung der Haftungsvorschrift habe unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung und des Vertrauensschutzprinzips zu erfolgen. Auch sei im Streitfall zweifelhaft, ob die Inanspruchnahme der Antragstellerin der Höhe nach zutreffe, weil auf das Unternehmen "Vermietung von unbeweglichen Wirtschaftsgütern" im Zeitpunkt der Veräußerung lediglich 20 % der Nutzfläche des Gebäudes entfielen, so daß auch nur dieser Teil des Verkaufspreises des Grundstücks als Umsatz aus der Geschäftsveräußerung angesehen werden könne.
Zur Begründung seiner gegen den Beschluß des FG eingelegten Beschwerde führt das FA aus, die Antragstellerin habe ein Unternehmen übernommen, das in der Vermietung von Gebäudeteilen (Räumen) und nicht im Betrieb einer Diskothek bestanden habe. Da der Unternehmensbegriff des § 75 AO 1977 mit dem umsatzsteuerlichen Unternehmensbegriff des § 2 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) identisch sei, könne kein Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides bestehen.
Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheides abzulehnen.
Die Antragstellerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde des FA ist begründet. Nach Auffassung des Senats bestehen nach der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Betrachtungsweise an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides keine ernstlichen Zweifel. Das FG hat die Vollziehung des angefochtenen Haftungsbescheides zu Unrecht ausgesetzt.
Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 FGO kann das FG die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes nur dann ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen. Ernstliche Zweifel sind dann anzunehmen, wenn bei überschlägiger Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes im Aussetzungsverfahren neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Umstände zu Tage treten, die eine Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung der Rechtsfrage bewirken (vgl. BFH-Beschlüsse vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182, und vom 14. November 1989 VII B 124/89, BFH/NV 1990, 279). Gewichtige Gründe dieser Art vermag der Senat nach überschlägiger Prüfung nicht zu erkennen.
Nach den Feststellungen der Vorinstanz hat die Antragstellerin ein Grundstück mit dem darauf befindlichen Gebäude übernommen. Teile des Gebäudes hatte der Voreigentümer an zwei Unternehmen vermietet bzw. verpachtet und dadurch umsatzsteuerpflichtige Einnahmen aus unternehmerischer Tätigkeit i. S. von § 2 Abs. 1 UStG erzielt. Nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteil vom 14. Mai 1970 V R 117/66, BFHE 99, 425, BStBl II 1970, 676) und dem Schrifttum (vgl. Plückebaum/Malitzky, Umsatzsteuergesetz, Kommentar, 10. Aufl., § 9 Rz. 11, und Giesberts in Rau/Dürrwächter/Flick/Geist, Umsatzsteuergesetz [Mehrwertsteuer], Kommentar, 7. Aufl., § 2 Tz. 257, m. w. N.) ist es anerkannt, daß Vermieter und Verpächter umsatzsteuerrechtlich als Unternehmer anzusehen sind, wenn sie fortgesetzt den Gebrauch oder die Nutzung von beweglichen oder unbeweglichen Sachen einem Dritten gegen Entgelt über lassen. Dabei ist es unerheblich, ob die Einkünfte des Vermieters oder Verpächters einkommensteuerlich als Gewinn aus Gewerbebetrieb oder als Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung anzusehen sind und ob das Unternehmen besondere Einrichtungen aufweist (vgl. BFH-Urteil vom 21. Mai 1987 V R 109/77, BFHE 150, 368, 372, BStBl II 1987, 735). Diese umsatzsteuerrechtliche Betrachtungsweise ist auch der Auslegung des § 75 AO 1977 zugrunde zu legen. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH und der herrschenden Meinung in der Literatur orientiert sich der Haftungstatbestand des § 75 AO 1977 am Unternehmensbegriff in § 2 Abs. 1 UStG (vgl. BFH- Urteil in BFHE 99, 425, BStBl II 1970, 676, und Urteil des Senats vom 11. Mai 1993 VII R 86/92, BFHE 171, 27, BStBl II 1993, 700, m. w. N. sowie Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 75 Tz. 2; Kühn/Hofmann, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 17. Aufl. 1995, § 75 AO Bem. 2 a; v. Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 75 Anm. 5, und Lohmeyer in Lohmeyer/Kühr, Handbuch des Abgabenrechts, § 75 Anm. 2 a). Die inhaltliche Ausrichtung des haftungsrechtlichen Unternehmensbegriffs auf den umsatzsteuerlichen Unternehmensbegriff des § 2 Abs. 1 UStG wird auch durch die Entstehungsgeschichte des § 75 AO 1977 und seiner Vorgängervorschrift des § 116 der Reichsabgabenordnung (AO) belegt. Die Gesetzesbegründung zu § 116 AO nahm sogar ausdrücklich auf die umsatzsteuerrechtliche Begriffsbestimmung Bezug (vgl. zur Entstehungsgeschichte Mösbauer, Übereignung eines Unternehmens oder eines in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführten Betriebes als Voraussetzung der Betriebsübernehmerhaftung nach § 75 AO 1977, Deutsche Steuer-Zeitung -- DStZ -- 1995, 481, 482, m. w. N., und Brune, Der Erwerb eines vermieteten Grundstücks als zur Haftung nach § 75 AO 1977 führender Unternehmenskauf?, DStZ 1992, 135, 137).
Soweit sich die Vorinstanz die Ansicht von Brune zu eigen macht, der bei allen Fällen der vermögensverwaltenden Vermietung und Verpachtung eine einschränkende Auslegung des Unternehmensbegriffes des § 75 AO 1977 fordert und dabei dem Auslegungskriterium der Verkehrsauffassung einen "die historischen Überlegungen zurückdrängenden Stellenwert" beimißt (vgl. Brune, a.a.O., DStZ 1992, 135, 138), vermag der Senat dieser Argumentation nicht zu folgen. Ebensowenig wie der einkommensteuerlichen Einordnung von Einkünften als Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung oder als Gewinn aus Gewerbebetrieb eine -- auch bei der Auslegung von § 75 AO 1977 zu beachtende -- umsatzsteuerliche Relevanz zukommt, können die vom BFH entwickelten ertragsteuerlichen Kriterien, wie z. B. die Verkehrsanschauung, bei der Festlegung des Anwendungsbereiches der Haftungsnorm des § 75 AO 1977 uneingeschränkte Beachtung finden. Auch die von Brune hervorgehobene Warnfunktion der Vorschrift (Brune, a.a.O., DStZ 1992, 135, 137), die dem Erwerber entsprechende Absicherungsmaßnahmen nahelegen soll, rechtfertigt eine generelle Einschränkung des Haftungstatbestandes beim Erwerb von vermieteten oder verpachteten Grundstüken nicht. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen dem Erwerber (wie im Streitfall) die umsatzsteuerpflichtige Vermietung bzw. Verpachtung des übernommenen Grundstücks durch den Veräußerer bekannt ist. Die gebotene Zurückhaltung bei der Übernahme ertragsteuerlicher Kriterien bei der Anwendung von § 75 AO 1977 schließt jedoch eine am Sinn und Zweck der Haftungsvorschrift orientierte einschränkende Auslegung in besonders gelagerten Einzelfällen nicht aus. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Haftung nach § 75 AO 1977 nicht auf einem reinen Vermögensübernahmeprinzip beruht, sondern auf dem Gedanken, daß auf den Erwerber ein lebendes Unternehmen übergeht, dessen wirtschaftliche Kraft die Annahme rechtfertigt, der Erwerber werde Gewinne erwirtschaften oder sonstige Vorteile ziehen, mit denen er in die Lage versetzt wird, die Steuerschulden seines Vorgängers zu begleichen (vgl. Schwarz, Abgabenordnung, 1995, § 75 Anm. 1).
Eine umfassende Klärung des Unternehmensbegriffes des § 75 AO 1977 ist durch den Streitfall jedoch nicht veranlaßt. Nach der Rechtsprechung des Senats, die sich an der Entstehungsgeschichte der Haftungsvorschrift und am Unternehmensbegriff des UStG orientiert, stellt der Erwerb eines umsatzsteuerpflichtig vermieteten oder verpachteten Grundstücks grundsätzlich die Übernahme eines Vermietungs- oder Verpachtungsunternehmens dar, wobei besondere Einrichtungen, die nach der Verkehrsauffassung auf eine betriebliche Organisation hindeuten können, nicht zwingend vorauszusetzen sind; vielmehr können auf die Vermietung bzw. Verpachtung bezogene Unterlagen und Belege (Vermietungs- und Steuerakten) als ausreichend angesehen werden (vgl. Senatsurteil in BFHE 171, 27, BStBl II 1993, 700). Unter Berücksichtigung dieser Rechtsauffassung ist der vorliegende Erwerb eines Grundstückes in Kenntnis der umsatzsteuerpflichtigen Vermietung bzw. Verpachtung und der Eintritt in die bestehenden Miet- bzw. Pachtverhältnisse als Erwerb eines Unternehmens i. S. von § 75 AO 1977 und nicht als Übergang einer bloßen Vermögenssubstanz zu werten. Dabei ist maßgebend, daß die Antragstellerin mit dem bebauten Grundstück die wesentlichen Grundlagen eines lebenden Unternehmens erworben hat und damit in die Lage versetzt wurde, die bestehenden Miet- bzw. Pachtverhältnisse ohne finanzielle Aufwendungen fortzuführen. Die im Zeitpunkt der Übereignung vermieteten Teilflächen von zusammen 200 qm bilden für sich eine organisatorische Zusammenfassung von sächlichen Mitteln zur Verfolgung eines wirtschaftlichen Zweckes und damit ein Unternehmen i. S. von § 75 AO 1977, mit dem es der Antragstellerin nach den Feststellungen der Vorinstanz ermöglicht wurde, monatliche Einkünfte in Höhe von ... DM zu erwirtschaften.
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß auch die im Zeitpunkt des Erwerbs leer stehenden Gebäudeteile als Bestandteil des lebenden Unternehmens angesehen werden können, da sie nicht nur für eine gewerbliche Nutzung geeignet, sondern von vornherein dazu bestimmt waren, als Diskothek ausgebaut und ebenfalls vermietet bzw. verpachtet zu werden. Den Ausführungen des FG ist nicht zu entnehmen, daß es der Antragstellerin ohne die Einrichtung dieser Diskothek unmöglich gewesen wäre, die leerstehenden Gebäudeteile anderen Unternehmen zur gewerblichen Nutzung zur Verfügung zu stellen. Auch hinsichtlich der Höhe der Haftungsschuld sind somit keine Umstände erkennbar, die die Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme der Antragstellerin als ernstlich zweifelhaft erscheinen lassen.
Da die Antragstellerin ein Vermietungs- bzw. Verpachtungsunternehmen erworben hat, bestehen an ihrer Inanspruchnahme nach § 75 AO 1977 und an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Haftungsbescheides keine ernstlichen Zweifel, so daß eine Aussetzung der Vollziehung nicht in Betracht kommen kann.
Fundstellen