Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschwer als Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Revision; Festsetzung der Referenzmenge nach der MGVO
Leitsatz (NV)
1. Jede durch die Vorentscheidung eingetretene Verschlechterung der Rechtslage hinsichtlich des angefochtenen Verwaltungsakts berechtigt das HZA zur Einlegung der Revision.
2. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Regelung des § 6 Abs. 6 MGVO vermögen eine Anfechtungsklage gegen einen Referenzmengenfeststellungsbescheid des HZA nicht zu begründen.
Normenkette
FGO § 115; MGVO § 4 Abs. 5 S. 2, § 6 Abs. 6, § 9 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Landwirt und Milcherzeuger. Mit Schreiben vom 7. Juni 1984 teilte ihm die Molkerei S. eG., an die der Kläger seine Milch abliefert, mit, daß seine Anlieferungs-Referenzmenge nach § 4 der Milch-Garantiemengen-Verordnung (MGVO) 352 300 kg betrage (d. h. 400 868 kg abzüglich der nach der MGVO vorgesehenen Kürzungssätze). Auf Antrag des Klägers erkannte die für ihn zuständige Landwirtschaftskammer H eine besondere Situation nach § 6 Abs. 4 MGVO an und erteilte ihm am 27. September 1984 eine Bescheinigung nach § 9 Abs. 2 Nr. 2 MGVO, nach der ab 1. Oktober 1984 anstelle der bisherigen Anlieferungsmenge von 400 868 kg eine solche von 406 400 kg trat; dabei berücksichtigte die Landwirtschaftskammer die Regelung des § 6 Abs. 6 MGVO (Begrenzung auf die Milchmenge von 80 Kühen; der Kläger hat 91 Milchkühe in seinen Stallungen stehen).
Die Molkerei berechnete unter Berücksichtigung des Bescheids der Landwirtschaftskammer vom 27. September 1984 und der nach der MGVO vorzunehmenden Kürzungen die Referenzmenge mit 355 600 kg und teilte dies dem Kläger mit. Dieser legte gegen die Berechnung der Referenzmenge Einspruch beim Beklagten, Revisionskläger und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt - HZA -) ein. Das HZA wies den Einspruch als unbegründet zurück. Mit seiner dagegen erhobenen Klage machte der Kläger u.a. geltend: Die Referenzmengenfeststellung berücksichtige seine Investitionen nicht. Die Begrenzung auf die Milchleistung von 80 Kühen bedrohe seine Existenz. Diese Begrenzung sei auch rechtswidrig. Sie verletze den Gleichheitssatz und die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes (GG). Der Kläger beantragte vor dem Finanzgericht (FG), die Referenzmengenfestsetzung des HZA in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 23. Juli 1985 aufzuheben und das HZA zu verpflichten, ,,ihn erneut unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden, wobei der tatsächliche Kuhbestand bis zur Grenze von 91 Stück Milchvieh bei der erneuten Referenzmengenfestsetzung zugrunde zu legen ist".
Das FG wies die Klage mit folgender Begründung ab (Urteil vom 9. Oktober 1986 IV 221/85 N, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1986, 79): Sie sei nicht zulässig, weil das HZA die Referenzmenge nicht festgesetzt habe und es daher an einem Verwaltungsakt fehle. Selbst wenn aber die Entgegennahme der Mitteilung der Molkerei über die Referenzmenge ein Verwaltungsakt sein sollte, habe die Klage keinen Erfolg. Die Bescheinigung der Landwirtschaftskammer H vom 27. September 1984 sei nämlich ein Grundlagenbescheid i. S. des § 171 Abs. 10 der Abgabenordnung (AO 1977). Auch unter dem Aspekt der vom Kläger behaupteten Verfassungswidrigkeit der MGVO ergebe sich nichts anderes. Soweit die verfassungsgerechte Lösung darin bestehen sollte, daß im Falle besonderer Situationen die Milcherzeugung von mehr als 80 Kühen für die der Abgabenberechnung zugrunde zu legende Referenzmenge maßgebend sein sollte, wäre diese Frage im Rahmen eines Verwaltungsgerichtsverfahrens gegen die von der zuständigen Landesstelle ausgestellte Bescheinigung zu entscheiden. Auch im Falle der Verfassungswidrigkeit der MGVO insgesamt könne die Anfechtungsklage keinen Erfolg haben. Der Kläger erstrebe eine höhere Referenzmenge als bisher festgesetzt. Dieses Klageziel lasse sich aber nur auf der Grundlage der Gültigkeit der MGVO erreichen. Das FG hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.Gegen dieses Urteil haben beide Beteiligten (jeweils selbständig) Revision eingelegt.
Das HZA begründet seine Revision wie folgt: Sie richte sich gegen die Entscheidung der Vorinstanz, daß die Klage unzulässig sei, weil es an einem Verwaltungsakt fehle. Diese Revision sei zulässig. Eine materielle Beschwer liege vor. Die Auffassung des FG bedeute, daß sich die Rechtslage nicht nur für den Betroffenen, sondern auch für die Verwaltung verschlechtere. Die Revision sei auch begründet. In der Entgegennahme der Mitteilung nach § 4 Abs. 5 MGVO durch es, das HZA, liege ein die Festsetzung der Referenzmenge umfassender Verwaltungsakt.
Das HZA beantragt, die Vorentscheidung dahingehend zu ändern, daß die Klage statt als unzulässig als unbegründet abgewiesen wird, hilfsweise, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, unter Abänderung der Vorentscheidung die Referenzmengenfestsetzung des HZA in der Fassung der Einspruchsentscheidung aufzuheben und das HZA zu verpflichten, ihn, den Kläger, erneut unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu bescheiden, wobei sein, des Klägers, tatsächlicher Kuhbestand bis zu einer Grenze von 91 Stück Milchvieh der erneuten Referenzmengenfestsetzung zugrunde zu legen sei, hilfsweise, das HZA zu verpflichten, für ihn eine Referenzmenge von mindestens 464 800 kg anzuerkennen, weiter hilfsweise, die Sache an das FG zurückzuverweisen. Zur Begründung führt der Kläger im wesentlichen aus:
Mit dem HZA sei er der Meinung, daß ein anfechtbarer Verwaltungsakt vorliege. Hinzu komme, daß von einigen Verwaltungsgerichten (VG) die Auffassung vertreten werde, daß verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber der MGVO nur in einem Verfahren vor den FG überprüft werden könnten. Die Härteregelung in § 6 Abs. 6 MGVO sei verfassungswidrig. Aus dieser Verfassungswidrigkeit ergebe sich in Einzelfällen die Pflicht und auch die Möglichkeit der Verwaltung, einzelfallentsprechende Übergangsregelungen in Anlehnung an die §§ 163, 227 AO 1977 zu treffen. Die Auswirkungen der Regelung des § 6 Abs. 6 MGVO bedrohe die Existenz seines Betriebes. Das sei in dem beigefügten Gutachten des F dargelegt. Die Einführung der 80-Kühe-Grenze sei durch sachliche Erwägungen nicht zu rechtfertigen. Sie verstoße gegen Art. 3, 12 und 14 GG sowie gegen Art. 40 Abs. 3 Satz 2 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV).
Den Antrag des Klägers, die Vollziehung der Referenzmengenfeststellung des HZA einstweilen auszusetzen, wies das FG als unzulässig ebenfalls mit der Begründung ab, es fehle an einem vollziehbaren Verwaltungsakt. Über die Beschwerden des Klägers und des HZA gegen diesen Beschluß entschied der erkennende Senat mit Beschluß vom 15. April 1986 VII B 135-136/85. Er änderte auf die Beschwerde des HZA den Beschluß des FG dahin ab, daß der Antrag als unbegründet abgelehnt werde, und wies die Beschwerde des Klägers als unbegründet zurück.
Entscheidungsgründe
1. Die Revisionen der Beteiligten sind zulässig.
Wie für jedes Rechtsmittel ist auch bei der Revision das Vorliegen einer Beschwer Voraussetzung für ihre Zulässigkeit. Legt, wie im vorliegenden Fall, das HZA als Beklagter Revision ein, so kommt es auf die materielle Beschwer an. Wie der Große Senat des BFH ausgeführt hat (Beschluß vom 15. November 1971 GrS 7/70, BFHE 103, 456, BStBl II 1972, 120), muß der Umstand, daß das HZA in Wahrnehmung der öffentlichen Interessen tätig ist, dazu führen, daß jede durch die Vorentscheidung eingetretene materielle Verschlechterung der Rechtslage hinsichtlich des Verwaltungsaktes das HZA zur Einlegung des Rechtsmittels berechtigt. Eine solche Beschwer im materiellen Sinne liegt wegen der unterschiedlichen Rechtskraftwirkung auch vor, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Klage als unzulässig anstatt als unbegründet abgewiesen worden ist (vgl. Beschluß des Senats vom 25. März 1986 VII B 164-165/85, BFHE 146, 188, mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Literatur).
2. Die Revision des HZA hat Erfolg. Sie führt in Abänderung der Vorentscheidung dazu, daß die Klage anstatt als unzulässig als unbegründet abgewiesen wird.
a) Zu Recht hat das FG den Finanzrechtsweg für gegeben erachtet (vgl. Beschluß des Senats vom 17. Dezember 1985 VII B 116/85, BFHE 145, 289).
b) Die Zulässigkeit der Anfechtungsklage des Klägers hängt, wie das FG richtig erkannt hat, davon ab, daß ein anfechtbarer Verwaltungsakt vorliegt (§ 40 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Entgegen der Auffassung des FG ist das aber der Fall. Der Verwaltungsakt liegt in der Entgegennahme der Mitteilung der Molkerei durch das HZA nach § 4 Abs. 5 Satz 2 MGVO. Zur Begründung verweist der Senat auf seine Entscheidung in BFHE 146, 188.
3. Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Der Kläger begründet seine Klage im wesentlichen damit, in seinem Fall sei eine besondere Situation gegeben, die zur Feststellung einer höheren als der bisher festgesetzten Referenzmenge unter Außerachtlassung der Begrenzung des § 6 Abs. 6 MGVO zwinge. Nach der Regelung der MGVO ist das HZA aber nur berechtigt, eine höhere Referenzmenge zur Berücksichtigung einer besonderen Situation festzusetzen, wenn ihm eine entsprechende Bescheinigung der zuständigen Landesstelle nach § 9 Abs. 2 MGVO vorgelegt wird (vgl. BFHE 145, 289). Da der Kläger eine solche Bescheinigung nicht vorgelegt hat, ist der angefochtene Referenzmengenfeststellungsbescheid rechtlich nicht zu beanstanden.
Daran vermögen auch die vom Kläger geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung des § 6 Abs. 6 MGVO nichts zu ändern. Diese betreffen allein den Bereich der Berücksichtigung besonderer Situationen (vgl. z. B. Art. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 90/13 und § 6 MGVO). Über diese Frage braucht der Senat im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden, da sie nur im Rahmen des Bescheinigungsverfahrens nach § 9 Abs. 2 MGVO eine Rolle spielen könnte und im Rahmen eines Rechtsmittels gegen den entsprechenden Verwaltungsakt der zuständigen Landesstelle der Entscheidung der VG unterliegt. Zur Begründung verweist der Senat auf seinen Beschluß in BFHE 145, 289, Nr. 3 der Begründung. Das gilt auch im Falle einer mit höherrangigem Recht nicht vereinbarten Unvollständigkeit der Regelung der Härtefälle (vgl. auch die Entscheidung des Senats VII B 135-136/85 im Aussetzungsverfahren, zweitletzter Absatz BFH-NV 1987, 133).
Der Hilfsantrag des Klägers, das HZA zur Anerkennung einer Referenzmenge von 464 800 kg zu verpflichten, kann schon deswegen keinen Erfolg haben, weil er eine im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung darstellt (§ 123 FGO). In der ersten Instanz hat der Kläger keinen entsprechenden Antrag gestellt.
Fundstellen
Haufe-Index 414689 |
BFH/NV 1987, 195 |