Entscheidungsstichwort (Thema)
Überraschungsentscheidung; Zeugenvernehmung im Ausland
Leitsatz (NV)
1. Eine verfahrensfehlerhafte Überraschungsentscheidung ist nur zu bejahen, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (Rechtsprechung).
2. Es ist nicht ermessensfehlerhaft, eine Zeugenvernehmung im Ausland durch einen Angehörigen des Konsulats zu unterlassen, wenn es für das FG angesichts der Art der zu klärenden Umstände unerlässlich ist, sich - im Falle einer Vernehmung - von der Glaubwürdigkeit des Zeugen einen persönlichen Eindruck zu verschaffen.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nrn. 1-2, § 119 Nrn. 3, 6, § 96
Verfahrensgang
FG Köln (Urteil vom 04.10.2007; Aktenzeichen 9 K 1109/06) |
Gründe
Die Beschwerde der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist unbegründet.
1. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensfehlers des Finanzgerichts (FG) zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
a) Entgegen der Rüge der Klägerin ist das angefochtene Urteil mit Gründen versehen. Ein Verstoß gegen § 119 Nr. 6 FGO liegt nicht vor. Soweit sie, die Klägerin, rügt, das FG habe nicht dazu Stellung genommen, ob es sich bei der X um eine Domizilgesellschaft handele, war dies für das FG aufgrund seiner tatrichterlichen Würdigung, in Wirklichkeit sei E unter seiner damaligen inländischen Anschrift der Leistungsempfänger gewesen, nicht entscheidungserheblich (vgl. zur Zurechnung bei Domizilgesellschaften z.B. das Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 26. April 2001 V R 50/99, BFHE 194, 536).
Mit ihrem Vorbringen, das FG habe zu Unrecht unterstellt, die nicht gestempelte oder amtlich beglaubigte Urkunde des Y sei möglicherweise lediglich eine Kopie, rügt die Klägerin keinen Verfahrensfehler, sondern beanstandet die Beweiswürdigung des FG. Diese ist revisionsrechtlich dem materiellen Recht zuzurechnen (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 18. Juli 2002 V B 107/01, BFH/NV 2003, 49).
b) Auch die von der Klägerin behauptete Verletzung rechtlichen Gehörs i.S. von Art. 103 des Grundgesetzes i.V.m. § 119 Nr. 3 FGO ist nicht gegeben. Insbesondere liegt keine unzulässige sog. Überraschungsentscheidung vor.
Eine verfahrensfehlerhafte Überraschungsentscheidung ist nur zu bejahen, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste. Auf naheliegende rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte braucht es zumindest dann nicht ausdrücklich hinweisen, wenn die Beteiligten fachkundig vertreten sind (vgl. BFH-Beschlüsse vom 2. April 2002 X B 56/01, BFH/NV 2002, 947; vom 11. Februar 2003 XI B 4/02, BFH/NV 2003, 802, jeweils m.w.N.).
Die Klägerin führt hierzu aus, das FG gehe in den Entscheidungsgründen seines Urteils davon aus, dass in Wirklichkeit E unter seiner damaligen inländischen Anschrift der Leistungsempfänger der Brillengestelle gewesen sei. Dieses sei für sie vollkommen überraschend gewesen, da die Frage des Wohnsitzes von E nie Gegenstand des Verfahrens gewesen sei. Vielmehr habe in der mündlichen Verhandlung nach der Erörterung der wirtschaftlichen Existenz der X die Frage der Zurechnung der Umsätze im Vordergrund gestanden.
Dies begründet jedoch keine Überraschungsentscheidung. Denn bei der Überprüfung der Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung nach § 6a des Umsatzsteuergesetzes war Gegenstand des Verfahrens auch die Frage, wer der Empfänger der Brillengestelle war. Der Klägerin war bekannt, dass der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) und das FG Zweifel hatten, ob die Lieferungen der X zuzurechnen seien oder dem E als dem Teilhaber der X, der zugleich als einzige Kontaktperson zwischen ihr, der Klägerin, und der X aufgetreten war. Sie wusste auch, dass E unter einer … Anschrift als Geschäftsführer der X im Register der zuständigen Handelskammer eingetragen war. Denn sie hatte den Auszug aus dem Register mit Schriftsatz vom 7. Juli 2007 selbst zu den Gerichtsakten gereicht. Danach konnte die Annahme eines inländischen Wohnsitzes des E durch das FG nicht überraschen.
c) Die Revision ist auch nicht deswegen zuzulassen, weil das FG den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt hätte und einen Beweisantrag der Klägerin übergangen hat (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO), weil es die Zeugeneinvernahme des E vor einem Konsul in Österreich unterlassen hat. Angesichts der Art der zu klärenden Umstände war es für das FG unerlässlich, dass es sich im Falle einer Vernehmung des E einen persönlichen Eindruck von dessen Glaubwürdigkeit hätte verschaffen können. Es war deshalb nicht ermessensfehlerhaft, dass es eine Vernehmung durch einen Angehörigen des Konsulats im Ausland nicht veranlasst hat.
2. Die Revision ist nicht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
Um die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache darzulegen, ist schlüssig und substantiiert darauf einzugehen, dass die als grundsätzlich angesehene und hinreichend bestimmte Rechtsfrage im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und in dem angestrebten Revisionsverfahren klärbar ist. Soweit die Klägerin hierzu vorträgt, "das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der Klärung der hier strittigen Rechtsfrage, Behandlung von innergemeinschaftlichen Lieferungen an Domizil- bzw. Briefkastengesellschaften, ist offensichtlich", ist der Beschwerdebegründung bereits nicht zu entnehmen, welche konkrete Rechtsfrage durch den BFH geklärt werden soll.
Des weiteren geht die "Fragestellung" vom Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung aus. Das FG hat im Streitfall aber festgestellt, dass die Brillengestelle von der Klägerin an E im Inland geliefert wurden und deswegen eine innergemeinschaftliche Lieferung verneint. Mangels zulässiger und begründeter Verfahrensrügen gegen diese Feststellungen ist der BFH hieran gebunden. Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage betreffend eine Lieferung der Klägerin an die X wäre damit im Revisionsverfahren nicht klärbar.
Fundstellen